14. August 2024
Zwei Waisen in der Midlifecrisis
Wie verkorkst kann eine Familie sein? Sind Eltern wirklich so peinlich und Geschwister so gnadenlos gemein zueinander? Schreien, lügen, streiten alle immer nur? Und wenn jemand stirbt: Beginnt dann alles „Nochmal von vorne“? Dana von Suffrins gleichnamiger Roman wirft diese Fragen auf, dreht und wendet sie, lässt seitenweise Gedanken durch den Kopf seiner Hauptfigur strömen („… woher das kam, wusste ich allerdings auch nicht, Herkunft, Geschichte, Charakter?“) und kommt am Ende zu einer unerwarteten Erkenntnis.
Ein jüdischer Vater aus Israel, eine katholische Mutter aus Bayern und die Töchter Nadja und Rosa – diese „Parodie einer bundesdeutschen Kernfamilie“, wie die Mutter bemerkt, lebt, streitet, lügt, telefoniert und ängstigt sich in München-Moosach, einem im Nordwesten der bayerischen Metropole gelegenen Stadtteil. Mordechai „Mordi“ Jeruscher, der nach Deutschland gekommen ist, um in Chemie zu promovieren, stolpert 1982 über das Bein einer Freundin von Veronika Vorderhuber, die in einem Café in der Nähe der Münchener Uni sitzen. So lernen sie sich kennen – oder besser, treffen sich wieder, denn tatsächlich sind sie sich schon einmal zehn Jahre zuvor am Strand von Tel Aviv begegnet, während Veronika Freiwilligendienst in einem Kibbuz leistete. Heirat und Familiengründung erweisen sich unter anderem wegen unterschiedlicher Lebensentwürfe und enttäuschter Hoffnungen auf beiden Seiten ziemlich bald als Fehler; die Folgen für alle Beteiligten fächert Dana von Suffrin in ihrem zweiten Roman durch die Augen von Rosa rückblickend auf, da „man das Ende vom Anfang aus erzählen“ muss.
Die Handlung setzt kurz nach Vater Jeruschers Tod ein. Da weder Veronika (irgendwann verschwunden, später für tot erklärt) noch Nadja (irgendwann verschwunden, aber wohl noch lebendig) da ist, kümmert sich Rosa, seine jüngere Tochter, um das Unvermeidliche, das nach dem Tod eines nahen Angehörigen erledigt werden muss: Dokumente besorgen und von A nach B bringen, die Beerdigung organisieren, einen Haushalt auflösen. Kaum betritt sie auf der Suche nach einem „Stapel Hunderter“, um das alles zu bezahlen, seine Wohnung, die frühere Familienwohnung, stürzen Erinnerungen auf sie ein und setzen Gedankenströme frei: dass der Vater, am Ende seines Lebens ein „alter, dürrer Typ, der kein ,ch‘ aussprechen konnte“, am liebsten allein war, „und am zweitliebsten grübelte er, denn so arbeitete sein Kopf einfach, die traurigen Gedanken kamen viel schneller zu ihm als die guten, und er sagte, das sei eine jüdische Eigenschaft, und so hätten all seine Vorfahren gelebt, und das seien Viehhändler gewesen aus der Nähe von Iwano-Frankiwsk mit traurigen Holzhäusern und leeren Hosentaschen und schweren Herzen“; dass er sich „zuerst immer an das Traurige, das Lächerliche und das Schadhafte“ erinnerte, „und das ist etwas, was ich vielleicht geerbt habe“; das „Geschrei, wenn wieder etwas zu Bruch ging“, und „die Scherben, die uns, als alles schon kaputt war, noch ins Fleisch schnitten“; das seltene gute Gefühl, mit Nadja auf dem hässlichen grünen Sofa zu liegen und heimlich zu rauchen; schließlich die Wut auf ihre große Schwester, die schon „mit ungefähr drei Jahren beschlossen [hatte], nur noch ihr Ding durchzuziehen“, und mit 18 die Familie verlässt, um sich endgültig von der Verwandtschaft zu distanzieren.
