Deportationsgedenken in Nürnberg: Vorträge, Lesungen, Film und Zeitzeugengespräch im Haus der Heimat
Unter dem Titel „Vor 80 Jahren: Deportation in die Sowjetunion“ trafen sich auf Einladung der HOG Bistritz-Nösen am Samstag, dem 25. Januar, von 10 bis 20 Uhr knapp 80 interessierte Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben im Haus der Heimat in Nürnberg zu einem Gedenksymposium mit mehreren Vorträgen, Lesungen, einer Filmvorführung und einem Zeitzeugengespräch. Informieren, Erinnern als Mahnung und Verpflichtung sowie Gedenken prägten den Tag. „Das war eine informative, ergreifende, eine gelungene, sowie auch recht fesselnde Veranstaltung. Am Ende war mir gar nicht bewusst, dass wir tatsächlich einige Stunden miteinander verbracht haben“, zog spontan eine Teilnehmerin nach zehn Stunden am Abend Bilanz.
Georg Ongert (Cello) führte uns musikalisch mit einer meisterhaften Interpretation des 2. Satzes aus Antonio Vivaldis Cellokonzert in a-Moll in den Gedenktag ein. Bei einer berührenden Gedenkminute, vorgetragen von Inge Alzner, Johann Schuster und Hildegard Steger, gedachten wir gemeinsam aller Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker, der Millionen Opfer des nationalsozialistischen Völkermords an den europäischen Juden, aller Opfer von Verschleppung und Deportation, heute in besonderem Maße der Opfer der Deportation der Rumäniendeutschen in die Sowjetunion im Januar 1945, ebenso der Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, etwa in der Ukraine oder in Gaza, aller Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung.
Horst Göbbel während seines Vortrages. Foto: Lukas Geddert
In der Begrüßung entwickelte Horst Göbbel Gedanken zum Thema Gedenken und Erinnern und betonte, wie auch Dr. Heike Fabritius eine Woche vorher bei der zentralen Gedenkveranstaltung in Ulm, dass aus Anlass des 80. Jahrestages der Deportation von Deutschen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion neue und weitere Formen der Erinnerung notwendig seien. Da Erinnerung bekanntlich meist ein emotionales Erlebnis ist, bleibt es stärker verankert im autobiografischen Gedächtnis. Da jedoch von den unmittelbaren Zeitzeugen kaum noch jemand lebt, müsse das Erinnern wohl nicht nur von einer neuen Generation übernommen werden, sondern auch neue Formen annehmen, ein großes, aktuell umfassend diskutiertes Thema auch im Zusammenhang mit Auschwitz oder der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem: Wie hält man die Erinnerung an den Völkermord wach?
Die inhaltliche Annäherung an das Thema besorgten Renate Eifert mit Johann Ohler. Vorangestellt wurde die Aussage, dass während des Zweiten Weltkrieges das NS-Regime zwölf Millionen Zwangsarbeiter in den Machtbereich des Dritten Reiches deportiert hatte, darunter 2,1 Millionen „Ostarbeiter“ – Frauen und Männer – aus der Sowjetunion. Anschließend trugen Renate und Hanni im Wechsel die Grunddaten zur Evakuierung und zur Deportation vor. Bei der Evakuierung 1944 aus Nordsiebenbürgen, sieben Gemeinden aus Südsiebenbürgen und aus mehreren Banater Dörfern ging es um die Rettung der Deutschen vor der Roten Armee, im Gegensatz dazu bei der Deportation der Deutschen aus Rumänien 1945 um Zwangsarbeit in der Sowjetunion: rund 40 000 Deutsche wurden 1944 evakuiert, rund 70 000 Rumäniendeutsche 1945 deportiert, Evakuierte waren Personen beiderlei Geschlechtes und jeden Alters (Kinder, Frauen, Junge, Alte), deportiert wurden in die Sowjetunion Männer zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren. Bei mehr als 10 Prozent wurde das vorgesehene Alter missachtet: die ältesten der Verschleppten waren 55, die jüngsten 13 Jahre alt, im Zusammenhang mit der Evakuierung gab es weniger als 100 Menschenopfer, von den 70 000 Deportierten starben ca. 15% (es kamen anteilmäßig dreimal so viele Männer als Frauen ums Leben), die Evakuierung war eine staatliche Aktion zur Rettung einer Volksgruppe, die gewaltsame Deportation von 1945 bis 1949 war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Völkerrecht, für die Evakuierten aus Nordsiebenbürgen bleibt diese Flucht ein komplexes, folgenreiches traumatisches Ereignis, für die in die Sowjetunion verschleppten Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben bleibt die Deportation das schrecklichste Trauma ihrer neuzeitlichen Geschichte.
