5. November 2021

Ein Band über den gemeinen Mann, die Gesellschaft und die Religion im Siebenbürgen des 16. Jahrhunderts

Dem Kirchenhistoriker Dr. Ulrich Andreas Wien, Akademischer Direktor am Institut für Evangelische Theologie der Universität Landau, Lehrbeauftragter der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt und langjähriger Vorsitzender des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde, ist es bereits mehrfach gelungen, siebenbürgische und siebenbürgisch-sächsische Themen in den internationalen wissenschaftlichen Diskurs einzubringen. Nun legt er als Herausgeber mit „Common Man“ einen gewichtigen, zweisprachigen Band zur Reformation in Siebenbürgen mit Beiträgen herausragender Forscherinnen und Forschern aus vier Ländern (Deutschland, Rumänien, Ungarn, USA) vor, erschienen in der renommierten Buchreihe „Refo 50 – Academic Studies“, deren Herausgeber der niederländische Theologieprofessor Herman Johan Selderhuis (Universität Apeldoorn), eine „Autorität in der Reformationsforschung“, ist.
Das von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderte Buch wurde vom bekannten Verlag Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) publiziert. Es ist nicht preiswert, aber in mehrfachem Sinne des Preisens würdig. Denn es bietet „bahnbrechende Beiträge zu sozial-, wirtschafts-, kultur- und kirchengeschichtlichen Aspekten der Frühneuzeit im Karpatenbogen. Dabei wird die bislang geltende Forschungsmeinung zur Toleranzgeschichte Siebenbürgens in Frage gestellt und völlig neu bewertet.“ Diese Sätze stehen auf dem Buchumschlag, könnten also der Werbung dienen, sind aber auch eine korrekte Zusammenfassung des vielfältigen und innovativen Inhalts.

Die im Band vereinten Beiträge wurden 2017 auf der Tagung „Kirche und Bevölkerung auf dem Dorf in Siebenbürgen – Rahmen und Rezeptionsbedingungen sowie Einflüsse von Gesellschaft, Ethnie, Kirche und Politik im Reformationsjahrhundert“ in Hermannstadt vorgetragen. Veranstalter waren das dortige Institut für Gesellschaftswissenschaften der Rumänischen Akademie, Initiator war Ulrich Wien, Förderer die Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaft (Köln).

Der mit einer informativen, programmatischen Einleitung beginnende Sammelband ist in vier Kapitel gegliedert: I. Gemeiner Mann und Ortspfarrer: Verhalten und religiöses Leben in Siebenbürgen und darüber hinaus; II. Soziale, wirtschaftliche und sittliche Existenz; III. Ein Echo aus Wittenberg: das Beispiel des Dorfpfarrers Damasus Dürr; IV. Kunst und lutherische Konfession. Orts- und Personenregister erschließen den Band, ein Autorenverzeichnis bietet Kurzinformationen über die Verfasser.

Die 21 Beiträge werden zwar einzelnen Kapiteln zugeordnet, fügen sich aber in ein einheitliches Ganzes. Der Platz reicht hier nicht aus, auf jeden einzelnen einzugehen, wie es der Herausgeber in seiner Einleitung kurz und treffend getan hat. Dem Rezensenten haben aber einige „Schmankerl“ besonders gemundet; mit diesen will er diese Neuerscheinung – ohne die herausragende Qualität aller Aufsätze zu vernachlässigen – den siebenbürgisch-sächsischen Interessierten „schmackhaft“ machen.

Adinel C. Dincă, der sich erfolgreich um die Erforschung des siebenbürgisch-sächsischen Schriftgutes, um dessen rettende Konservierung und internationale Bekanntmachung verdient gemacht hat, weist in seinem quellengestützten Beitrag auf das hohe intellektuelle Niveau der siebenbürgisch-sächsischen Pfarrer bereits in der Zeit vor der Reformation hin. Seine Frage, „ob wirklich zwischen der Schriftlichkeit einer ländlichen Pfarrei und der schriftlichen Kommunikation in einer großen Stadtkirche ein radikaler Unterschied bestanden hat“ (S. 41), beantwortet er mit der Feststellung, „dass in Siebenbürgen vor der Reformation nicht nur im urbanen Kontext, sondern auch in den kleineren Kirchen auf dem Dorf konstant und intensiv gepredigt wurde“ (S. 51).

