19. November 2009

Hellmut Seiler über Herta Müller: „... wo du (vorläufig) angekommen bist“

Mit manchen Menschen sind flüchtige Begegnungen gar nicht möglich; seien sie auch noch so kurz, so sind sie doch nie oberflächlich, bleiben nachhaltig im Gedächtnis haften. Meine Be­kannt­schaft mit Herta Müller ist von dieser Art. Begegnet ist sie mir zuerst in Textform; in der Mai-Nummer 1979 der Neuen Literatur las ich ganz ungewöhnliche Texte einer mir bis dahin unbekannten Autorin, eine auffallend persönlich geprägte Prosa, ein unverwechselbarer Ton.
Kennengelernt haben wir einander 1980 in Temeswar, im Rahmen des „Adam-Müller-Gut­tenbrunn“-Literaturkreises (AMG), dessen Mit­glied ich geworden war, anlässlich einer Lesung von mir ebenda. Von den deutschsprachigen Li­teraturkreisen in Rumänien – es gab deren auch in Klausenburg, Kronstadt, Bukarest je einen, den der Germanistik-Fakultät in Hermannstadt habe ich selber von 1972-76 geleitet – war der AMG sicherlich der lebhafteste, der mit den meisten Mitgliedern, darüber hinaus der einzige, der einen Beitrag erhob und aufgrund dessen Preise auslobte. Auch derjenige, der der Staats­macht der spitzeste Dorn im Auge war und über den der Geheimdienst daher intensiv wachte. Die Diskussionen in den Redaktionsräumen der Neuen Banater Zeitung wurden privat fortgesetzt, die halbe Nacht hindurch in der Wohnung (Richard) Wagner / (Herta) Müller.

Zugegen waren die Mitglieder der vormaligen „Aktionsgruppe“ Johann Lippet, William Totok, Horst Samson, Helmut Frauendorfer, auch Roland Kirsch, den die Securitate auf dem nicht existenten Gewissen hat. Es ging in erster Linie um literarische Belange, die (häufig von den Ver­lagen aufgeschobenen) Bucherscheinungen des einen oder anderen, die neuesten Entwicklungen in der DDR und in Westdeutschland, das nächste Themenheft der Zeitschrift Neue Literatur etc. Es ging auch darum, wer welche Bücher/Litera­turzeitschriften auf verschlungenen Wegen gera­de erhalten hatte; wir waren als eingeschworene Gemeinschaft durch intensiven Austausch ziemlich auf dem Laufenden mit den Neuerscheinun­gen. Es war nicht nur Beflissenheit, unser Welt­bild war literaturzentrisch, aber unter Einbezie­hung der Ver­hältnisse, wir verstanden uns als politische Literaten, wir wollten uns aber dort artikulieren und etwas verändern, keiner von uns trug sich (noch) mit Auswanderungsabsich­ten. An Hertas Wortmeldungen erinnere ich mich als nüchterne, sachliche Einlassungen, auch von dunklem Humor geprägt. In der lebhaften Runde war sie eher zurückhaltend.

In den „Maifeiertagen“ 1981 hatte ich Herta und (ihren damaligen Freund) Richard in Neu­markt/Târgu-Mureș bei mir zu Gast. An allen Häuserfronten knatterten die Fahnen, das Aus­hängen war vorgeschrieben. Ein Foto, auf der Straße geschossen, das sie beide zeigt, habe ich (auf der Rückseite) „unter wehenden Fahnen sich weigern unterzugehen“ beschriftet. Auch W. Totok sowie der damalige BRD-Gastlektor an der Germanistik-Fakultät in Temeswar, Thomas Krefeld, waren mit von der Partie. Es waren ent­spannte Tage, aufgelockert durch Augenblicke der Ausgelassenheit. Wir waren halb so alt wie jetzt, gingen aus, genossen das Wetter und die schönen Seiten jener Stadt. Und doch drehten sich unsere Gespräche auch um die Frage des Misstrauens den Worten der Freunde gegenüber. Ein profund literarisches Thema – in Zei­ten der Diktatur.

Eingehend beschäftigt habe ich mit ihrem Debütband „Niederungen“ (1982), dem ausgemacht wichtigsten rumäniendeutschen Belletris­tiktitel jenes Jahres. Dazu schrieb ich als einer der ersten eine ausführliche Rezension für die Kar­paten-Rundschau (erschienen am 12. November 1982), in der ich der Autorin eine „vorurteilsfreie Aufgeschlossenheit und eine Unbestechlichkeit“ bescheinigte, „die in unseren literarischen Brei­ten ihresgleichen suchen“. Deutlich gehe aus ihren Prosaarbeiten „die Weigerung hervor, den öden Utilitarismus, der die Welt verwüstet, für eine Erscheinungsform menschlicher Vernunft zu halten.“ Anlässlich eines späteren Besuchs von mir in Temeswar zeigte sie sich sehr angetan von meinen Erkenntnissen zu dem Band.