Bei den Banater Schwaben folgte sozusagen als weiterer Tiefpunkt die Deportation in die Bărăgan-Steppe 1951 (bis 1956) durch die kommunistische Regierung Rumäniens. Nicht zu vergessen: Evakuierung und Deportation 1944/45 begann de facto am 30. Januar 1933, als Adolf Hitler im Deutschen Reich die Macht übernommen hatte.
Mit dem 1. Satz aus der Sonate in g-Moll von Henry Eccles beschloss am Cello Georg Ongert den einführenden Teil des Gedenktages.
Schicksalsjahre 1944/1945 – Evakuierung und Deportation
In seinem ausführlichen und reich mit Abbildungen versehenen Einführungsvortrag „Schicksalsjahre 1944/1945 – Evakuierung aus Nordsiebenbürgen – Deportation in die Sowjetunion“ stellte Horst Göbbel die einzelnen bekannten Fakten zu den beiden tiefgreifenden Ereignissen vor 80 Jahren vor (historische Zusammenhänge betreffend Ursachen, Vorbereitung, Durchführung und unmittelbare Folgen der Evakuierung bzw. Deportation) und konzentrierte sich in besonderem Maße auf zwei Fragen: Wer hat die Deportation befohlen? Welche Rolle spielte bei der Deportation die damalige rumänische Regierung?
Im Beschluss des Staatskomitees für Verteidigung Nr. 7161ss vom 16. Dezember 1944, unterschrieben von J. W. Stalin, heißt es unmissverständlich: „Das Staatskomitee für Verteidigung beschließt: 1. Die Mobilisierung und Internierung aller arbeitsfähigen Deutschen, Männer im Alter von 17-45 Jahren, Frauen im Alter von 18-30, die sich auf den von der Roten Armee befreiten Territorien Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei befinden, um sie zur Arbeit in die UdSSR zu transportieren. (…) 2. Die Leitung der Mobilisierung untersteht dem NKVD der UdSSR (Genosse Berija). Der NKVD der UdSSR wird beauftragt, für die Organisation der Sammelstellen, die Durchführung der Mobilisierung, Zusammenstellung und Abfertigung der Transporte sowie deren Bewachung Sorge zu tragen. Die Mobilisierten sind per Eisenbahn in die Sowjetunion zu transportieren, in dem Maße, in dem die eingelieferten Deutschen bei den Sammelstellen eintreffen.“ [Anmerkung: NKVD ist der Geheimdienst der UdSSR, wie die Securitate im kommunistischen Rumänien]
Aufgrund von Listen, die ab Herbst 1944 aufgestellt worden waren, wurden im Januar 1945 die arbeitsfähigen deutschen Frauen und Männer von sowjetischen und rumänischen Militäreinheiten ausgehoben und zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Bei eisiger Kälte, unter primitivsten, hygienischen Bedingungen und notdürftiger Verpflegung wurden in Viehwaggons jeweils 40-70 Männer und Frauen zusammengepfercht und innerhalb von zwei bis drei Wochen vorwiegend in das Donezbecken (heute stark zerstörtes Kampfgebiet im verbrecherischen Angriffskrieg, den Putins Russland gegen die Ukraine seit Februar 2022 führt) transportiert.
Bei der Deportation handelt es sich um ein eigenmächtiges Vorgehen der Sowjetunion gegen den Willen ihrer Verbündeten, USA und Großbritannien. Die rumänische Regierung wie auch die Vertreter der USA und Großbritanniens protestierten umgehend gegen die Deportation. In der Protestnote der königlichen rumänischen
Regierung von Nicolae Rădescu (1874-1953) an den Stellvertretenden Vorsitzenden der Alliierten Kontrollkommission für Rumänien, General Vinogradov (der eigentliche starke Mann der Sowjets in Rumänien), vom 13. Januar 1945 heißt es: „Herr General, mit Bezug auf ihre Noten Nummer 031 vom 6. Januar dieses Jahres über die Mobilisierung von bestimmten Kategorien rumänischer Einwohner deutscher Herkunft (…) zur Arbeit in die UdSSR, fühle ich mich verpflichtet, Ihnen folgende Bemerkungen vorzulegen: Diese Arbeiter, deren Anzahl heute noch eine halbe Million beträgt, haben sich vor sehr langer Zeit im Lande niedergelassen (sieben Jahrhunderte jene in Siebenbürgen, zwei Jahrhunderte, jene im Banat) und sind infolgedessen so gut in das Leben des rumänischen Volkes integriert, dass sie einen wahrhaft organischen Teil davon darstellen und das folglich ihr – sei es auch nur zeitweises – Herausreißen aus ihrem natürlichen Umfeld in allen Tätigkeitsbereichen des Landes (Staatsapparat, Armee, Industrie, Handel, Banken, Landwirtschaft und so weiter) zu einer schweren und oftmals irreparablen Störung führen würde. In einem Augenblick, in dem alle Anstrengungen des Volkes darauf gerichtet sind, sowohl den gemeinsamen Kampf zu Ende zu führen, als auch die Bedingungen des Waffenstillstandsvertrages vollständig zu erfüllen, würde der Verlust einer so großen Anzahl von rumänischen Staatsbürgern die gesamte Wirtschaft des Landes in einem sehr großen Ausmaß lahmlegen und dadurch die Erfüllung sowohl der einen als auch der anderen Verpflichtung, die wir am 12. September letzten Jahres angegangen sind, ernsthaft infrage stellen.
