26. Oktober 2006

Anne-Sabine Pastiors letztes Gespräch mit ihrem Bruder Oskar Pastior

Oskar Pastior ist nicht verschwunden, er ist in uns. Seine Stimme liegt uns im innersten Ohr, seine Wortschöpfungen im Zwerchfell, sein Ernst in der Seele. Es ist nicht leicht, einen berühmten Bruder zu haben. Er gehört einem nicht mehr, ist irgendwie aus der Familie ausgegliedert. Oskar war vom Literaturbetrieb vereinnahmt. Was er ja auch so gewollt hat. Trotzdem… Am Rande stehst du…als Schwester, und versuchst seinen Verlust zu verarbeiten. Dieser „Rand“, der für Oskar so existenziell war: „Am Rande des Denkens, solange du denkst, liegst du in Sätzen, an Sätzen, noch kann dich keiner über den Rand verstoßen, den du nicht denkst, seltsam, du bist nur in Sätzen in Sicherheit, die dich wiegt, und nur in Sätzen in Freiheit. Aber in welcher.“ schrieb er 1979 im „Wechselbalg“.
Ich habe ein Leben lang versucht, mich dem so viel Älteren zu nähern, auf ihn einzugehen, ihn zu verstehen. Das Deportationstrauma hatte einen zwar herzlichen, aber im Grunde genommen eher verschlossenen, mir oft auch fremden Menschen aus ihm gemacht, der sich nur seiner einzig geliebten Heimat wirklich schenkte: der Sprache. Bis hin zur Absage an die eigene Identität. Wie oft in unseren Gesprächen hat er mir beteuert: „Ich mache die Sprache nicht, die Sprache macht mich!“ Mein letztes Telefongespräch mit Ossi am Tag vor seinem Tod wirft noch ein klitzekleines Licht auf seine Person. Wie so oft kamen wir schnell auf unsere Lieblingsthemen zu sprechen: Wie nehmen wir die Wirklichkeit wahr, welche Rolle spielt die Sprache darin, wie erfahren wir Sprachgebilde, wie Oskars Gedichte, wie beim Hören, wie beim Lesen? Wir waren uns einig, dass seine Lyrik nicht in erster Linie an den Verstand appelliert. „Aber auch nicht ans Psycho…“, sagte Ossi sofort sehr dezidiert. Von Gefühlen wollte er nichts hören oder wissen.

Wir einigten uns auf folgendes Bild: Wenn Oskar seine Texte las, entstand zwischen ihm und uns, seinen Hörern, ein Raum – ich nannte ihn energetisch; Ossi meinte, das klänge zu mystisch. Aber mit dem unsichtbaren Raum war er einverstanden. Wir skizzierten in Gedanken ein Dreieck (gleichschenklig oder gleichseitig?), jedenfalls ein Dreieck: hier der Autor, der liest (ein Ich), und dort der Hörer, der aufnimmt (ein Du). Als Drittes, über den beiden, entstehe ein Wir, das aber in sich nie feststehe. „Denn“, sagte Ossi sofort, „mein Wir ist nicht gleich dein Wir und sie ändern sich auch je nach Situation.“ Außerdem hängen an jedem Wir unzählige Lebensgeschichten, in die man, wie Oskar meinte, nur zufällig hineingeboren würde. Obwohl er etwas dagegen hatte, wenn ich von Fügung statt Zufall sprach, gab er doch zu: „Wir sind ja alle irgendwo auch Mystiker, jeder auf seine Art.“