Obwohl ich weiterhin im „Adam-Müller-Gut­tenbrunn“ las und 1984 zusammen mit Joachim Wittstock den gleichnamigen Literaturpreis er­hielt, ergab sich keine Gelegenheit zu persönlicher Begegnung. Das lag daran, dass ab Novem­ber 1983 einige Gründungsmitglieder, u. a. Ri­chard Wagner und Herta Müller (aus Gründen, die Wagner in den Spiegelungen, 3/2009, ausführlich erläutert), ausgetreten waren. Im Februar 1987 ging sie nach Deutschland, und feierte hier die bekannten Erfolge. Da meinem Ausreiseantrag damals schon im dritten Jahr nicht stattgegeben worden war, bat ich einen (binnendeutschen) Freund aus dem Allgäu, Herta bei einer Lesung zu fragen, was sie mir denn raten würde zu unternehmen. Ich müsse selber aktiv werden, in die Offensive gehen, ließ sie mich wissen. Daraufhin verfasste ich einen Offenen Brief an den Innenminister Postelnicu, in dem ich meine un­haltbare Lage als einer beschrieb, der Berufs- und Publikationsverbot hatte und der keine Mög­lichkeit mehr sah, dort weiter zu leben. Dank des guten Verstecks im Gepäck eines weiteren Freundes wurde dieser am 12. Februar 1988 von Radio Europa Liberă, dann auch von der Deut­schen Welle (auf Rumänisch) und der BBC gesen­det. Tags darauf erhielt ich die Genehmigung der Regierungskommission für Visa- und Pass­angelegenheiten. Hertas Rat hatte gewirkt.

Wiedergesehen haben wir einander am 15. März 2005 im Stuttgarter Literaturhaus, als sie (gemeinsam mit Oskar Pastior und Ernest Wich­ner) die Ergebnisse einer Spuren­suche in der Ukraine, „Vom Hungerengel eins, zwei, drei“, vorstellte. Die Widmung in ihrem „Herztier“, das ich ihr vorlegte, lautet: „Für Hellmut, schön, dich zu sehen“ und das Datum. Wir wechselten einige Worte privaten, biografischen Inhalts, viel Zeit hatten wir nicht. Es standen noch einige an um eine Signatur. Anschließend ging es für sie gleich weiter, an den nächsten Leseort. Gelesen haben wir beim Tübinger Bücherfest im Juni 2007 unmittelbar nacheinander im sogenannten Lesezelt. Da waren ihre Gedichtcollagen gerade erschienen. Wie jedes Mal bei einer Begegnung mit ihr fiel mir auch damals ein zusammengenommenes Angestrengtsein, eine Konzentration auf die Sache auf, die nach außen nie angestrengt wirkt, aber Distanz schafft. Auch im September des gleichen Jahres, als wir im Bun­deskanzleramt (auf Einladung des Kulturstaats­ministers Neumann) zu Gast waren und sie einen (eigens verfertigten) Text vorlas, stach sie mir wieder ins Auge: ihre intensive innere Samm­lung, ihr obsessives Befasstsein mit „ihrem The­ma“ – die Beschädigung, die der Einzelne durch die verdinglichten Verhältnisse erfährt. Und auch jetzt, bei der Bekanntgabe der Verleihung der größten literarischen Auszeichnung überhaupt, konnte jeder erkennen, dass der Rummel um ihre Person ihr im Grunde lästig ist, schließlich geht es ja um ihr Werk. Daraus ergeben sich ihre Ungeziertheit, das vollständige Fehlen von Hochmut sowie von wie auch immer gearteten „Starallüren“. Damit korrespondiert – auch im privaten Umgang – die Absage an jede hemdsärmelige Leutseligkeit oder schulterklopfende Kumpanei. Das verleiht ihr einen Hauch von Unnahbarkeit. Und diese macht ihr Erschei­nungsbild in der Öffentlichkeit so wohltuend modefern und anachronistisch.

„Für Herta, schön, dich da zu sehen, wo du (vorläufig) angekommen bist.“ (1. November 2009.)

Hellmut Seiler

Schlagwörter: Herta Müller, Seiler, Schriftsteller

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