Das Vermä̈chtnis von Betroffenen, Lesung mit Johann Schuster, Michael Orend, Renate Hartha-Fischer, Johann Ohler, Angelika Meltzer, Renate Eifert, Inge Alzner und Horst Gö̈bbel (von links nach rechts). Foto: Lukas Geddert
Desorganisierte Rüstungsindustrie, brachliegende Äcker, ungenutzte Wälder, zahlreiche Staats und Privatunternehmen mit unvollständiger Belegschaft, das infrage gestellte Funktionieren zahlreicher Institutionen, mit einem Wort die schlimmste Erschütterung aller ökonomischen und administrativen Aktivitäten des Staates wären die Folge einer solchen Maßnahme. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem die Verluste an der Front, die in der UdSSR zurückgehaltenen Kriegsgefangenen und unsere Kriegsanstrengungen ohnehin die gewaltige Frage des Arbeitskräftemangels aufwerfen – das werden die Folgen einer solchen Maßnahme sein. Wenn das sowjetische Oberkommando, die Mobilisierung der oben genannten Personen trotzdem für unerlässlich hält, bitte ich Sie, wohlwollend zu prüfen, ob der Arbeitsdienst gemäß den Anweisungen sowie diese Behörden nicht auf rumänischem Territorium abgeleistet werden könnte. Dadurch würden Transportmittel, die heute schweren Belastungen ausgesetzt sind, vor neuen und zusätzlichen, schweren Aufgaben verschont, und der rumänischen Wirtschaft würden die Arbeitskräfte für die Produktion verbleiben, die größtenteils für die Erfüllung des Waffenstillstandsvertrages bestimmt ist und sein wird. Was die Deutschen in Rumänien anbelangt, so würde ihre Mobilisierung und Verschickung (in die Sowjetunion) nicht nur die Bestimmungen von Art. 2 des Waffenstillstandsvertrages missachten, sondern sie stünde auch in einem formalen Widerspruch zu internationalen Vorschriften und Gepflogenheiten.“ Weiter heißt es in der Protestnote: „Die rumänische Regierung ist aufgrund der Abkommen, die sie unterzeichnet hat, aufgrund ihres Verantwortungsbewusstseins und schließlich des Waffenstillstandsvertrages selbst (Art. 2 und 6) gehalten, den Standpunkt anzunehmen, den sie in dieser Note zum Ausdruck bringt, und kann daher mit den vom sowjetischen Kommando geforderten Maßnahmen nicht einverstanden sein. Gestatten Sie, Herr General, dass ich sie meiner außerordentlichen Hochachtung versichere.“
Die sowjetischen Besatzer berücksichtigten weder Rădescus Protest noch jenen der Vertreter der USA und Großbritanniens.
