16. November 2022

Gedächtnis und Erinnerung: Interdisziplinäres Symposium auf Schloss Horneck und online

„Erinnerst du dich noch an …?“ Kaum eine andere Frage kann so schnell ein Gefühl von Gemeinschaft entstehen lassen. Diese und andere Fragen wurden am 16. Oktober auf Schloss Horneck beim interdisziplinären Symposium zum Thema Gedächtnis und ­Erinnerung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Dagmar Seck, die Bundeskulturreferentin des Verbandes, hatte die Wissenschaftlerin Prof. Dr. Hannah Monyer, den Bildhauer und Fotografen Prof. Peter ­Jacobi und die Autorin Lena Gorelik eingeladen.
Peter Jacobi (links) spricht mit Dr. Markus Lörz ...
Peter Jacobi (links) spricht mit Dr. Markus Lörz über seine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Thema Erinnerung. Fotos: Jürgen Binder
Im Künstlergespräch mit Dr. Markus Lörz, dem leitenden Kurator des Siebenbürgischen Museums, gibt Peter Jacobi Einblicke in sein künstlerisches Schaffen. Der 1935 in Ploieşti geborene Bildhauer und Fotograf war von 1971 bis 1998 Professor an der Hochschule für Gestaltung in Pforzheim und widmet sich seit fünf Jahrzehnten der künstlerischen Erinnerung an den Holocaust. In über 50 Schaffensjahren hat der vielfach ausgezeichnete Künstler ein großes und facettenreiches Werk geschaffen. Sein beeindruckendes und vielgestaltiges Werk kreist um Zeit, Vergänglichkeit und Erinnerung. Seine Werke sind in Museen und in öffentlichen Institutionen in vielen Ländern zu finden. Eine Ausstellung seiner Denk- und Mahnmale kann noch bis zum 26. Februar 2023 auf Schloss Horneck besichtigt werden. Den Impuls zu seinem großen Holocaust-Denkmal bekam er kurz nach seiner Ausreise 1970, als er den Pforzheimer Trümmerberg, ein Mahnmal der Bombardierung durch britische Truppen, gesehen hatte. So sind die wichtigsten Strukturen seines Holocaust-Denkmals mitten in Bukarest als Idee und Model entstanden. Andere Impulse, sich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen, sind die Serie Diptychon-Fotos sowie schwarz-weiße Fotoarbeiten: etwa seine Fotos der Höckerlinie (Westwall), Panzersperren und Bunkerwerk aus Beton, die wie Skulpturen der Land Art aussehen: ruhevoll und harmonisch. Ein weiteres Thema seiner Fotoarbeiten ist der Verfall der siebenbürgischen Kirchenburgen. Im Abstand von zehn Jahren, 2007 und 2017, entstanden zwei Bildbände, die den Verfall und Verwüstungen vieler Kirchenburgen dokumentieren.

Die Frage, wie das Gedächtnis funktioniert, beschäftigt die Wissenschaftlerin Hannah Monyer seit ihrer Kindheit. Prof. Dr. Hannah Monyer ist eine in Siebenbürgen geborene Medizinerin und seit 1999 ärztliche Direktorin der Abteilung Klinische Neurobiologie der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg, wo sie Gehirnfunktionen erforscht. Dafür erhielt sie nicht nur das Bundesverdienstkreuz am Bande, sondern auch den höchsten deutschen Wissenschaftspreis, den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der ihr 2004 verliehen wurde.

Prof. Dr. Hannah Monyer legt in einem Kurzvortrag ...
Prof. Dr. Hannah Monyer legt in einem Kurzvortrag dar, warum unsere Erinnerungen uns bisweilen täuschen.
Einleitend sprach Prof. Hannah Monyer von der Ars Memoriae, einer Gedächtniskunst, die von Rhetorikern im antiken Rom angewendet wurde: Man lernte etwas auswendig, indem man das Gelernte mit Räumen verband, oder man ordnete das Gelernte den Fingern beider Hände zu. Mit interessanten Bildern und Videos erläuterte die Wissenschaftlerin die Forschungen an Mäusen, die ein komplexes und dem Menschen vergleichbares Nervensystem besitzen. Wie Beobachtungen zeigen, sind auch die Lern- und Gedächtnisprozesse bei Mensch und Maus einander ähnlich. Sie zeigte, wie Nervenzellen über Synapsen kommunizieren: Sobald die Zelle erregt wird, wird ein Botenstoff freigesetzt und es fließen Ionen, die in einer benachbarten Zelle gemessen werden können. Gleichzeitig öffnen sich Kanäle. Ohne diese Kanäle könnten wir nichts Neues lernen. Werden die Zellen repetitiv, also wiederholt erregt, wie es beim Auswendiglernen der Fall ist, gehen weitere Kanäle auf, und man kann sich das Gelernte über einen längeren Zeitraum merken.

