12. April 2022

Hans Bergel zum Roman "Sofies neue Welt"

Brief des Schriftstellers Hans Bergel vom 16. August 2016 an den Philosophen Dr. Carol Neustädter in Hermannstadt und dessen Kommentar.
„Ich brauche das Schreiben, um mit dem, was an ...
„Ich brauche das Schreiben, um mit dem, was an Welt auf mich eindringt, leben zu können“: Hans Bergel am Fenster seines Arbeitszimmers in Gröbenzell bei München, aufgenommen 2006 von Konrad Klein.
Unsere Postsendungen liefen den Postämtern einigermaßen aus dem Ruder: Im Juni hatte ich Ihnen mein Buch „Gespräch über Hiob und Apollon“ geschickt – ein Gespräch Manfred Winkler/Hans Bergel aus dem Jahr 2011, erhielt es aber Anfang August aus Rumänien ohne jeglichen Vermerk zurückgesandt, die Gründe sind nicht angegeben. Ich wollte mit dem Buch meinen Dank aussprechen für „Sofies neue Welt“. Während meiner Überlegungen, ob Sie eventuell die Anschrift gewechselt hätten, erreichte mich Ihr Schreiben (nebst Beilage) vom August; ich entnehme ihm, dass Ihre Anschrift die alte ist. Umso schleierhafter erscheint mir der Grund für die Rücksendung. Nun gut, derlei kommt in unserer unvollkommenen Welt vor.

„Sofies neue Welt“ las ich mit großer Aufmerksamkeit. Philosophisch zwar ungeschult, d.h. nicht vertraut in diesem Fall mit dem Fachvokabular des Idealismus – Kant, Hegel etc. –, meine ich dennoch verstanden zu haben, worum es Ihnen geht: dem klassischen den modernen Idealismus entgegenzustellen, beziehungsweise den klassischen kritisch zu korrigieren oder über ihn hinaus den nächsten folgerichtigen Schritt zu tun. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Sie damit besonders beim philosophischen Lehrstuhl-Kader Missfallen erregen. Die Talar-Herrschaften verlassen ihre eingefahrenen und ergo bequemen Gleise alles andere als gerne – wie uns die Geschichte der Ideen, der neuen Ideen zeigt. Feststellungen wie „In der Natur sind Geist und Materie nicht zu trennen. Der Geist der Natur ist in ihrer Materie“, besitzen eine Klarheit und Schönheit der Überzeugungskraft, denen nichts hinzuzufügen ist. Ich notierte in einem meiner Bücher eine ähnliche Beobachtung, ungefähr: „Die Intelligenz des Malers liegt in seinem Farbengefühl, die es Musikers in seiner Musikalität, die des Tennisspielers in seinem Körper“; Ihre Erkenntnis holt natürlich viel weiter aus. Ebenso auch der Satz: „Der moderne Idealismus erfordert weniger ein klügeres als ein qualitativ neues Denken“, scheint mir von grundlegender Wichtigkeit zu sein. Ja, der Vermerk „Eine Gesellschaft ist nur dann demokratisch, wenn sie die Bedingungen für eine kompetente und faire Kritik der aktuellen Situation schafft“, beschämt alle zur Zeit etablierten europäischen Demokratien, wenn er auch nicht in unmittelbarer Beziehung zu Ihrem denkerischen Anliegen steht; aber er weist auf eine biografische Situation seines Autors hin, die Ihre Situation ist. Falls es Ihnen zum Trost gereicht: Es ist, mutatis mutandis, auch meine Situation.

Mir persönlich haben in Ihrem Oeuvre Sätze wie etwa die folgenden im Begreifen dessen, was wir „die Welt“ – oder „die Schöpfung“ – nennen, weitergeholfen: „Die unendlich kurze Zeit in der Lichtgeschwindigkeit entspricht der gesamten Zeit außerhalb ihrer.“ Oder: „Das Licht (…) von seiner Geschwindigkeit trennen heißt, es von sich selber trennen.“ Oder: „Das Alte muss immer in neuen Kontexten erscheinen, um richtig verstanden und dadurch fortgesetzt zu werden.“ Oder: „Unser Verstand bürgt im Prinzip immer bloß für die bedingten und relativen Wahrheiten (…).“ Aber ebenso: „Unser Verstand sagt uns, dass alles seine Ursache haben muss (…) Aber das Unendliche ist ohne Ursache.“ Dieser zweite Satzteil erscheint mir großartig! Usw. Ich könnte noch manches zitieren. Ich gestehe Ihnen, dass mir von dem, was ich je an Philosophie las, Ihr „Roman“ über „Sofies neue Welt“ in meinem Bedürfnis nach Klarheit über schwierigste Fragen mit am meisten geholfen hat. Daher: Haben Sie Dank für das Buch!