Am 22. Februar 1945 meldet der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der Sowjetunion Lawrenti Berija (Chef der Geheimdienste und Massenmörder) Stalin den Vollzug der Anordnung Nr. 7161ss: „Im Operationszeitraum 25. Dezember 1944 - 31. Januar 1945 wurden 112 480 Personen deutscher Nationalität mobilisiert, interniert und zur Arbeit in die UdSSR verschickt, darunter 61 375 Männer und 51 105 Frauen. An der Operation haben 10 433 Soldaten und Offiziere der NKVD-Truppen teilgenommen sowie 664 Angehörige der operativen Organe des NKVD-NKGB. (…) Entsprechend Ihrem Befehl lege ich diesem Schreiben den Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR bei, der die Auszeichnung mit Orden und Medaillen der Sowjetunion all jener Angehöriger des NKVD-NKGB und der Kampftruppen des NKVD vorsieht, die sich bei der Durchführung der Operation verdient gemacht haben.“
Gemäß der Übersicht wurden aus Rumänien von 42 1846 Registrierten 69 332 Deutsche deportiert (36 590 Männer, 32 742 Frauen), aus Ungarn 31 923, aus Jugoslawien 10 935, aus der Tschechoslowakei 215, aus Bulgarien 75. Die vorwiegend erst nach Öffnung von Archiven in Russland und in Rumänien nach 1990 bekannten Daten und Fakten ermöglichten der lange bei Beteiligten und der deutschen Bevölkerung vorherrschenden Ansicht, die rumänischen Behörden hätten zusammen mit den Sowjets die Deportation befohlen und durchgeführt, ihre Grenzen aufzuzeigen. Die Deportation hat die sowjetische kommunistische Führung zu verantworten, die praktische Ausführung in der Phase der Auswahl der deportierten Deutschen und deren Ausheben und Verfrachten in die Eisenbahnzüge mussten vorwiegend rumänische Behörden (hauptsächlich Polizei), zum Teil unterstützt von sowjetischen NKVD-Leuten in die Praxis umsetzen. Da die Deportierten und ihre Familien im Zuge der Aushebung und des Transports zu den Viehwaggons, die sie zur Zwangsarbeit brachten, hauptsächlich von rumänischen Polizisten und rumänischen Amtspersonen aufgeschrieben, mit Waffengewalt aufgefordert, ausgehoben, aus ihrem Zuhause abgeholt, einwaggoniert und bis zur sowjetischen Grenze bewacht wurden, der gesamte Prozess der Aushebung in rumänischer Sprache abgewickelt wurde, war es kein Wunder, dass „die Rumänen“ als Verursacher der Deportation wahrgenommen wurden.
Zum Vortragsabschluss fasste Horst Göbbel zusammen: „1944/1945 waren die Deutschen aus Rumänien am Scheideweg: am Scheideweg aus einer vertrauten Vergangenheit in eine höchst ungewisse Zukunft, am Scheideweg aus der althergebrachten Geborgenheit einer recht sicheren Welt in die große Ungewissheit einer Zeit und Welt ohne klar definierte Koordinaten, am Scheideweg aus selbsterarbeitetem Wohlstand in oft bittere Armut, am Scheideweg aus einer idealisierten Welt, die unweigerlich zusammenbrach, in eine neue, unbekannte, im Werden begriffene, bedrohliche Welt, deren Konturen lediglich in einer Hinsicht klar zu sein schienen: ab nun würde es auf jeden Fall schwieriger, komplizierter, problematischer, gefährlicher, unsicherer …, am Scheideweg aus einer Situation vermeintlicher und weitgehend tatsächlicher Sicherheit in eine Situation nie dagewesener Herausforderungen. Die Bedrohungen der neuen Lage durch Flucht und Deportation wurden als Herausforderungen akzeptiert. Geschlossenheit und unbedingter Wille haben dazu geführt, dass unsere Mütter und Väter, unsere Großmütter und Großväter diese existenzielle Herausforderung am großen Wendepunkt unserer Geschichte, am Tiefpunkt 1944/1945 standhaft bewältigt haben, wofür ihnen unser aller Respekt und Dank gebührt.“
Sehr hoch einzuschätzen ist die Tatsache, dass Rumänien sich inzwischen zu seiner Mitverantwortung für die Deportation bekennt und den Deportierten und mittlerweile deren Kindern eine Entschädigung gewährt.
