11. März 2005

Siebenbürger in Österreich: "Die erfahrene Gnade macht sie großzügig und hilfsbereit"

Eine Bilanz der 60-jährigen Eingliederung der Siebenbürger Sachsen in Österreich zieht Pfarrer Mag. Volker Petri, Bundesobmann der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Österreich. In eindringlichen Bildern zeichnet er die Flucht und Evakuierung im Herbst 1944 und die anfängliche Hoffnungslosigkeit in der Fremde. Ihr Fleiß, ihre Zuverlässigkeit, ihr Gemeinschaftssinn, Zusammenhalt und Glaubenstreue wirkten Wunder. So wuchs der Segen Gottes in der Stille der schweren Jahre. Heute sind die Siebenbürger Sachsen fest verwurzelt in ihrer neuen Heimat und bauen aus der erfahrenen Gnade heraus Brücken der Verständigung nach Siebenbürgen. Ihre persönliche Hilfe von Mensch zu Mensch, aus Österreich nach Siebenbürgen, ist beispielgebend für ein zusammenwachsendes Europa.
Bilder unserer Geschichte werden gegenwärtig. Vor mehr als 60 Jahren, im Herbst 1944, mussten auch unsere Siebenbürger Sachsen, von der Not gedrungen, von der siegreichen Roten Armee bedroht und von der Angst gezeichnet, aus der Heimat in die Fremde aufbrechen.

Die Trauer und Schwermut des Abschiedes lag wie ein kalter Stein auf ihren Herzen. Die Kriegspropaganda vom Sieg und Tausendjährigen Reich weckte nur noch in wenigen Köpfen jenes Irrlicht unbegreiflicher Hoffnung. Der dumpfe Klang der immer wieder rufenden Totenglocken für die Gefallenen, die Ungewissheit über die Vermissten und an der Front Kämpfenden erstickte die einst hohe Lohe der Begeisterung für das „Reich“. Die fühlbare Unruhe der Verantwortlichen zeigte an, dass die Flucht eingeleitet werden musste, eine Flucht ohne Wiederkehr.

Die Siebenbürger Sachsen haben sich in sechzig Jahren vorbildlich in Österreich eingegliedert. Am 30. Mai 1958 wird die Siedlung Elixhausen-Sachsenheim im Salzburger Flachgau eingeweiht. Bei der Feier werden rot-weiß-rote und blau-rote Fähnchen geschwenkt. Foto: Lutsch
Die Siebenbürger Sachsen haben sich in sechzig Jahren vorbildlich in Österreich eingegliedert. Am 30. Mai 1958 wird die Siedlung Elixhausen-Sachsenheim im Salzburger Flachgau eingeweiht. Bei der Feier werden rot-weiß-rote und blau-rote Fähnchen geschwenkt. Foto: Lutsch

Die anfallenden Herbstarbeiten und die hektischen Vorbereitungen konnten kaum von der Trauer, Schmerz und Wehmut ablenken. Finstere Gedanken und Ahnungen hielten Einzug in Häuser und Familien.

Gleich einem Fluch lastete von nun an das Wort „Flucht!“ auf ihnen, den Erdverbundenen, Heimatverwurzelten, seit acht Jahrhunderten mit Siebenbürgen zutieftst Verwachsenen.

Ihre verweinten Augen übersahen den goldenen Herbst, der sich als letzter siebenbürgischer Herbst unvergesslich einprägen sollte. Sie blickten verunsichert auf die mühevoll eingebrachte Ernte, den Segen der Gärten und Felder und fragten sich: „Segen für wen?“

