6. Oktober 2024
Einfach nur Mitzi/Erzählung von Annemarie Roth
Annemarie Roth, geboren 1958 in Marienburg bei Schäßburg, begann während der Coronazeit Erzählungen zu schreiben, die in Siebenbürgen spielen und eine Mischung aus realen Begebenheiten und Fiktion sind. Die Geschichte „Einfach nur Mitzi“ ist bereits ihre fünfte literarische Veröffentlichung in der SbZ Online.
Einfach nur Mitzi
Als wir noch recht klein waren, kauften meine Eltern eine junge Ziege. Wir nannten sie Mitzi.Alle unsere Tiere bekamen Namen, sogar unser Hausschwein, was uns inniger an sie band, es uns später aber auch, wenn wir uns von ihnen trennen mussten, sehr erschwerte.
Wie bei allen Haustieren damals ging es auch bei der Ziege darum, von diesem Tier zu profitieren. Also war Sinn und Zweck des Ganzen, dass uns Mitzi später Milch liefern sollte.
Natürlich waren wir Kinder, mein Bruder und ich, sofort von ihr angetan, sie war verspielt und niedlich, zudem ein wahrhaft schönes Tier mit weichem schwarz-weißem Fell und kleinen runden samtigen Knötchen auf dem Köpfchen, woraus später einmal Hörner sprießen würden, wie uns erklärt wurde. Sehr schnell schon folgte sie uns Kindern überallhin mit akrobatischen übermütigen Sprüngen in alle Richtungen. Im Hof und Garten war sie uns immer auf den Fersen mit lautem Gemecker, legte sich sogar neben uns hin, wenn wir uns irgendwo spielend niederließen.
Als sie älter wurde, endete dieses unbeschwerte und vertraute In-den-Tag-hinein-leben für uns drei.
Für Mitzi begann der Ernst des Lebens, ihres Ziegenlebens. Sie musste nämlich mit der Ziegenherde des Dorfes mit auf die Weide. Der Hirte Sandu, ein junger Zigeuner aus dem Zigeunergässchen, ging morgens von Haus zu Haus, sammelte alle Ziegen ein und führte sie auf die Wiesen außerhalb des Dorfes, wo sie grasten und erst abends nach Hause zurückkehrten. Mitzi gewöhnte sich schlecht an diesen Ablauf. Sie war eigensinnig und wahrscheinlich auch unglücklich und versuchte auszubüxen. Der Hirte beklagte sich bei meinen Eltern, er müsse immer ein Auge auf sie haben, sie versuche oft wegzulaufen. Er habe mit ihr mehr Arbeit als mit allen anderen Ziegen zusammen, behauptete er mit etwas übertriebenem Gehabe.
„So ein störrisches Tier“, wiederholte er immer wieder. Sie wollte nur nach Hause, was ihr einmal auch gelang. An dem Tag war Sandu völlig fertig und außer Atem vom Hinterherrennen. Etwas sauer war er auch. Er kratzte sich am Kopf und machte sich wirklich ernsthaft Sorgen, weniger um das Tier als darum, welche Schimpftiraden über ihn hereinbrechen würden, weil er nicht gut genug aufgepasst habe.
Da Mitzi schnurstracks nach Hause kam, löste sich alles in Wohlgefallen auf. Sandu bekam abends von unserem Großvater einen Pflaumenschnaps, einen pale, für seine strapazierten Nerven. Natürlich wollte er noch einen zweiten und einen dritten Schnaps, da seine Nerven nicht so leicht zu beruhigen seien. „Diese verdammte, störrische Ziege. Sie ist ja ein schönes Tier, aber sie ruiniert mir meine Nerven wirklich“, klagte er überaus theatralisch.
Es geschah noch ein bis zwei Mal, dass Mitzi sich absetzte, und es gab ein langes Hin und Her mit Sandu. Meine Eltern mussten ihn mit Speck und Eiern bestechen, damit er Mitzi weiterhin mitnahm.
„Herr“, sagte er zu meinem Vater, „so ein Tier ist mir noch nie untergekommen. Warum schlachtest du es nicht? Tu es, und kauf dir ein anderes.“ Ein pragmatischer Mensch, um nicht zu sagen eine faule, gefühllose Socke. Bei uns kam dieser Vorschlag sehr schlecht an, und ab dem Tag war Sandu für uns ein rotes Tuch. Keiner aus der Familie wollte Mitzi mehr entbehren. Zu Hause war sie das liebste und anhänglichste Tier überhaupt.
Nun kam die Zeit, da sie trächtig wurde. Ihr Bauch wuchs zusehends und man merkte, dass es ihr immer schwerer fiel, mit den anderen Ziegen morgens Schritt zu halten beim Gang auf die Weide.
Sie wurde ruhiger, die verspielte junge Mitzi hatte sich in eine schwerfällige und sehr anhängliche, sehr erwachsene Ziege verwandelt.
Eines Tages um die Mittagszeit stand Mitzi vor unserem Tor und meckerte laut. Sie bat um Einlass. Gott sei Dank war unsere Großmutter zu Hause. Sie ließ sie in den Hof, fragte sie, was los sei, Mitzi antwortete mit aufgeregtem Gemeckere und lief, so schnell ihr dicker Bauch es ihr erlaubte, geradewegs in den Stall und legte sich mit einem zufriedenen Schnaufen aufs Stroh in ihre Ecke.