Die Deportation – einschneidende und nachwirkende Geschehnisse
Anschließend hielt Prof. Dr. Anton Sterbling den wissenschaftlich fundierten und gehaltvollen Vortrag „Die Deportation in die Sowjetunion 1945 – einschneidende und nachwirkende Geschehnisse für die Deutschen aus Rumänien.“
Prof. Dr. Anton Sterbling, geb. 1953 in Groß-Sankt-Nikolaus, Mitbegründer der regimekritischen rumäniendeutschen Autorengruppe Aktionsgruppe Banat, namhafter Soziologe und sehr fleißiger Vortragender und Verfasser literarischer und wissenschaftlicher Publikationen, befasste sich zunächst mit den Umständen der Aushebung und Verschleppung (Namenslisten, Zahlen, Schrecken der Aushebung und Festnahme, Bewachung, der lange Weg in die Ungewissheit) und verwies dabei vorwiegend auf die umfassende Dokumentation: „Die Verschleppung der Deutschen aus dem Banat in die Sowjetunion aus der Sicht ihrer Kinder. Erzählberichte“, herausgegeben von Albert Bohn, Werner Kremm, Peter-Dietmar Leber, Anton Sterbling und Walter Tonţa in der Schriftenreihe „Banater Bibliothek“, Band 20, München 2021, sowie auf Herta Müllers „Atemschaukel“. Er zeigte auf, dass es sich bei den Erzählungen vorwiegend um „bedrückende, oft schmerzhafte, existenziell tiefgreifende und nachwirkende individuelle Erlebnisse und Erfahrungen“ handelte, „die bei ähnlichen Grundmustern des äußeren Geschehens doch stets subjektiv einmalig bleiben.“ Nicht selten seien dies weitreichende, in ihrer Nachhaltigkeit und Tragweite bedeutende Geschehnisse und Erfahrungen.
Prof. Dr. Anton Sterbling. Foto: Lukas Geddert
Sodann erarbeitete Sterbling die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses und die Besonderheiten der Erinnerung an die Deportation der Deutschen aus der nachwirkenden Perspektive in der Generationenfolge. Das kollektive Gedächtnis, hält er fest, baue nicht nur auf den individuellen und familiären Erinnerungen auf, sondern greife immer wieder erneut auf dieses über und wirke auf es zurück. Sein Ursprung sei stets das erfahrungs- und erlebnisbestimmte individuelle Erinnern und das aus einzelnen Erzählungen, beispielsweise im engen Familien-, Verwandtschaft- oder Bekanntenkreis sich bündelnde gemeinsame Gedächtnis. Daraus ergebe sich auch eine bestimmte Erinnerungskultur und eine diese vielfach begleitende Erinnerungspolitik. Dr. Sterbling bot den Anwesenden anschließend eine knappe soziologische Annäherung zu den Begriffen Individualisierung, Vergemeinschaftung und kollektives Gedächtnis und wandte sich der Frage der „Kollektivschuld“ und dem Alltag des sowjetischen Lagersystems zu. Während man nach dem Ersten Weltkrieg von „Kriegsschuld“ sprach, ging es nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere im östlichen Europa nur noch um die „Kollektivschuld“ (der Deutschen). Zur Frage der „Kollektivschuld“ zitierte Sterbling Karl Jaspers, der bereits 1946 festhielt: „Es ist aber sinnwidrig, ein Volk als Ganzes eines Verbrechens zu beschuldigen. Verbrecher ist immer nur der einzelne. Es ist auch sinnwidrig, ein Volk als Ganzes moralisch anzuklagen. (…) Moralisch kann immer nur der Einzelne, nie ein Kollektiv beurteilt werden.“ Dies entsprach wohl dem totalitären Charakter zumindest eines Teils der Herrschaftsordnungen der Kriegsmächte und der weitgehend entgrenzten, „totalen“ Austragungsform des Krieges, mit seinen teilweise unverkennbar deutlichen Zügen als „Vernichtungskrieg“, erklärt Dr. Sterbling und fügt hinzu: „Eine Ironie der Geschichte bestand übrigens darin, dass bei der Verschleppung der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion nahezu allein die ethnische Zugehörigkeit galt, (…) unabhängig von jeder individuellen moralischen Haltung und Gesinnung, Verstrickung in die Geschehnisse oder Widerstand dagegen, subjektiver Mitschuld oder Schuldlosigkeit.“ Was das alltägliche Gesicht und die erschütternden Folgen der Deportation anbelangt, ist sich Dr. Sterbling im Klaren, dass sie „Zwangsarbeit unter einem inhumanen Lagerregime, mit strengen, gewaltgestützten Regelungen, Zwängen, Kontrollen, Schikanen, Demütigungen und Repressionen, unter oft rudimentären Unterbringungs-, Hygiene- und Lebensbedingungen, bei (im Winter) eisiger Kälte, häufiger Krankheit, nahezu ständigem Hunger, körperlicher Schwäche, Gebrechlichkeit und vielfachem Tod“ bedeutete. Diese „tiefen Beschädigungen der menschlichen Würde“ seien nur eine Seite des harten Geschehens, denn zugleich habe es „auch veritable Bewährungsmöglichkeiten der Menschen und ihrer Hilfsbereitschaft in größter Not und Bedrohung, übrigens auch über ethnische Grenzen hinweg“ gegeben.