Die Wagen wurden vorbereitet und mit Planen provisorisch überdeckt, die Vieh- oder Pferdegespanne gewählt und das Notwendige verstaut. Instinktiv und mit sicherer Hand legten sie die Festtrachten zusammen, die Bibeln und Gesangbücher, die Altargeräte, Kirchenbücher und die Wegzehrung. In Eile reihten sich die Wagen zu Trecks und verließen die Dörfer, die Städte, die Heimat. Ohnmächtig und wie ferngesteuert nahmen sie Abschied in der Kirche, und das Wort Gottes erhob sich im vertrauten Raum gleich einem schützenden Schild vor den unbekannten Gefahren und der Ungewissheit. Dann zogen sie an den geliebten Höfen und Häusern vorbei und waren dankbar, dass ein dichter Tränenschleier die Blicke verschwimmen ließ. Ein letzter wehmütiger Blick des Abschiedes folgte, als sie vorbei an den Häusern, ihrer Kirche, ihrem Dorf und ihren Äckern zogen, begleitet vom Klang der Heimatglocken. Die Landschaft wurde ihnen mit jedem Reisetag fremder. Mütter und Großmütter, alte Männer und Invaliden und vor allem Kinder waren es, die in jenem Herbst 1944 aufbrachen. Angstgetrieben taten sie erste Schritte ins Ungewisse. Die Notgemeinschaft trug den Einzelnen, ließ ihn nicht fallen in jene bedrohende Verlorenheit, in Depressionen oder ersehnten Wahnsinn. Ein unsichtbares Auffangnetz hatten sie gesponnen, welches durchwirkt war von den Fäden der Nächstenliebe, des Vertrauens und der Hoffnung. Ihr Zusammenhalt schenkte ihnen die Kraft in den sich auftuenden, unbekannten Weiten. In den dunkeln Nachthimmel, der ihnen so unbegreiflich fern und verschlossen schien, erhoben sich ihre bewegenden Gebete und Seufzer. Die unschuldigen Kindergebete waren heilige Gebete, denen sich Gott nicht verschloss.

Vorangepeitscht durch den näher rückenden Kanonendonner der Front und die todbringenden „Stalinorgeln“, konnten nur fast übermenschliche Gewaltmärsche im Dunkel der schützenden Nächte sie der nahenden Bedrohung entreißen. Auf unbekannten Wegen von kleinen Militäreskorten begleitet, führte sie der Weg durch Siebenbürgen. Über Behelfsbrücken überquerten sie die Theiß. Danach ging es durch die unendlichen, ungeschützten Weiten der ungarischen Puszta. Die Ebene verunsicherte sie, die in der Hügellandschaft und Nachbarschaft der heimatlichen Berge Aufgewachsenen. Gleich Pockennarben wurde ihr Weg von den kleinen Grabhügeln am Straßenrand gezeichnet. Dort mussten sie in Eile die verstorbenen Kinder und Säuglinge, die an Erschöpfung verblichenen Alten und immer wieder auch die im Kugelhagel der angreifenden Flugzeuge Getöteten beisetzen. Kein Verweilen an den Gräbern der Toten war ihnen vergönnt. Der Schmerz und die Trauer um den Verlust der Lieben begleiteten sie auf dem Weg in eine neue, unbekannte Zukunft. Auf vom Regen aufgeweichten Nebenwegen plagten sich Mensch und Vieh. Die kalten Herbstregen weichten die Planen der Wagen auf und das Wasser tropfte mitleidlos auf die Schlafenden und Übermüdeten. Herbststürme zerrten an den Kopftüchern der bleichen Frauen und wirbelten die farbigen, todnassen Blätter auf und trugen sie, so wie diese Unglücklichen, ins Ungewisse.

Sie waren damals unterwegs auf Straßen, die 230 Jahre früher in entgegengesetzter Richtung von den aus der Heimat vertriebenen evangelischen Transmigranten gegangen worden waren. Unbekannte österreichische Schicksals- und Leidgenossen aus längst vergangener Zeit auf ebenso trostlosen Wegen.

Die Essensreserven schmolzen viel zu früh dahin. Die Rationen wurden kleiner, denn der lange, anstrengende Fluchtweg verzehrte nicht nur die Stunden, Tage und Wochen, sondern auch die vorrätigen Speisen im Flug. Unendlich dankbar aßen sie, wenn die militärische Organisation im letzten Kriegsjahr wieder einmal klappte und für sie zubereitete Mahlzeiten auf den Wegetappen sie stärkten.

