13. Oktober 2008

"Bruckner, Gestalten und Archetypen seiner Musik"

Als letzte Buchpublikation im Gehann-Musik-Verlag vor dem Ableben des Inhabers, des Orga­nisten, Dirigenten, Komponisten, Organisators und Verlegers Horst Gehann, erschien im vorigen Jahr eine analytische Monographie von Rudolf Franz Reschika über das Werk Anton Bruck­ners (1824-1896). Es ist unter weltweit rund 100 Arbeiten über Bruckners Œuvre die jüngste Veröffentlichung zum Werk des großen österreichischen Komponisten
Das Werk Bruckners, so gering es an Umfang im Vergleich zum Werk anderer großer Meister der Tonkunst sein mag, gibt für musikanalytische, geistige, religiöse, emotionale, psychologische, hermeneutische, esoterische und rezeptionsästhetische Auslotungen, Deutungen und Darlegungen immer noch Stoff genug her, ja es scheint unerschöpflich zu sein.

Dennoch muss ein Musikwissenschaftler oder Musikschriftsteller über ein gewisses Maß an Mut, Mitteilungsvermögen und werkanalytischer Befähigung und Kompetenz verfügen sowie eine unmissverständliche Berufung spüren, um einen Beitrag zu diesem immensen Themenkreis zu leisten oder gar Neues, Unbekanntes mitzuteilen, das zu erkennen, er das Glück gehabt hat.

In diese glückliche Konstellation ist Rudolf Reschika zu stellen. Seine Arbeit vermittelt Ein­sichten und Erkenntnisse, die noch nicht oder zumindest nicht in dieser Deutlichkeit und Ein­dringlichkeit artikuliert wurden. Das Buch muss Resultat einer jahrzehntelangen wahlverwandtschaftlichen Hinwendung und Beschäftigung mit Bruckner und seinem Werk sein.

Zwar wendet sich Reschika, wie der Untertitel des einfach „Bruckner“ betitelten Buchs, nämlich „Gestalten und Archetypen seiner Musik“ zu bedenken geben will, einem begrenzten Fragen­komplex zu, doch beleuchtet er in umfassender Herangehensweise, direkt oder indirekt, den ganzen Kosmos der Musik Bruckners. Reschika zieht alle Register der Analyse und des Eindrin­gens in die Substanz und die Eigenheiten dieser Musik, berücksichtigt akribisch, detailliert und fundiert Parameter der musikalischen Konzep­tion und Darstellungsweise, untersucht Aus­drucksgestalten, -charaktere und -werte der Musik Bruckners, ihren Reichtum an Ideen, durchdringt schöpferische, strukturelle, formgebende, stilistische und philologische Fragen, nennt die geistigen Grundlagen, behandelt theo­logische, metaphysische und spirituelle Aspekte, wobei er immer wiederkehrend auf das bei Bruckner so ausgeprägte Numinose in besonderer Weise eingeht, erörtert semantische und symbolische Eigenschaften, dringt in tiefenpsychologische Bereiche vor, die sich bei Bruckner dringend anbieten, zieht charakterologische und sogar graphologische Untersuchungen heran, kurz: Er zeigt auf, um es frei nach Goethe zu sagen, „was die Welt“ der Symphonien Bruck­ners „im Innersten zusammen hält“.

Bei all dem bewegt sich Reschika nicht im isolierten Raum eines Wolkenkuckucksheims, sondern er umgibt seine Gedanken und Darstellun­gen mit kultur-, kunst- und literaturgeschichtlicher, ästhetischer, philosophischer und den Fall Bruckner thematisierender Literatur, um sie zu zitieren und zu kommentieren, um seine Gedan­ken zu bestätigen oder zu ergänzen. Überdies stellt er Bruckner in die historische Entwicklung und in einen allgemeinen Zusammenhang, arbeitet mit vergleichenden Methoden, streift musikästhetische Einzelthemen, berührt einige seit der griechischen Antike lebendig gebliebene Elemente und geht bis in den Bereich der Archetypen zurück.

Reschikas Buch hilft uns erkennen, dass Bruckner in vielerlei Hinsicht als großer, in die Zukunft weisender Neuerer und Weiterführen­der zu sehen ist, keinesfalls als Rückwärtsge­wandter, als der er oft apostrophiert wird, auch wenn seine Wurzeln in der Tradition, der Mystik und der Urwesenheiten liegen. Er war ein Un­zeitgemäßer, der Überzeitliches geschaffen hat. Wir sehen in seiner Musik eine in höchster geistig-seelischer Verdichtung und gleichzeitig in der Realität stehende philosophische und religiö­se Kunst, die aber rein musikalisch von jedem aufgeschlossenen Menschen zu empfangen ist. Gleichzeitig werden wir gewahr, wie wichtig das analytische Verstehen, Deuten, Erklären und Beschreiben ist.

Etwa den vierten Teil von Reschikas Buch neh­men Notenbeispiele ein, denen auch eine „Liste der Notenbeispiele“ vorangestellt ist. So kann der Leser viele Erörterungen nachvollziehen und prüfen. Natürlich muss man die Werke Bruck­ners auch im Konzert oder in Aufnahmen hören.

Da im Text relativ viele Fachausdrücke und spezifische Fremdwörter verwendet werden, und da dieses Buch nicht nur von Musikwissenschaft­lern und Musikern gelesen werden soll, hat der Autor ein „Glossar“ angefügt, in dem diese Be­griffe erklärt werden. Das Buch verfügt außerdem über ein Literaturverzeichnis, ein Namen- und ein Sachregister. Jedem Kapitel ist ein ausführliches Quellenverzeichnis angeschlossen.

Der Musiker Reschika, der uns hier als Musik­wissenschaftler beeindruckt, wurde 1929 in Zei­den (Codlea) in Siebenbür­gen/Rumänien geboren. Er studierte Musikpäda­gogik, Horn und Dirigieren an der Staatlichen Musikhochschule in Klausenburg (Cluj). Seine ungewöhnliche diri­gentische Begabung konnte nicht zur Entfaltung gelangen, da er sieben Jahre – wie andere rumä­nische und deutsche Studenten, Intellektuelle, Geistliche, Schriftsteller und Musiker – in menschenverachtender politischer Haft und in mörderischen kommunistischen Zwangs- und Ar­beitslagern verbringen musste. Danach war er als Orchestermusiker, Solist und Musikpädagoge in Kronstadt tätig. Nach seiner Aussiedlung 1970 in die Bundesrepublik Deutschland nahm er ein ergänzendes Studium in Freiburg i.Br. auf. Seine Tätigkeitsbereiche waren sodann Schulmusik, Dirigieren, Publizistik und Musikwissenschaft.

Karl Teutsch

Rudolf Franz Reschika, Bruckner, Gestalten und Archetypen seiner Musik, Kludenbach: Gehann-Musik-Verlag 2007, 352 Seiten, ISBN 3-927293-30-X, Internet: www.g-m-v.de.

Schlagwörter: Rezension, Musikgeschichte

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