31. Dezember 2021

Durchdrungen von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit“: Zum 150-jährigen Bestehen des Vereins der Siebenbürger Sachsen in der Steiermark

Der Verein der Siebenbürger Sachsen in der Steiermark begeht heuer gemeinsam mit dem Wiener Verein sein 150-jähriges Gründungsjubiläum. Wenn ein Zusammenschluss von Personen 150 Jahre überdauert, so kann man durchaus von einer Sensation sprechen. Und diese Sensation wird umso größer, je genauer man sich die Geschichte dieses Vereins ansieht.
Am 19. Juni 1871 richtete Franz Pildner, Student an der juridischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität, folgenden Antrag an die kaiserlich-königliche Statthalterei in Graz: „Durchdrungen von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit und dem Drange nach weiterer Ausbildung, haben sich mehrere in Graz anwesende Siebenbürger Deutsche – Studierende, Kaufleute, Professionisten – zusammengethan, um einen Verein zu gründen, dessen Hauptzweck in der Concentrierung des Siebenbürgisch deutschen Elementes in Graz und die Pflege der heimischen Interessen, soweit es diesem Verein möglich ist, besteht.“

Dieser Antrag fiel in eine politisch bewegte Zeit. Vier Jahre zuvor konnte der Zerfall der Donaumonarchie durch den Ausgleich mit Ungarn noch abgewendet werden. Siebenbürgen, das zum ungarischen Teil der Doppelmonarchie gehörte, erlebte in der Folge die Auswirkungen einer konsequenten Magyarisierungspolitik, was im Gegenzug das Erstarken eines siebenbürgisch-sächsischen Identitätsbewusstseins bewirkte. Damals kursierte die erste Auflage der Gedichte Viktor Kästners, die sein Vater 1862 – fünf Jahre nach dem Tod des Dichters – in Druck gegeben hatte. Kästner, ein von der Revolution 1848 und deren Folgen zutiefst enttäuschter Erneuerer, machte sich in ihnen zum Anwalt siebenbürgisch-sächsischer Sprache und kultureller Eigenart. An die ungarische Obrigkeit stellte er die literarische Frage: „Wä? ich sil net sachsesch rieden, sachsesch dinken, sachsesch bieden?“ In diesem Gedicht beschwört er ein siebenbürgisches Selbstbewusstsein, das auf Sprache und Glauben basiert und das sich trotzig den staatlichen Assimilierungsverordnungen widersetzt. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Siebenbürger Sachsen zu dieser Zeit auch außerhalb Siebenbürgens – wie in den Universitätsstädten Graz und Wien, wo dies im gleichen Jahr 1871 geschah – zusammenschlossen und durch Vereinsgründungen diesem siebenbürgischen Selbstbewusstsein Ausdruck verliehen. Die Gründung des „Vereins der Siebenbürger Deutschen in Graz“ wurde seitens der Statthalterei bewilligt und am 7. Juli 1871 unter der Aktenzahl 7310/1871 in die Registratur eingetragen.

Natürlich lebten auch schon vor 1871 Siebenbürger in Graz und sie standen auch in Kontakt mit ihrer Heimat. Obwohl das Verhältnis zwischen dem Kaiserreich und den Siebenbürger Sachsen nicht immer ungetrübt war, zog es diese regelmäßig als Studenten, Händler oder Arbeiter in die deutschen Städte der Monarchie. Auch nach der Vereinsgründung kamen und gingen sie. Manche blieben und wurden – „durchdrungen von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit“ – Mitglieder des Vereins oder der zwischen 1894 und 1902 lebendigen Hochschülerschaft „Saxonia“.

Mit dieser im Gründungsantrag formulierten Emotion hatte Franz Pildner ein Motto vorgegeben, das für eineinhalb Jahrhunderte Gültigkeit haben sollte. Es half dem Verein, Krisen zu bewältigen und Rückschläge zu überwinden. Der Erste Weltkrieg, der Untergang des Habsburgerreiches, der Zweite Weltkrieg, die Teilung Europas – immer wieder waren Neuanfänge nötig, bei denen es galt, sich selbstlos für die Sache und für den Verein zu engagieren. Besonders schwer war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Eiserne Vorhang hinderte viele Siebenbürger und Siebenbürgerinnen an der Rückkehr in die Heimat. Sie ließen sich in Österreich nieder und bauten eine neue Existenz auf. Doch dieses Unterfangen stieß auf große Schwierigkeiten. Österreich war in alliierte Besatzungszonen aufgeteilt, es herrschte bitterste Not, die Bürokratien blockierten einander wechselseitig und die Gruppe der Volksdeutschen wurde von den Besatzungsbehörden automatisch mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt.