Das Weinen der hungrigen Kinder und das heisere Brüllen des Viehes veränderte unsere stolzen Frauen, einst Herrinnen der weit zurückgelassenen Häuser, Höfe und Güter. Sie, die einst stolzen Bäuerinnen, mussten um Brot und Milch für ihre Kinder betteln und Heu für die ausgelaugten Zugtiere organisieren, stehlen. Unbarmherzig war der Hunger in der trostlosen Fremde und er schmerzte.

Die Hilfsbereitschaft Einzelner auf diesem langen Treck wurde zu Balsam für die wundtraurigen Seelen, zu Lichtblicken in den dunkeln Tagen. Solche Menschenliebe, welche die Kriegsnot nicht ersticken konnte, wurde ihnen zum Hoffnungszeichen. Die verachtenden Blicke, lieblosen Worte und abschätzigen Bemerkungen konnten ihnen nichts anhaben und verloren sich bald im kalten Fluchtwind.

Endlich trafen sie in der ersehnten Ostmark, Österreich, bei ihren Volksgenossen ein. Die Not des Krieges hatte sich auch ins Antlitz dieser Menschen eingegraben. Tod, Leid und Schmerz waren auch hier tägliche Begleiter. Einige sahen in diesen Flüchtlingen gleich Kassandra Vorboten ihres eigenen, zukünftigen Elends. Not kann Menschlichkeit wecken, und viele Österreicher öffneten den auf ihre Höfe zugeteilten Fremden gerne ihre Häuser und einige auch ihre Herzen.

Not und Krieg können aber auch hart wie Stein machen. Einige im Lande ließen diese unerwünschten Flüchtlinge fühlen, dass sie nur gezwungenermaßen geduldet waren, als Zigeunervolk angesehen wurden und heimatlose, unerwünschte „Zugroaste“ waren.

Das letzte Kriegsjahr brachte einen letzten, eisigen Winter mit sich. In Schulklassen, auf Bauernhöfen und eilig in den Berg gegrabenen Erdhütten fanden sie eine vorläufige Bleibe. Militärische Disziplin schaffte das fast Unmögliche, ließ über eine Million Flüchtlinge in Österreich wohl kärglich, aber dennoch überleben. Die so lange fern und fremd klingende Weihnachtsbotschaft „Und sie fanden keinen Platz in der Herberge!“ erlebten sie nun zum ersten Mal am eigenen Leib. Ganz nahe empfanden sie die Armut des Christkindes im Stall von Bethlehem, und ganz hell und warm leuchtete der Weihnachtsstern am eisig-kalten Himmel, welcher ihre Gedanken in die verlassene Heimat und die zurückliegenden Feste trug.

Sie, die Heimatverbundenen, in Siebenbürgen Verwurzelten mussten im Vorhof des Provisoriums geduldig warten.

Als im Mai 1945 die Glocken der kriegsgeschundenen Welt endlich den ersehnten Frieden verkündeten und der Frühling die ersten milden Lüfte wehen ließ, waren sie überzeugt und hoffnungsfroh hinsichtlich ihrer Heimkehr. Man hatte überlebt, und die Freude und Dankbarkeit für Bewahrung und Gnade stellten die Schrecken des Krieges zurück. „Nun wird alles wieder gut, lautete die Botschaft der in Gedanken sich auf dem Heimweg Wähnenden.

Doch bald erstickten Hiobsbotschaften den zarten Keim der Hoffnung. Die Heimat hatte ihnen alle Rechte entrissen und die Rückkehr verwehrt. Zu dieser Kunde gesellte sich der unfassbare Schmerz über die gefallenen Männer und Söhne. Die Botschaft über die Vermissten löste eine tiefe Spannung zwischen Bangen und Hoffen aus. Die Kriegsgefangenschaft löschte weitere Leben in den Gefangenenlagern aus, denn Hunger, Krankheit, Schwäche und Seelennot waren erfolgreiche Totengräber.