Sie war in Sicherheit, sie war zu Hause.
Hier brachte sie in der nächsten Stunde, assistiert von unserer Großmutter, zwei süße Zicklein zur Welt. Sie kämpfte sich ab, wie das bei einer Geburt wohl so ist, und bat mit Blicken und leisem Meckern Großmutter immer wieder um Hilfe. Großmutter schilderte uns später alles ganz genau.
Sie streute frisches Stroh unter die Tiere und wartete, bis die Zicklein die Zitzen der Mutter gefunden hatten.
Als wir nach der Schule in den Stall stürzten, bot sich uns dieses friedliche Bild einer Ziegenmutter mit just geborenen tapsigen Zicklein im duftenden Stroh. Wir streichelten unsere liebe Mitzi und lobten sie für ihre großartige Leistung und fassten die Kleinen behutsam und zögerlich an.
Diese kleinen zarten Wesen verunsicherten uns. Mitzi gab kaum hörbare Töne von sich, als ob sie von ihrem einzigartigen Erlebnis erzählen würde und uns auffordern wollte, uns mutig mit ihren Kindern bekannt zu machen.
Die folgenden Wochen waren für uns alle voller fröhlicher Leichtigkeit und erfüllt von Freude und Demut über das neue Leben. Mitzi musste nicht mehr auf die wenig geliebte Weide, sie kümmerte sich rührend und sichtlich stolz um ihren Nachwuchs, und wir Kinder erlebten viel Neues und auch Lustiges mit den heranwachsenden Zicklein. Sie tollten mit uns herum, versuchten die Hühner auf die sich zart andeutenden Hörner zu nehmen und knabberten an unseren Haaren, wenn wir in die Hocke gingen und sie uns mit den Vorderhufen auf den Rücken sprangen. Unser aller Alltag war voller Lebenslust.
Neben aller Unbeschwertheit ergab sich aber mit Mitzi wieder etwas, was keiner vorausgesehen hatte. Es war halt Mitzi. Sie blieb das störrische Tier, über das der Hirte sich immer so bitterlich beschwert hatte. Unsere Regeln waren nicht das, was sie zu befolgen gedachte.
Sie hatte ja jetzt Milch, und was die Zicklein nicht tranken, wollten wir natürlich haben. Dafür musste sie gemolken werden. Meine Mutter, die sich darauf verstand, holte also gegen Abend einen Melkeimer und einen Schemel, hieß Mitzi stehen bleiben, um sich an die Arbeit zu machen.
Mitzi fand dieses Unterfangen alles andere als gut und rannte in hohen Sprüngen davon. Wir halfen sie einzufangen, was sich als äußerst schwierig erwies. Sie war einfach flinker und wendiger als wir. Wir waren schon völlig außer Atem und wollten aufgeben, als wir sie dann doch mit einer List einfingen. Wir hielten ihr Futter hin und sie kam näher. Wir packten sie fest und das ganze Prozedere ging von vorne los. Mitzi trat jetzt mit den Hinterbeinen, warf den Eimer um, verletzte uns sogar und rannte weg. Es war nichts zu machen. Aber dabei bewenden lassen konnten wir es nicht.
Wir beratschlagten, die ganze Familie, wie vorzugehen sei, denn gemolken musste sie werden.
Sie hatte mehr Milch, als die Zicklein brauchten. Dann dachte sich mein Vater eine einfache Konstruktion aus. An einem aufrechten Balken in der Scheune wurde waagerecht ein Brett angebracht und an den Enden mit senkrechten Latten bis zur Erde befestigt. Dieses in der Länge und Höhe unserer Ziege.
Also wurde sie da hineingeschoben und ihre Vorder- und Hinterbeine jeweils angebunden. Sie wehrte sich zwar zuerst, konnte aber nicht entkommen, und als Mutter zu melken begann, war sie ruhig. Es war für sie letztendlich eine Erleichterung, die Milch loszuwerden. Diese Prozedur musste einige Male wiederholt werden, aber schon bald stellte sich Mitzi freiwillig in die Vorrichtung, sobald sie Mutter rief. Obwohl man sie nicht mehr festbinden musste, gelang das Melken nur an diesem Ort. Versuche an anderer Stelle scheiterten, indem sich Mitzi wehrte und zu besagter Vorrichtung ging.
Mit fehlt die Erinnerung an spätere Zeiten mit Mitzi. Aber wir lernten früh anzunehmen, dass die Haustiere da waren, um dem Menschen von Nutzen zu sein.
Was mir aber immer zu Herzen ging und geht, ist die enge Beziehung, die Nähe und Liebe, die zwischen unseren Tieren und uns herrschte, so auch zwischen unserer geliebten Mitzi und uns.
So kann man doch getrost sagen, dass unsere Haustiere ein würdevolles Leben führten.
Die „störrische“ Ziege Mitzi, die dem Hirten viele Nerven raubte, eher alle, wie er meinte, war sicher der Grund dafür, dass ich bis heute Ziegen mag.
Gehe ich an der Ziegenherde des Ökobauern bei uns in der Nähe vorbei, füttere ich sie regelmäßig und unterhalte mich mit ihnen. Wenn keiner zuhört, versteht sich.
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Schlagwörter: Erzählung, Erinnerungen, Literatur, Annermarie Roth
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