Ein Zwischenfazit zog Dr. Sterbling, als er darlegte: „Die Barbarei des Zweiten Weltkrieges, und die nationalsozialistischen Vernichtungslager, die gewiss tief eingebrannte Schandflecke und Traumata der deutschen Geschichte waren und bleiben werden, machen diese Wirklichkeit des jahrzehntelangen sowjetischen Lagersystems keineswegs besser. Das Eine kann das Andere weder relativieren noch gar entschuldigen, ganz im Gegenteil. Mit der Sowjetisierung des östlichen Europas wurden solche Deportationen, Internierungen, Lager, Gefängnisse und Zwangsarbeit, wurden Diskriminierungen und Repressionen, wurden Willkür, Staatsterror und totalitäre Herrschaftsmethoden – insbesondere in den finsteren Zeiten des Stalinismus – auch in den Satellitenstaaten der Sowjetunion verbreitet.“
Die Facetten der Deportation fänden sich, führte Sterbling aus, in eindrucksvoller literarischer Verarbeitung und mit außergewöhnlicher sprachlicher Sensibilität z.B. in Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ verdichtet wie auch in weiteren bemerkenswerten Beispielen der wissenschaftlichen, dokumentarischen und künstlerischen Beschäftigung mit der Deportation der Deutschen aus Rumänien, etwa Richard Wagners Roman „Habseligkeiten“, bei Johann Lippet, bei Andreas H. Apelt, bei William Totok, bei Marc Schröder, in der Dokumentation von Georg Weber u.a., in Arbeiten von Ilie Schipor, Albert Bohn, Michael Markel, Luzian Geyer, Günter Czernetzky, Hannelore Baier u.v.a.
Einige zusammenfassende Überlegungen, die den Blick auf die Gegenwart und Zukunft einbeziehen, schlossen die Ausführungen von Sterbling ab. Vor dem Hintergrund des brutalen, völkerrechtswidrigen Überfalls der Ukraine durch Russland und dem unermesslichen menschlichen Leid, das damit erneut einher geht, (und dies auch an den Lagerorten der damaligen Deportation der Deutschen aus Rumänien im Donbas) „gewinnen die Erinnerungen an die Deportation vor 80 Jahren eine erschreckende und aufwühlende Gegenwärtigkeit.“ Wir sollten uns davon ausgehend als wichtige Lehre einprägen: „Historische Katastrophen und politische Verbrechen, durch wen auch immer verschuldet und zu verantworten, haben nicht selten schwerwiegende und langfristige Auswirkungen, deren zeitliche und sachliche Reichweite man oft gar nicht angemessen beurteilen und abschätzen kann.“
Zeitzeugengespräch mit Dagmar Geddert
Im Zeitzeugengespräch mit einer Betroffenen, mit Dagmar Geddert, geboren am 14. Juli 1945 in der Ukraine, die leider aus Gesundheitsgründen am Vortag nur zu Hause von Horst Göbbel interviewt werden konnte (Videoaufnahme), eröffnete sich die Gelegenheit, umfassend ihre Geburt und die ersten Lebensmonate in der Krankenstation im ukrainischen Lager 1061 Mospino bei Stalino (heute das vom russisch-ukrainischen Krieg zerstörte Donezk) zu beschreiben.
Dagmar und Lukas Geddert. Foto: Horst Göbbel
Sie ist der Meinung, ihr Überleben während der Deportationszeit ihrer Mutter Ilse Weisskopf aus Schäßburg verdanke sie wohl der von einer russischen Bäuerin täglich aus drei Kilometer Entfernung zu Fuß gelieferten Milch für das Kind. Außerdem wurde ihre Mutter glücklicherweise nach ihrer Geburt als Küchenhilfe im Lager beschäftigt. Im Januar 1946 durfte die Mutter mit der halbjährigen Tochter zurück nach Siebenbürgen; in Hermannstadt habe sie praktisch nach der wochenlangen entbehrungsreichen Rückfahrt ohne Milch Dr. Hager zurück ins Leben geführt. In Schäßburg besuchte sie den Kindergarten, die Schule und in Temeswar studierte Dagmar Germanistik und Romanistik, heiratete 1969 Lukas Geddert und wanderte 1973 nach Deutschland aus. Auf die traumatisierten Verschleppten und deren Lebensgeschichten blickt sie mit Ehrfurcht und bejaht klar jedes Gedenken an diese harte Zeit.