Aus Heimatlosen und Flüchtlingen, jedoch Volksgenossen, wurden sie nach 1945 zu Rechtlosen, auf die Gnade der Sieger angewiesene Asylanten. Die alte Heimat Rumänien hatte den Stab über ihnen gebrochen, und so waren sie Staatenlose, Geduldete. So wurde die Fremde ihnen noch fremder. Die Heimat stand unter dem roten, sowjetischen Siegesstern und legte harte Fesseln des Stalinismus und Kommunismus an alle Zurückgebliebenen.

Sie baten, flehten um Aufnahme in Österreich. Ihre Ansuchen wurden in kühl-eisiger Sachlichkeit abgelehnt, Österreich hatte keinen Platz für sie. Ihr Flüchtlingslos klammerte sie, die nun Heimatvertriebenen, D.P.s (displaced persons), aus. Viele wurden 1945 in die freigewordenen Kriegsbaracken untergebracht und galten als Kriegsverlängerer und unverbesserliche Nazis. Zu jenem Zeitpunkt hatten sie nichts mehr zu hoffen, gaben ihre Hoffnung aber nicht auf. So waren sie im harten Überlebenskampf der Nachkriegsjahre die hungrigen Essenskonkurrenten, in der großen Wohnungsnot des zerstörten Österreich unerwünschte Mitbewohner, auf dem knappen Arbeitsmarkt anspruchslose und billige Arbeitnehmerkonkurrenten. Man vergaß, dass diese Flüchtlinge die Arbeit in der Landwirtschaft verrichteten und damit das Überleben sicherten und ihr Einsatz zum Wiederaufbau des zerstörten Landes notwendig war.

D.P.s, „displaced persons“, das heißt vom Krieg versetzte Personen, waren sie und zu allem Übel auch noch „luederische Protestanten“ in einem überwiegend römisch-katholischen Österreich. Ihre Toten störten den Frieden auf den geweihten Gottesäckern. Wie sehr sie ihrer Evangelischen Kirche und Glauben verbunden waren, zeigten ihre Gottesdienste in Gasthöfen, Baracken und den vorhandenen Evangelischen Kirchen. Die kleine Evangelische Kirche in Österreich nahm sie auf, bot ihnen etwas Freiraum und Schutz und machte sich zum schwachen Anwalt ihrer Not. Der ihnen entgegenwehende raue, kalte Wind und die Ungewissheit ließen sie noch stärker zusammenrücken. Das Leben hatte gesiegt und in den Barackenlagern schenkten ihnen das heimatliche Brauchtum und die Gemeinschaft neue Zuversicht und Geborgenheit. Die gemeinsame Not ließ sie zu gleichwertigen Menschen werden und löste alle Standesunterschiede auf. Ihre kirchlichen und politischen Verantwortlichen nahmen die Herausforderungen an. Die alten, patriarchalisch-demokratischen Strukturen Siebenbürgens wurden in Österreich aktiviert. Die Heimatsuche begann, und die „hundert Männer“ entschieden für die Zukunft. Damals klopften sie an die Türen vieler Botschaften, die sie anhörten, aber abwinkten oder oder unakzeptable Bedingungen stellten oder zu weit in der transatlantischen Ferne lagen. Den Überlebenden auf Heimatsuche schimmerte noch immer ein kleiner Hoffnungsfunken auf Siebenbürgen im Herzen. Österreich hatte keinen Platz und kein Verständnis für diese „rumänischen Volksdeutschen“. Österreich hatte die 230 Jahre gemeinsamer Geschichte über Bord geworfen und verschloss sich als besetztes Land den Flüchtlingen. Vor allem war es nicht bereit das „Sozialpaket“, das heißt Alte, Kranke und Hilfsbedürftige, zu erhalten. Die Jungen sollten und mussten bleiben, aber Deutschland sollte dieses „Sozialpaket“ übernehmen, trug es doch, wie man damals meinte, alleinige Schuld am furchtbaren Krieg. Das Wort Englands, der Einspruch eines hochrangigen britischen Offiziers, verhinderte die von Österreich gewünschte Ausweisung der Siebenbürger Sachsen nach Deutschland.