Seit Mitte des letzten Jahrhunderts weiß man, dass der Hippocampus für das Merken verantwortlich ist. Der Hippocampus ist eine an die Gestalt eines Seepferdchens erinnernde Struktur in den Temporallappen des Großhirns. Am Beispiel des Patienten mit den Initialen H.M. erklärte Prof. Hannah Monyer, dass ohne Hippocampus nichts Neues gelernt werden kann. H.M. war ein Schwerst-Epileptiker, dem man als letzten Ausweg den Bereich des Hippocampus in beiden Hirnhälften entfernt hatte. Zwar waren damit die Epilepsie-Anfälle beseitigt, aber der Patient hatte unwiederbringlich die Fähigkeit verloren, neue Lerninhalte in seinem Langzeitgedächtnis zu speichern. Dieser Patient konnte nichts Neues lernen, da die Umwandlung von Kurzzeit-Erinnerungen in Inhalte des Langzeitgedächtnisses im Hippocampus stattfindet. Man braucht den Hippocampus, um Neues zu lernen, aber das Gelernte wird nicht im Hippocampus abgespeichert, sondern wird in die Großhirnrinde transferiert. Der Patient H.M. konnte sich an Neues nicht erinnern, aber an früher Gelerntes, das schon in die Großhirnrinde transferiert worden war.

Im Schlaf kommt es zu einer Konsolidierung dessen, was wir gelernt haben, und der Transfers in die Großhirnrinde. Dabei werden wichtige Orte öfters abgespeichert als unwichtige. Das bedeutet, wenn mehrere Personen das gleiche Erlebnis wahrnehmen, nehmen sie es unterschiedlich wahr, weil sie eine unterschiedliche Vergangenheit haben. Wir vernachlässigen bereits beim Wahrnehmen Dinge, was wir sehen, hören oder deuten. Wird das nach Jahren in Erinnerung gebracht, so wird es in einen neuen Kontext gebracht und verändert abgelegt. Bei jedem neuen Hochkommen der Erinnerung wird diese also ein bisschen modifiziert dargestellt: weggelassen oder hinzugefügt. Das heißt wir konstruieren unsere Erinnerungen.

Ihr Fazit: Unser Gehirn ist nicht ein Speicher dessen, was war, sondern dessen, was vorher war und was mir wichtig ist. Es memoriert Sachen nicht eins zu eins, sondern es memoriert sie je nach Kultur und nach Erfahrung und es werden Sachen automatisch weggelassen. Monyer führte weiter aus, dass Erinnerung zwar etwas Positives und Bereicherndes sei, aber Erinnerungen könnten auch sehr traumatisch sein, das heißt, dass es manchmal gut sei, etwas aktiv oder passiv zur Seite zu tun, zumindest so lange, bis man genug Energie habe, sich damit zu beschäftigen.

Wichtig war der Wissenschaftlerin auch das Vergessen. Dies sei ein Prozess, der gleich nach dem Lernen einsetze. Vergessen sei ein adaptiver Prozess und könne auch ein Schutzmechanismus sein, zum Beispiel in der Psychotherapie.

Zum Thema Erinnerung las die Autorin Lena Gorelik Passagen aus ihrem neuesten Buch, „Wer wir sind“. Der autobiographische Roman handelt vom Anderssein, von Identität, von Zugehörigkeit – und von Erinnerungen an ihre Kindheit in St. Petersburg, wo die Familie unter Demütigungen zu leiden hatte. Als sie 1992 mit ihren Eltern, russische Juden, als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland ausreist, merkt die Elfjährige, dass sie jetzt „die Fremde“ war. Auch für die Eltern war der Anfang schwer und sie verfielen in ihre russische Nostalgie.

Die Autorin fragt sich, wie Erinnerung geschieht, wie sie manipuliert wird, wie sie sich manifestiert. Ihre Mutter hatte ganz andere Erinnerungen. Sie fand ihre Erinnerungen im Roman ihrer Tochter nicht widerspiegelt.

In ihrem Roman erinnert sich die Autorin an ein Schränkchen, das sie in Amsterdam gekauft hatte, ihre erste Antiquität. Der Vater konnte keine sinnvolle Verwendung dafür erkennen. Er fand, es passe nichts rein außer „Steinchen“, doch viele davon hätten sie auf dem Weg in den Westen verloren, so wie auch Familie und Freunde. Die Autorin erinnert sich an den Moment der Abreise aus St. Petersburg. Den Moment des Abschieds kennen wir auch alle zur Genüge: ein letztes Umarmen mit Freunden und Familie, hastiger Einstieg und ein letztes Winken aus dem Fenster des Waggons, bis die Lichter des Bahnhofs in der Dunkelheit verschwinden.

Bei der Podiumsdiskussion mit der Historikerin und Moderatorin Sarah Grandke ging es um das individuelle und das kollektive Erinnern. Im Gespräch mit den drei Referierenden und dem Publikum ging es um Erinnerungskulturen und das persönliche Erinnern und Verarbeiten der Erinnerungen. Es wurde hervorgehoben, dass Erinnern und Vergessen Konsequenzen in Sprache, Gesellschaft und Politik nach sich ziehe. Daher sei die Erforschung des Vergessens zukunftsbildend.

Nicht vergessen werden soll der Dank an die Förderer: Die Veranstaltung wurde möglich gemacht durch eine Förderung der Kulturreferentin für Siebenbürgen aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Das Kulturwerk der Siebenbürger Sachsen hat aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales den Livestream ermöglicht.

Hans-Holger Rampelt

Schlagwörter: Erinnerungen, Symposium, Monyer, Jacobi

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