Edit Szegedi liefert den aus meiner Sicht innovativsten Artikel dieses Bandes. Sie stellt die geltende Forschungsmeinung auf den Prüfstand, derzufolge eine konfessionelle Vielfalt bereits auf das Jahr 1568 datiert werden kann und 1571 die religiöse Toleranz in Siebenbürgen Einzug hielt. Aufgrund einer Analyse der zeitgenössischen Landtagsartikel kommt sie zu dem Schluss, dass erst 1595 das anerkannt werden konnte, was es 1568 noch nicht gab: die jeweils als „religio recepta“ anerkannten Konfessionen. Für die Forscherin bilden die Landtagsbeschlüsse von 1568 und 1571 „eine Ausnahme“, sind aber „trotzdem mit den übrigen Landtagsartikeln verbunden, indem sie indirekt die Verschiedenheit in theologischen Fragen akzeptieren, diese nicht kriminalisieren, sie aber trotzdem für ein vorübergehendes Übel halten, das überwunden werden muss“ (S. 140).

Julia Derzsi („Unzucht und Ehebruch vor Gericht. Sexualdelikte bei den Siebenbürger Sachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts“) und Mária Pakucs-Willcocks gehen in ihren Beiträgen den unterschiedlichen, durch das reformatorische Gedankengut geprägten Rechtsnormen zu Ehe und Sittlichkeit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach. Die Kompetenzbereiche der kirchlichen und weltlichen Gerichte wurden „nach der Reformation klar abgegrenzt“ (S. 295). Pakucs-Willcocks beschreibt dabei exemplarisch einen spannenden Hermannstädter Ehescheidungsprozess von 1590, der durch die zuständigen geistlichen und weltlichen Instanzen ging, und schlussfolgert: „Die Argumente im Prozess thematisieren die Abweichung vom Rollenmuster (z.B. herrschsüchtige Frau mit Autonomiestreben; unzüchtiger Schürzenjäger ohne fromme Gesinnung), die auch sonst im reformatorisch geprägten Europa galten.“ (S. 320)

Ulrich A. Wien geht dem pastoralen Selbstverständnis des Predigers und der damit verknüpften Frage nach, inwieweit der Dorfpfarrer Damasus Dürr das „Wächteramt der Kirche“ gegenüber der eigenen Gemeinde und den weltlichen Institutionen ausgeübt hat. Dabei tritt ein durchaus mutiger und profilierter Theologe hervor, der in bemerkenswerter Souveränität sein „Strafamt“ komplementär zur Evangeliumsverkündigung ausgeübt hat.

Maria Crăciun lenkt in ihrer kunsthistorischen Studie den Blick auf einen Ausstattungsgegenstand, der seit der Reformationszeit eine zentrale Stellung im Gottesdienstraum erhalten hatte: die Kanzel als Verkündigungsort. Sie findet am Bildprogramm der Kanzel, die Ende des 17. Jahrhunderts in der Kronstädter Schwarzen Kirche errichtet wurde, nicht nur eine einmalige Dekoration, sondern auch Bestandteile einer Auseinandersetzung um die Identitätskonstruktion der evangelischen Gemeinde in Kronstadt an der Wende zum 18. Jahrhundert. Die Kanzel diente nach der habsburgischen Besetzung der Stadt „der Stärkung der als bedroht und zunehmend gefährdet angesehenen konfessionellen Identität der in einer konservativen Abwehrhaltung sich verschanzenden lutherischen Gemeinde“ (S. 413).

Der Herausgeber beschließt seine Einleitung mit den Worten: „Der inhaltsschwere und aspektreiche Band dokumentiert einen fruchtbaren Austausch sowie ertragreiche interdisziplinäre und internationale Kooperation von Frühneuzeit-Forscherinnen und -Forschern zu einer regionalgeschichtlich höchst spannenden Kontakt- und Transferzone mitteleuropäischer Kultur: Siebenbürgen. Mögen die Erkenntnisse die künftige Forschung nachhaltig anregen!“ (S. 14) Nach der Lektüre des Sammelbandes kann man ihm nur zustimmen: Er regt die Forschung an, er regt aber auch die Leserinnen und Leser an, die an der Kultur und Geschichte Siebenbürgens interessiert sind.

Konrad Gündisch



Ulrich A. Wien (ed.): „Common Man, Society and Religion in the 16th century/Gemeiner Mann, Gesellschaft und Religion im 16. Jahrhundert. Piety, morality and discipline in the Carpathian Basin/Frömmigkeit, Moral und Sozialdisziplinierung im Karpatenbogen“. Göttingen: Verlag Vadenhoeck & Ruprecht 2021 (Refo500 Academic Studies, Bd. 67), 438 Seiten, 31 Abbildungen, 100,00 Euro, ISBN 978-3-525-57100-2. Die Open Access-Version kann kostenlos von der Webseite des Verlags Vadenhoeck & Ruprecht heruntergeladen werden.

Schlagwörter: Buchvorstellung, Geschichte, Gesellschaft, Sammelband, Konrad Gündisch, Reformation, Wien

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