1945-1955 war eine Dekade der Ungewissheit, der Duldung, der Demütigung, aber auch des Ausharrens. Die Gottesdienste wurden zum geistigen Refugium, zum Kristallisationspunkt der Gemeinschaft, zur Tauschbörse der Neuigkeiten. Die Durchharrenden, Hoffenden hielten fest an ihrer Zukunft in Österreich, waren stark in ihrem Gottvertrauen, wurden von Familien, Nachbarschaften und Hilfsbereitschaft getragen. Sie säten unbewusst in die Furchen der Gegenwart die Saat der Zukunft. Ihr Fleiß, ihre Zuverlässigkeit, ihr Gemeinschaftssinn, Zusammenhalt und Glaubenstreue wirkten Wunder. So wuchs der Segen Gottes in der Stille der schweren Jahre. Ihre Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, ihr Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt bauten stets an den Brücken der Verständigung. Stetig wurden aus Unerwünschten Freunde, aus Fremden Vertraute, aus Konkurrenten Mitarbeiter und Kollegen beim Aufbau des zerbombten Landes und in der am Boden liegenden Landwirtschaft.

Das schwere und bittere Los der Landsleute, die 1944/45 in die Heimat Siebenbürgen zurückgekehrt waren und entrechtet wurden, bestätigte ihnen Schritt für Schritt, dass ihr Platz in Österreich ist. Das Land wurde ihnen immer vetrauter, jenes Österreich, mit dem sie eine 230-jährige alte und nun auch schon eine zehnjährige neue, gemeinsame Geschichte verband.

Die Geduldigen fassten Boden unter den Füßen. Die Ungeduldigen, Enttäuschten, Jungen und Beeilten zogen weiter in die USA, Kanada, Deutschland, und die Abschiede zwischen 1950-55 schwächten die Gemeinschaft, zerrissen Verwandtschaften und verunsicherten die Wankelmütigen. Große Enttäuschung war auch bei den Verantwortlichen, die in mühevoller Vorarbeit im Kohlenpott in Deutschland die Zukunft der Siebenbürger Sachsen sahen. Sie mussten feststellen, dass die Mehrzahl der Siebenbürger Sachsen in Österreich verblieb, weil sie hier erste Wurzeln geschlagen hatte.

Vor 51 Jahren fiel ihnen die österreichische Staatsbürgerschaft gleich einer reifen, ersehnten Frucht in den Schoß. Sie hatten sie durch ihre Redlichkeit und Fleiß, Vertrauen und Hoffnung, Mitarbeit und Einsatz verdient. Aus Geduldeten wurden Gleichberechtigte, aus Heimatlosen Menschen, denen sich Österreich als neue, liebenswerte Heimat erschloss. Die hier geborenen Kinder waren Boten der Zukunft und die am Gottesacker ruhenden Alten Botschafter der Vergangenheit. Sie waren Hilfe und Gnade beim Heimischwerden. Die Dankbarkeit weckte das österreichische Heimatgefühl. Die alte Heimat wurde nicht vergessen, sondern im Herzen bewahrt, in der Erinnerung gepflegt, im Brauchtum und der Gemeinschaft gelebt.

Die Wälder, welche ihnen Pilze und Beeren in den armen Jahren schenkten, waren ihnen vertraut, die majestätischen Berge hatten sich in ihre Seele geprägt und die altvertrauten, heimatlichen Landschaften in den Hintergrund gerückt. Die alte Heimat lebte in den Erinnerungen, in den neu gegründeten Nachbarschaften, Jugendgruppen, dem Brauchtum und den Gottesdiensten.