Die Erinnerungen, die jeder Gegenstand und die Atmosphäre in der Wohnung bei Rosa auslösen, reichen nicht nur in ihre Kindheit und Jugend in München zurück. Dana von Suffrin erzählt in den Worten ihrer Hauptfigur auch, „wie alles begann. Also nochmal von vorne“, und greift dafür aus bis nach Nordsiebenbürgen zu der Zeit, als es noch zum Habsburgerreich gehörte und Rosas Großeltern Zsazsa und Tibor selbst Kinder waren, wo sie gemeinsam den Krieg überstehen, „in einer der Nächte Ende April, in der die Kirschen blühten und die Weidenkätzchen schon vergangen waren, […] eine Nacht, in der die Motten sich in die kugelförmigen Straßenlaternen verirrten“, Rosas Vater zeugen und bald danach nach Israel emigrieren. Auch die Geschichte der Mutter wird aufgerollt und Rosas frühes Verstehen, „dass sie einen Versuch unternommen hatte, all dem, was sie hasste, zu entkommen, und zwar den rot gefärbten Locken ihrer Mutter, dem Mercedes ihres Vaters und den guten Manieren ihrer Schwester, der Tanzschule und der Sahnetorte und noch dazu dem Swimmingpool im Garten“.
Dana von Suffrin bietet mit diesen in die Rahmenhandlung eingebauten Rückschauen wunderbar lakonisch erzählte Einblicke in zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten, die unvermutet aufeinandertreffen; der Versuch der Protagonisten dieser Welten, ein gemeinsames Leben zu gestalten, scheitert leider grandios und mündet in einen Alltag „mit Geschrei und gegenseitigen Beleidigungen“. Wie die beiden Töchter damit und miteinander umgehen, bestimmt den Ton des Romans: Nadja fällt es scheinbar leichter, indem sie sich der Situation erst innerlich und später auch räumlich entzieht – „schon als Kind wollte sie nie zu unserer Familie gehören“ –, Rosa hingegen spielt die Rolle der Versöhnlichen – „ich wollte meinem Vater gerne gefallen“ – und versucht ihre eigene kleine Welt zusammenzuhalten. Mordis Tod, der traurige Katalysator, führt bei den beiden „Waisen in der Midlifecrisis“ zu einer Art Katharsis, wenn Nadja, die von Rosa schließlich in Schäftlarn, nur 20 Kilometer südlich von München, aufgespürt wird, sagt: „Wahre Liebe gibt es nur unter Schwestern, und ich antwortete ernst, das stimmt […]“.
„Nochmal von vorne“ präsentiert sich thematisch als Fortführung von Dana von Suffrins erstem Roman „Otto“: Ein schrulliger jüdischer Vater, eine abwesende Mutter, zwei Töchter, von denen eine ein einigermaßen bürgerliches Leben führt und die andere eher ein Freigeist ist – diese im Debüt angelegten Elemente hat die Autorin in eine neue Geschichte gegossen. Lag der Fokus im Erstling auf der Vater-Tochter-Beziehung, konzentriert sich die Autorin im zweiten Roman auf die Dynamik zwischen den Schwestern (und sie weiß, was das bedeutet, denn sie hat zwei). Wieder versteht sie es, mit leisem, schwarzem Humor und Melancholie gleichermaßen zu unterhalten und einen Sog zu entfachen, dem man sich kaum entziehen kann – man möchte das Buch nochmal von vorne lesen, um die außergewöhnliche Geschichte der Familie Jeruscher in ihrer ganzen emotionalen Tiefe ausloten zu können.
Dana von Suffrin: „Nochmal von vorne“. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2024, 240 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-3-462-00297-3
Die Handlung setzt kurz nach Vater Jeruschers Tod ein. Da weder Veronika (irgendwann verschwunden, später für tot erklärt) noch Nadja (irgendwann verschwunden, aber wohl noch lebendig) da ist, kümmert sich Rosa, seine jüngere Tochter, um das Unvermeidliche, das nach dem Tod eines nahen Angehörigen erledigt werden muss: Dokumente besorgen und von A nach B bringen, die Beerdigung organisieren, einen Haushalt auflösen. Kaum betritt sie auf der Suche nach einem „Stapel Hunderter“, um das alles zu bezahlen, seine Wohnung, die frühere Familienwohnung, stürzen Erinnerungen auf sie ein und setzen Gedankenströme frei: dass der Vater, am Ende seines Lebens ein „alter, dürrer Typ, der kein ,ch‘ aussprechen konnte“, am liebsten allein war, „und am zweitliebsten grübelte er, denn so arbeitete sein Kopf einfach, die traurigen Gedanken kamen viel schneller zu ihm als die guten, und er sagte, das sei eine jüdische Eigenschaft, und so hätten all seine Vorfahren gelebt, und das seien Viehhändler gewesen aus der Nähe von Iwano-Frankiwsk mit traurigen Holzhäusern und leeren Hosentaschen und schweren Herzen“; dass er sich „zuerst immer an das Traurige, das Lächerliche und das Schadhafte“ erinnerte, „und das ist etwas, was ich vielleicht geerbt habe“; das „Geschrei, wenn wieder etwas zu Bruch ging“, und „die Scherben, die uns, als alles schon kaputt war, noch ins Fleisch schnitten“; das seltene gute Gefühl, mit Nadja auf dem hässlichen grünen Sofa zu liegen und heimlich zu rauchen; schließlich die Wut auf ihre große Schwester, die schon „mit ungefähr drei Jahren beschlossen [hatte], nur noch ihr Ding durchzuziehen“, und mit 18 die Familie verlässt, um sich endgültig von der Verwandtschaft zu distanzieren.
