Martin Szegedi sucht mit tabulosem Debütroman den eigenen Seelenfrieden
Für den wohl bekanntesten Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Marcel Reich-Ranicki, wurde Literatur wohl auch deswegen geschaffen, um „die Leiden des Individuums zu zeigen“. Bei der inhaltlichen Erschließung des autobiographischen Romans von Martin Szegedi dürfte sich der Leser oft an das soeben erwähnte Zitat eines ganz großen Liebhabers des gedruckten Wortes erinnern. Schon die Überschrift „Die Entblößung bis auf die Knochen“ verrät nämlich manchmal einiges. Tatsächlich werden im Buch brachial alle inneren Begrenzungslinien eingerissen und schwere seelische Verletzungen enttabuisiert. Somit erfahren wir die Geschichte eines Mannes mit viel Herzblut und erkennen dabei vielleicht Parallelen zum eigenen Dasein. Aber der Autor legt zugleich Dinge offen, die selbstverständlich mit Alleinstellungsmerkmalen versehen sind.
Martin Szegedi, geboren am 16. Mai 1953 in Karlsburg (Alba Iulia) und aufgewachsen in Blutroth in Siebenbürgen, absolvierte eine Art Werkgymnasium mit Fachabitur. Er siedelte 1984 in die Bundesrepublik Deutschland aus und war auch hier – bis zu seiner Verrentung 2015 – als Elektriker im Maschinenbau tätig. So freut er sich zu Beginn der Handlung seines Romans, dass es ihm endlich gelungen ist, mit seiner Familie nach Deutschland auszuwandern. In seinem Herkunftsland existierte längst keine Luft zum Atmen mehr.
Martin Szegedi
Perspektivlosigkeit bestimmte den dortigen Alltag. Und das Land der Sehnsüchte verursachte erst einmal so etwas wie dauerhafte Schockstarre. Beispielsweise beim Besuch ganz normaler Bäckereien. Was für eine emotionale Reise aus dem Land der Lebensmittelknappheit hinein in das vermeintliche Paradies des Überflusses erlebten die daran Beteiligten. So etwas blieb fest haften im Gedächtnis und konnte nur Schritt für Schritt verarbeitet werden. Es folgten viele weitere Überraschungswellen beim persönlichen Zurechtfinden in der neuen Umgebung. Denn als Spätaussiedler wollte der bundesrepublikanische Neubürger eher unauffällig wirken, was natürlich nicht gelang. Wegen dem mützenhaften Äußeren, wegen dem anderen Dialekt, durch das Beharren auf Tugenden, die scheinbar nichts galten in der Moderne des Westens mit all ihrer schauspielenden Oberflächlichkeit. Natürlich wollten die Neuangekommenen mitmachen und „gut beim Schaffen“ sein, wie es im Buch formuliert wird. Fleiß, Ausdauer, Disziplin – mit diesen Eigenschaften würden sie uns im einstigen Wirtschaftswunderland schon akzeptieren, hoffte Martin und werkelte hervorragend mit Schalttafeln sowie Elektroplänen. Aufgrund eigener realsozialistischer Erfahrungswerte beherrschte er zugleich meisterlich die Improvisation, das Tüfteln, das Weitermachen in vermeintlich aussichtslosen Situationen. Nicht allen Kollegen gefiel das, misstrauisch wurde der von woanders her Stammende beäugt. Arbeitete dieser etwa gar für Dumpinglöhne und nutzten diese seltsam wirkenden Weitgereisten nur unsere Sozialsysteme aus? Für so manche Einheimische gehörten die zwar ihre Sprache Sprechenden sowieso nicht dazu. So etwas verletzte, so etwas machte zuweilen mürbe, so etwas schürte die aufgrund von Diktaturerfahrungen bereits vorhandenen Minderwertigkeitsgefühle.
Aber der Protagonist konnte allerhand mehr außer „nur“ gut arbeiten. Er dichtete auch schon lange. Seit seinem elften Lebensjahr schrieb er Gedichte, einige wurden im kommunistischen Rumänien veröffentlicht. Damit bekam er fast zwangsläufig Probleme mit der dortigen Geschmackspolizei. Auch nach der Ausreise spürte der vermeintlich Entkommene den langen Schatten einer das Innere, das eigene Ich, zersetzenden Geheimpolizei. Einreisen in das Land seiner Geburt waren jahrelang nicht möglich. In der Wahlheimat dagegen blieb der zuweilen Zweifelnde ebenfalls ruhelos und rastfrei. Dieses Hin und Her persönlicher Gefühlwelten ist krass, überforderte nicht nur ihn auf Dauer. Trotz akuter gesundheitlicher Probleme funktionierte der längst außer Kontrolle Geratene weiter. Angeblich! Immer wieder die Enttäuschungen im Tagesgeschäft und dann die schlimmen Träume der Nacht. Wenn es überhaupt zum Schlaf kam. Bitteres Resultat: Er machte einfach nicht mehr mit und versuchte freiwillig das eigene Dasein zu beenden. Es klappte nicht! Auch die Neuauflage dieses Begehrens voller Bitternis scheiterte. Viele Monate Krankenhausaufenthalte zerfraßen bereits angegriffene Seelenwelten. Aber war er wirklich verlassen und einsam im Tal der Finsternis? Nein, es gab Leute, die gaben ihm Kraft zum Weiterleben wie seine gefühlsstarke Partnerin. Beschwerlich erwies sich der Pfad, um die Dunkelheit zu verlassen und sich zurückzubewegen in einen Alltag, wo nun tatsächlich manchmal die pralle Sonne grüßte.
Zugegeben: Das hier Notierte ist nichts für die inhaltsleere Zerstreuung. Das hier Vorgelegte entpuppte sich eher als totale Selbstreflektion. Es wurde aber vor allem die Geschichte eines besonderen Mitbewohners. Wichtig genug, um es öffentlich zu machen. Es ist Martin Szegedis erster Roman, der seit 2016 mehrere Gedichtbände veröffentlicht hat.
Roland Barwinsky
Martin Szegedi: „Die Entblößung bis auf die Knochen“. BoD – Books on Demand, 2024, 200 Seiten, 10 Euro, ISBN 978-3-7693-1386-4.
Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist
nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.