Am 3. Oktober also, als ich ihn in Berlin anrief, bereitete sich Oskar gerade für die Buchmesse vor. Er war noch unschlüssig, was er an Material mitnehmen wollte und ungehalten darüber, dass er nicht vorher wissen konnte, was man ihn beim Interview (z. B. auf dem berühmten Blauen Sofa) fragen würde. Zwar war die Spannung dieses Frage- und Antwortspiels schon auch eine kreative Herausforderung, aber im letzten Halbjahr fühlte er sich ziemlich gestresst durch die erhöhte Aufmerksamkeit der Medien. Dazu kam also auf der Buchmesse die Voraussicht auf jenes Blaue Sofa, in das er sich beim Interview hinein sinken lassen musste, um dann aus der Tiefe eines fast doppelt gefalteten Körpers sinnige Antworten zu produzieren. Das mochte er ganz und gar nicht. Und schon gar nicht, wenn er vom Blauen Sofa aus seine Gedichte lesen musste. Darum, sagte er, erbäte er sich ja auch bei jeder Lesung einen harten, gerade geformten Stuhl. Der erlaube ihm, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch ganz wörtlich „über“ seinen Texten zu stehen, wenn er sie deklamierte.

Als ich ihn später nochmals anrief, hatte er sich (am hellen Vormittag!) ein wenig hingelegt – ganz unüblich für ihn. Er war müde vom Medienrummel. Aber das Blaue Sofa ließ ihn nicht los. „Ich suche Wörter“, sagte er, „die mit -SO enden und andere, die mit FA- beginnen. Aus denen wollte er scheinbar etwas zusammenbrauen. Um das Sofa auf seine Art zu beschwören? Er erwähnte das Wort al-SO (nein, nicht „… sprach Zarathustra…“) und dahinter musste dann etwa FA-rce oder –kir kommen, oder so ähnlich. Ich schlug zum Spaß vor, dass das zweite Wort ja auch mit Ph- beginnen könne. „Ja, So-pha, mit Ph“, sagte Ossi ganz träumerisch – vielleicht sah er ja schon ganze Reihen von Fremdwörtern vorbei ziehen, die ihm zuwinkten. Oder die halbe Tonleiter Pha-Sol-La-Si-Do? Beim Abschied seufzte er noch ein wenig. Es wäre viel einfacher, wenn man als Person über diesen Interview-Periklen stehen könnte. Schließlich wünschte ich ihm gute Ruhe. Nun bekommt dieses Gespräch, das sonst eines von vielen – für mich übrigens immer sehr wichtigen - Gesprächen mit Oskar gewesen wäre, nun bekommt es also diese extra Bedeutung als letztes Gespräch. Das Dreieck zwischen ihm und mir hatte ein letztes Wir bekommen.

Wenn Sprache Oskars Sein ausmachte, dann stimmt es auch vielleicht für uns Hörer, fortan Leser, was er an anderer Stelle schrieb: „DAS Gedicht gibt es nicht. Es gibt immer nur DIES Gedicht, das dich gerade liest.“ Gerade diese Umkehrung von Ursache und Wirkung, von Subjekt und Objekt, machte Oskars Begründungen so unwiderstehlich für mich. Auch im ganz normalen, täglichen Gespräch konnte er es nicht lassen. Er war der Sprache mit Haut und Haar ausgeliefert. Daraus rettete er sich, wie ich meine, indem er ihr neue Gestaltungen gab. Und wurde dann von diesen wiederum beschlagnahmt. Was zu neuen Wortrettungsversuchen führte. Und unterdessen entstand ein geniales Oeuvre. Man könnte diese Winkelzüge Teufelskreise nennen, hätten sie nicht die Form einer schöpferischen Spirale nach oben, die Oskar immer wieder gern als Gaukler auf die Spitze trieb. Dieser ihn selbst zwingenden und gleichzeitig ihm Halt gebenden Formkraft wegen habe ich ihn vor allem geliebt. Eine solche Liebe hat er sich gefallen lassen. Eine andere – als Schwester – nicht so leicht. Jetzt ist Oskar in Sicherheit und in Freiheit. Jetzt ist er hinübergegangen. Über jenen geheimnisvollen Rand, von dem er einmal sagte: „Der Rand, der uns trennt, verbindet uns gleichzeitig.“ Ist der Rand zwischen Schatten und Licht nun deiner oder meiner, Ossi? Du bist, wo ich nicht bin. Und ein gemeinsames Wir gibt es, wie früher, nicht mehr. Adieu.

Anne-Sabine Pastior


Schlagwörter: Oskar Pastior, Erinnerungen, Nachruf

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