Die Erinnerungen, die jeder Gegenstand und die Atmosphäre in der Wohnung bei Rosa auslösen, reichen nicht nur in ihre Kindheit und Jugend in München zurück. Dana von Suffrin erzählt in den Worten ihrer Hauptfigur auch, „wie alles begann. Also nochmal von vorne“, und greift dafür aus bis nach Nordsiebenbürgen zu der Zeit, als es noch zum Habsburgerreich gehörte und Rosas Großeltern Zsazsa und Tibor selbst Kinder waren, wo sie gemeinsam den Krieg überstehen, „in einer der Nächte Ende April, in der die Kirschen blühten und die Weidenkätzchen schon vergangen waren, […] eine Nacht, in der die Motten sich in die kugelförmigen Straßenlaternen verirrten“, Rosas Vater zeugen und bald danach nach Israel emigrieren. Auch die Geschichte der Mutter wird aufgerollt und Rosas frühes Verstehen, „dass sie einen Versuch unternommen hatte, all dem, was sie hasste, zu entkommen, und zwar den rot gefärbten Locken ihrer Mutter, dem Mercedes ihres Vaters und den guten Manieren ihrer Schwester, der Tanzschule und der Sahnetorte und noch dazu dem Swimmingpool im Garten“.
Dana von Suffrin bietet mit diesen in die Rahmenhandlung eingebauten Rückschauen wunderbar lakonisch erzählte Einblicke in zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten, die unvermutet aufeinandertreffen; der Versuch der Protagonisten dieser Welten, ein gemeinsames Leben zu gestalten, scheitert leider grandios und mündet in einen Alltag „mit Geschrei und gegenseitigen Beleidigungen“. Wie die beiden Töchter damit und miteinander umgehen, bestimmt den Ton des Romans: Nadja fällt es scheinbar leichter, indem sie sich der Situation erst innerlich und später auch räumlich entzieht – „schon als Kind wollte sie nie zu unserer Familie gehören“ –, Rosa hingegen spielt die Rolle der Versöhnlichen – „ich wollte meinem Vater gerne gefallen“ – und versucht ihre eigene kleine Welt zusammenzuhalten. Mordis Tod, der traurige Katalysator, führt bei den beiden „Waisen in der Midlifecrisis“ zu einer Art Katharsis, wenn Nadja, die von Rosa schließlich in Schäftlarn, nur 20 Kilometer südlich von München, aufgespürt wird, sagt: „Wahre Liebe gibt es nur unter Schwestern, und ich antwortete ernst, das stimmt […]“.
„Nochmal von vorne“ präsentiert sich thematisch als Fortführung von Dana von Suffrins erstem Roman „Otto“: Ein schrulliger jüdischer Vater, eine abwesende Mutter, zwei Töchter, von denen eine ein einigermaßen bürgerliches Leben führt und die andere eher ein Freigeist ist – diese im Debüt angelegten Elemente hat die Autorin in eine neue Geschichte gegossen. Lag der Fokus im Erstling auf der Vater-Tochter-Beziehung, konzentriert sich die Autorin im zweiten Roman auf die Dynamik zwischen den Schwestern (und sie weiß, was das bedeutet, denn sie hat zwei). Wieder versteht sie es, mit leisem, schwarzem Humor und Melancholie gleichermaßen zu unterhalten und einen Sog zu entfachen, dem man sich kaum entziehen kann – man möchte das Buch nochmal von vorne lesen, um die außergewöhnliche Geschichte der Familie Jeruscher in ihrer ganzen emotionalen Tiefe ausloten zu können.
Doris Roth
Dana von Suffrin: „Nochmal von vorne“. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2024, 240 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-3-462-00297-3
Schlagwörter: Buchbesprechung, Roman, Literatur
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