Die Radikalität Ihres Denkens – die ja nichts anderes ist als die Unbedingtheit Ihrer Forderung nach der größtmöglicher Kompetenz des Denkens – macht es Ihnen – ich muss es leider sagen: natürlich – schwer nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern vor allem die Anerkennung der Wohletablierten, der zum Teil nichts weiter als modischen Wortführer, mit einem umfassenderen Wort: der Öffentlichkeit zu erringen. Dass Sie sich dessen durchaus bewusst sind, zeigen mir Ihre Äußerungen wie diese: „Ist die Hinrichtung die einzige Möglichkeit, einen Denker loszuwerden? Gibt man ihm nicht gerade durch seine Hinrichtung einen Namen? Ist es nicht besser, ihn einfach zu ignorieren und so zu tun, als ob es ihn nicht gäbe?“ Die Sätze sagen – zumindest mir – alles. „Sofies neue Welt“ ist meines Erachtens eher ein „platonischer Dialog“ im anspruchsvollen Sinne des Wortes als ein Roman. Ich habe Ihre Arbeit zwei-, stellenweise dreimal gelesen. Ich danke Ihnen für die Zusendung – für die Einsichten, zu denen Sie mich hinführten.

Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich grüße Sie aus der Ferne mit Herzlichkeit,

Hans Bergel

Hans Bergel als Philosoph

Die großen Schriftsteller waren fast alle auch Interpreten von philosophischen Gedanken. Vielleicht gehört Hans Bergel auch zu ihnen. Das können die Leser entscheiden, die seine Interpretation der philosophischen Gedanken aus meinem Buch „Sofies neue Welt“ lesen (siehe obenstehender Brief).

Hans Bergel sieht richtig, dass es mir darum geht, den klassischen Idealismus kritisch zu korrigieren, da er voller Widersprüche ist. Ich nenne hier bloß zwei: Berkeley beweist, dass es keine Begriffe gibt, und für Hegel gibt es, mehr oder weniger, nur Begriffe. Für Kant ist der Raum subjektiv, für Einstein hingegen objektiv. Es ist selbstverständlich, dass man hier noch arbeiten muss und der klassische Idealismus nicht als ein Endstadium der Philosophie angesehen werden kann.

„Der Geist der Natur ist in ihrer Materie“, zitiert Hans Bergel einen anderen Gedanken aus meinem Buch. Der Baumeister macht einen Plan und baut dann das Haus. Das Lebendige entsteht nicht nach einem ihm vorausgehenden Plan, ist aber das Gegenteil einer chaotischen Konstruktion.

Von grundlegender Wichtigkeit für Hans Bergel ist der Gedanke: „Der moderne Idealismus erfordert weniger ein klügeres als ein qualitativ neues Denken.“ Das übliche Denken arbeitet mit klassischen Begriffen, die das Gemeinsame umfassen, aber die Lichtgeschwindigkeit ist eine andere als alle anderen Geschwindigkeiten. Der Begriff, der das Gemeinsame erfasst, kann ihre Charakteristiken nicht erfassen. Die Lichtgeschwindigkeit ist die Ausnahme. Sie kann weder beschleunigt noch verlangsamt werden und in ihr selbst bleibt die Zeit stehen.

Auch die Beziehung der Erkenntnis zu ihrem Gegenstand ist eine andere als alle anderen Beziehungen. So gibt es zwischen dem Regen und Holz eine Beziehung: das Holz vermodert, aber der Gegenstand wird durch seine Erkenntnis nicht im Geringsten in Mitleidenschaft gezogen.

Hans Bergel findet einen anderen Satz meines Buches großartig: „Unser Verstand sagt uns, dass alles seine Ursache haben muss (...) Aber das Unendliche ist ohne Ursache.“ Dieser Satz steht meines Erachtens im Zentrum des modernen Idealismus. Wenn das Unendliche ohne Ursache ist, dann kann es mit den klassischen Begriffen des gesunden Menschenverstandes nicht erfasst werden. Nun ist aber das Absolute (das Unendliche) im Zentrum des klassischen Idealismus und zugleich ist für ihn der gesunde Menschenverstand mit seinen klassischen Begriffen die Sonne, um die sich alles dreht. Die großen Themen des klassischen Idealismus gehören gar nicht in den klassischen, sondern in den modernen Idealismus. Wenn der klassische Idealismus mit seinen Begriffen über sie reflektiert, kommt es zu Widersprüchen (Hegel sah in Napoleon den „Weltgeist zu Pferde“.)

Der moderne Idealismus ist die jüngere Schwester der modernen Physik. Um sich für die Gedanken eines noch unbekannten Autoren einzusetzen, braucht man nicht nur Intelligenz, sondern auch Mut, und Hans Bergel hat es an Mut nie gefehlt.

Ich kann abschließend noch einen Schriftsteller nennen: Goethe, der den modernen Idealismus vorbereitet und auf ein anderes Denken aufmerksam gemacht hat. Er sagte über die Natur: „gedacht hat sie aber nicht als ein Mensch“.

Carol Neustädter

Schlagwörter: Hans Bergel, Schriftsteller, Philosophie, Carol Neustädter

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