Geburtsurkunde von Dagmar Geddert. Foto: Horst Göbbel
„Der Leidensweg meines Vaters“
„Der Leidensweg meines Vaters“, so lautete der von Walter Schneider vorgetragene und sehr gehaltvoll kommentierte Text. Walter Schneider, 1952 im banatschwäbischen Hatzfeld geboren, und in Grabatz aufgewachsen, studierte von 1974 bis 1978 an der Universität Suceava Romanistik und Germanistik, unterrichtete 1978 in Slatina und bis zur Flucht der gesamten Familie 1988 Deutsch im Heimatort Grabatz, von 1988 bis zur Pension 2014 war er im Hessischen Schuldienst tätig. Er absolvierte ein berufsbegleitendes Studium der Theologie und Religionspädagogik an der Universität Frankfurt am Main.
Walter Schneider. Foto: Lukas Geddert
Aktiv im BdV-Hessen, in der Landsmannschaft der Banater Schwaben und der HOG Grabatz, verfasste er heimatgeschichtliche Beiträge in den Grabatzer Heimatblättern, im Donautal-Magazin sowie in der Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien. Er stellte die „Erinnerungen und Leidensweg an die Russlandverschleppung – für meine Lieben von Hans Schneider“ seines Vaters, eine späte Verarbeitung der Deportationsgeschehnisse, beginnend mit dem denkwürdigen Sommer 1944 (23. August, Besetzung des Banates durch „die Russen“, Gerüchte um Verschleppung zur Wiederaufbauarbeit, Aushebung im Januar 1945, Transport im Viehwaggon) bis hin zur fünfjährigen Lagerzeit im Donbas (unter anderem auch im „Krepier-Lager“ Krivoi Rog) und ihrer Traumatisierung vor. Naturgemäß stand das Lagerdasein („Lagerleben-Arbeitssklave“) mit seinen tiefe Spuren hinterlassenden Phasen mit harter Arbeit (roter Steinbruch, grauer Steinbruch, Transportbrigade, am Bau, als Schachtarbeiter, Handwerker, mit Kälte, Hunger, Läusen und dem Tod als ständiger Begleiter, mit Dankesworten für den deutschen Lagerarzt Dr. Hans Schneider aus Bogarosch, mit Misshandlung, mit Schmerz, mit glücklichen Umständen, es nicht schlimmer erlebt zu haben, mit Schikanen, mit Stehlen zum Überleben, mit dem schlimmsten Heimweh besonders an Feiertagen, mit monatelangem, aber auch jahrelangem Warten auf Post, mit der Freude, nach fünf Jahren im November 1949 als Überlebender nach Hause zu dürfen. Der Erlebnisbericht endet mit den Worten: „Auch dieser Leidensweg ging zu Ende. Gott sei Dank!“
Das Vermächtnis von Betroffenen
„Das Vermächtnis von Betroffenen – Lesung aus Berichten von Deportierten“ war der Programmteil, in dem Renate Eifert, Inge Alzner, Johann Schuster, Angelika Meltzer, Johann Ohler, Michael Orend, Renate Hartha-Fischer ganz unmittelbar aus Texten von leidgeprüften Deportierten die (un)menschlichen Facetten der Deportation dem Vergessen entzogen. Die Wunden der Deportation: Kälte, Hunger, Krankheit, Misshandlung, Trennung, Schmerz, Verzweiflung, Tod bestimmten die Tonlage der unterschiedlichen Texte: „Abschied von daheim“ (Katharina Dotz aus Stein), „Nach Russland verschleppt“ (Michael Kaiser aus Scharosch), „Geht zu Stalin arbeiten!“ (Susanne Wagner aus Mediasch), „Russlanderinnerungen nach 50 Jahren“ (Hilda Locher aus Hawelagen), „Krank sein im Lager: Die trübsten Tage meines Lebens“ (Georg Helwig aus Schweischer), „Schwanger in Petrowka“ (Sofia Konnerth aus Schweischer), „Singen und Musizieren bei hungerigem Magen“ (Hans Krystowiak aus Recklinghausen), „Der Verhungerte“ (Rose Schmidt aus Schweischer), „Hungernotjahre 1946 und 1947 und der Hungertod“ (Willi Krempels aus Scharosch), „Das Skoro Damoi der Bevölkerung“ (Johann Staedel aus Stein), „Am Ende unserer Winterreise …“ (Dr. med. Franz Payer aus Bistritz), „In Russland war ich schon tot“(Anna Gitta, geb. Schuster aus Waldhütten) „Ostwärts“ (Angelika Meltzer Schäßburg/Kronstadt). Diese ausgewählten informativen Erlebnisberichte voller Spannung, erschütternd, rührend, tragisch, zuweilen jedoch auch pfiffig, humorvoll, hoffnungsvoll und aus dem christlichen Glauben heraus auch von Zuversicht geprägt sind nicht zu vergessen. Während der Lesungen wurden in großem Format Grafiken der deportierten Künstler Victor Stürmer (Banat) und Friedrich von Bömches (Siebenbürgen) an die Stirnwand projiziert. Auch diese Art des Erinnerns an die Deportation birgt in sich Mahnung und Verpflichtung für unsere Gegenwart und Zukunft.