Die Nachkriegsgeschichte des Vereins der Siebenbürger Sachsen in der Steiermark lässt sich grob in drei Phasen gliedern. Die erste – die von der Neugründung nach dem Krieg bis Mitte der 1960er Jahre dauerte – war der Integration in die Neue Heimat gewidmet. Graz und die Steiermark lagen etwas abseits des Hauptweges der Flüchtlinge und Vertriebenen, daher kam es nicht zur Einwanderung größerer Gruppen oder zur Ansiedlung geschlossener siebenbürgischer Gemeinschaften. Diejenigen, die kamen, waren Arbeitssuchende, entlassenen Kriegsgefangene oder junge Menschen auf der Suche nach Ausbildung oder Studium. Das brachte dem Verein neue Mitglieder, aber auch neue Herausforderungen. Die Heimatvertriebenen brauchten dringend Unterstützung bei dem Aufbau ihrer neuen Existenzen, bei der Wohnraumbeschaffung, bei der Arbeitsplatzsuche. Unter dem Vorsitz des weithin anerkannten Historikers Dr. Hans Otto Göllner half der Verein, so gut er konnte. Neben den kulturellen und geistigen Belangen widmete er sich nun verstärkt den sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Siebenbürger, war bei der Eingliederung in die steirische Gesellschaft behilflich und kümmerte sich um die Entschädigungsansprüche der Heimatvertriebenen. Er begann mit seiner Arbeit in Graz, dehnte sein Aufgabengebiet aber bald auf die ganze Steiermark aus. Dieser unermüdlichen Unterstützungsarbeit ist es zu verdanken, dass die Integration der Siebenbürger in der Steiermark zu einer Erfolgsgeschichte wurde, dass sie eine neue Heimat fanden, die ihnen schnell vertraut wurde. Die Folgen eines schweren Autounfalls machten 1963 eine weitere Vorsitzführung für Hans Otto Göllner unmöglich, und Direktor Friedrich Flechtenmacher übernahm die Führung des Vereins. Die kommenden zwanzig Jahre bildeten den bedeutendsten Abschnitt der Vereinsgeschichte. Adventfeiern, Holzfleischausflüge, Kulturveranstaltungen, Faschingskränzchen, Stammtische und Familienabende förderten den Zusammenhalt. Es gab regelmäßige Kontakte zu den Siebenbürgern in Kanada und in den USA und Prof. Gerhard Martin leitete lange Jahre den Chor der Siebenbürger Sachsen in Graz. 1968 wurde der Liederabend „Siebenbürgen, wo bist du?“ mit Gerhard Martin, Kurt Galter und Friedrich Flechtenmacher im ORF übertragen.

Die 70er und 80er Jahre, die mit der Ära des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu in Rumänien zusammenfielen, waren durch Hilfsmaßnahmen für die durch Unterdrückung und Misswirtschaft notleidende siebenbürgische Bevölkerung in Rumänien geprägt. Der Verein in Graz organisierte Hochwasserhilfen, Ferienlager und Paketaktionen. Er unterstützte politische Interventionen und half bei Familienzusammenführungen. Die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit der Stadt Graz schlug sich unter anderem in der groß angelegten 100-Jahr-Feier 1971 und in der Ausstellung über Hermannstadt 1979 nieder.

Nach dem Tod Friedrich Flechtenmachers übernahm Prof. Dr. Kurt Galter für fünf Jahre die Leitung des Vereins und führte – neben seinen Aufgaben als Kulturreferent der Siebenbürger Sachsen in Österreich – das Werk Flechtenmachers fort.

Die rumänische Revolution von 1989 und die Öffnung der Grenzen in den Westen bewirkten einen zweiten Exodus der Rumäniendeutschen. Im Gegensatz zu Wien, Oberösterreich und Salzburg lag Graz erneut abseits der Migrationsroute. Dadurch kam es nicht zu dem Zuzug aus Siebenbürgen, den die Regionen des Donautals verzeichnen konnten. Im Gegenteil, die Altersstruktur des Vereins führte zu einem langsamen, aber steten Rückgang der Mitgliederzahlen. Die siebenbürgischen Familien in Graz sind seit geraumer Zeit fest etabliert. Hilfsaktionen erweisen sich als nicht mehr notwendig oder haben sich auf andere institutionelle Ebenen verlagert. Reinhold Martini und Kerstin Simon versuchten in der Folge, das Vereinsleben so gut es ging aufrecht zu erhalten und das siebenbürgische Erbe zu bewahren und weiterzugeben. 2017 – in einer schwierigen Zeit, in der der Verein knapp vor der Auflösung stand – übernahm Mag. Ludwig Niestelberger die Leitung und versucht seither, den Verein in kleinen Schritten wieder in Gang zu bringen. Kein leichtes Unterfangen in Zeiten von Corona.

Mittlerweile ist die dritte Generation herangewachsen, und das ist – wie uns die Migrationsforschung lehrt – eine kritische Situation. Für unsere Eltern gab es keine Zweifel, ihre Heimat war Siebenbürgen, obwohl sie politisch korrekt von „Alter und Neuer Heimat“ sprachen. Für uns, die legendäre im Lande geborene „zweite Generation“, ist es ein Pendeln zwischen dem Hier und dem Dort, für das die französische Sprache den Begriff mettisage, „Zwischenraum“, geprägt hat. Für unsere Kinder ist es wieder eindeutig. Sie sind Österreicher und Siebenbürgen ist für sie oft nicht mehr als eine schöne Reiseerinnerung. Das transkulturelle Umfeld, in dem sie aufwachsen, ermöglicht es ihnen, ihre Lebenskultur individuell zu gestalten. Es liegt an uns, den Alltag unserer Familien mit Elementen zu füllen, die Teil der siebenbürgisch-sächsischen Kultur sind. Beispiele dafür gibt es genug: vom familiären Brauchtum über Kochrezepte bis hin zu Erzählungen, Bildern und Musik. Als gelebtes Kulturgut können sie Eingang in individuelle Familienkulturen finden und weitertradiert werden.

Damit sind wir an den Anfang zurückgekehrt. Denn die Situation, in der der Verein der Siebenbürger-Sachsen vor 150 Jahren in Graz gegründet wurde, war eine ähnliche. Der Gründungsgedanke war ein „Gefühl der Zusammengehörigkeit“. Es war keine Frage der gemeinsam verbrachten Zeit, des Mitgliederstandes oder der Anzahl der Aktivitäten. Es war ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Und das ist es bis heute geblieben.

Dr. Hannes Galter




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Schlagwörter: Österreich, Steiermark, Verein, Jubiläum, Geschichte, Graz, Auswanderung, Siebenbürgen, Flechtenmacher, Galter

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