Herta Müller – die literarische Stimme der Deportierten
Im Anschluss an die Lesungen beschäftigte sich Horst Göbbel in einem ebenfalls reich bebilderten Vortrag umfassend mit einer hoch ausgezeichneten literarischen Stimme der Deportierten, mit der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und ihrer „Atemschaukel“. Ihre Nitzkydorfer Mutter war fünf Jahre im Arbeitslager. 2001 begann Herta Müller Gespräche mit Deportierten aufzuzeichnen. Mit Oskar Pastior, dem berühmten siebenbürgisch-sächsischen Dichter, der als 17-Jähriger in den Donbas deportiert wurde, plante sie gemeinsam ein Buch zum Thema Deportation zu schreiben. Als Oskar Pastior am 4. Oktober 2006 in Frankfurt a/M., wenige Tage vor der Überreichung des wichtigsten deutschen Literaturpreises, dem Georg-Büchner-Preis, plötzlich starb, war Herta Müller wie erstarrt und entschloss sich erst nach einem Jahr den Roman allein zu schreiben. „Die Atemschaukel“ war so auch das Vermächtnis und zugleich ein wahrhaftes poetisches Ereignis, das dem Nobelpreiskomitee 2009 nicht entging. Die vorgelesenen Passagen aus dem Abschnitt „Vom Hungerengel“ dokumentierten die außerordentliche poetische Begabung von Herta Müller. Der Vorstand der HOG Nitzkydorf schrieb seinerzeit 2009 an Herta Müller „Nur durch dein Buch ATEMSCHAUKEL ist das Verbrechen der Verschleppung unserer Mütter und Landsleute nach Russland endlich aufgedeckt und publik geworden.“ Das große Verdienst von Herta Müller ist ohne Zweifel die Tatsache, dass tatsächlich erst durch ihr Buch „Die Atemschaukel“ mit seinen unvergesslichen ausdrucksstarken Bildern die Schandtat, das Verbrechen der Deportation der Rumäniendeutschen von 1945 in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gelangt ist. Prof. Dr. Sterbling betonte im Diskussionsteil sehr deutlich, dass alle Versuche der Securitate (die auch nach 1989 sicher am Werk war), durch gezielte Einschüchterungen und Lügen Herta Müller auch bei ihren Landsleuten klein zu machen, letztlich scheitern mussten. Herta Müller erwies sich all die Jahre hindurch als unbeugsame Kämpferin gegen Diktatur und Gewalt. Der Literaturnobelpreis darf gewiss auch als hohe Auszeichnung dieser unbeugsamen Haltung verstanden werden.
„Arbeitssklaven unter Hitler und Stalin“
Zum Abschluss des Symposiums gab es noch eine weitere Möglichkeit, das Thema Deportation von 1945-1949 in bewegten Bildern zu betrachten: den Film von Günter Czernetzky zur Arbeitssklaverei bis 1945 und zur Deportation ab 1945 „Arbeitssklaven unter Hitler und Stalin“ von 1993. Zur Sklaverei ins Deutsche Reich wurden Millionen Zwangsarbeiter geholt aus den von Hitler besetzten Gebieten im Osten. Günter Czernetzky hat sich zu Beginn der 1990er Jahre mit drei früheren Deportierten aus dem Banat und aus Siebenbürgen in die ehemalige Sowjetunion begeben, frühere Arbeitslagerorte besucht, ist ukrainischen Menschen begegnet, die über ihre Sklavenzeit im Deutschen Reich bis 1945 erzählten und hat seine Begleiter über ihren Zwangsarbeitseinsatz vor Ort berichten lassen.
Gedankt sei an dieser Stelle allen Referenten und Vortragenden, dem wachen Publikum und besonders Annemarie Wagner für die sehr gelungene Organisation der Tagung und die Bewirtung der Anwesenden (fränkisches Mittagessen, Kaffee und siebenbürgisches Abendessen – mit Wein vom Weingut Hoos aus dem rheinhessischen Sulzheim).
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