1955-1980 wurde zur intensivsten Aufbauphase neuer Existenz in Österreich. Der oberösterreichische Superintendent erzählte dem späteren Bischof Kruse folgende Anekdote: „Wirft man einen siebenbürgischen Pfarrer aus dem Flugzeug über Österreich ab, so entsteht dort in zwei Jahren eine evangelische Kirche und 100 siebenbürgische Familien haben sich angesiedelt“. Wie einst in Siebenbürgen wurden in den neu gegründeten Orten evangelische Kirchen gebaut. Die „Freundschaft“ und der Pioniergeist, gepaart mit Sparsamkeit und Fleiß, bauten neue Heime und festigten damit auch das neue Heimatgefühl. Ohne Förderungen, ohne Bankdarlehen, denn damals waren sie noch nicht kreditwürdig, schufen sie ihre Heime.

Die Namen dieser evangelisch-siebenbürgischen Kirchen lassen uns den Hintergrund erahnen: Gnadenkirchen, Friedenskirchen, Honteruskirche ... Die Jahrzehnte intensiver Aufbauarbeit verflogen, und Wohlstand, Frieden und Zufriedenheit zogen in den Häusern und Herzen ein.

Die erfahrene Gnade macht sie großzügig und hilfsbereit. Die hinter dem Eisernen Vorhang und den Stacheldrahtverhauen des kommunistischen Ostens darbenden Landsleute in Siebenbürgen wurden nicht vergessen. Die christliche Nächstenliebe fand Wege, ihnen zu helfen und die Gemeinschaft über die Grenzen zu wahren.

Nach 60 Jahren ist der einst vertraute siebenbürgisch-sächsische Dialekt immer mehr im Schwinden und unsere Kinder und Enkelkinder sprechen den landesüblichen Dialekt. Anerkennung, Wertschätzung und Unterstützung von der breiten Öffentlichkeit und der Evangelischen Kirche in Österreich zeigen, dass wir angekommen und integriert sind. Wir sind in Österreich zu Hause, die alte Heimat belastet nicht mehr, sondern sie wird 2007 ihren Platz im Hause Europa finden und hoffentlich ihre Chance in Zukunft wahrnehmen. Unsere Trachten werden getragen und wurden im Laufe der Jahre längst schon österreichisches Kulturgut! Unsere alte Heimat Siebenbürgen weckt Interesse bei Kindern und Enkelkindern, welche aus diesen Begegnungen beschenkt hervorgehen.

Unsere Vereine sind überaltert, noch überwiegt die Erlebnisgeneration. Immer mehr jedoch werden sie abgelöst von hier geborenen österreichischen Siebenbürgern. Das Interesse an unserer Kultur, Geschichte und Gemeinschaft lässt uns hoffen. Mit der Ablöse kommt eine neue Perspektive. So wird die Arbeit in Zukunft neue Schwerpunkte setzen und neue Wege gehen. Das österreichisch-siebenbürgische Selbstverständnis hat das siebenbürgisch-österreichische abgelöst. Wir freuen uns, dass wir in diesem wunderbaren, einzigartigen Land zu Hause sind. Hier ist unsere Heimat und deshalb danken wir all jenen, die uns im Tod vorangegangen sind, die den schwierigen Weg in die neue Heimat in schwersten Zeiten beschritten hatten, und jenen Österreichern, die uns diesen Weg damals eröffneten.

Wir blicken dankbar und zuversichtlich in die Gegenwart unserer Heimat Österreich, die im Vereinten Europa ihr historisches Erbe und Erfahrungen einbringen kann, soll und muss. Wir dürfen auch zuversichtlich in die Zukunft blicken und wissen, dass wir alle gefordert sind mit unseren Gaben, Prägungen an der Welt von Morgen mitzubauen. Sie ist offen, hat jedoch, wenn wir es wollen, auch für uns, die österreichischen Siebenbürger Sachsen, einen Platz. Unsere Prägung, das reiche kulturelle Erbe, das starke Familienbewusstsein, Glaubenstreue und unsere Geschichte gehören nun zu Österreich und sollen und wollen ins reiche Lebensmosaik ihre besondere Farbe einbringen. Unsere Wurzeln und Verbindungen in die alte Heimat Siebenbürgen sind Brücke fürs Zusammenwachsen im zukünftigen Europa.

Ich danke unseren Nachbarschaften und Vereinen sowie der Evangelischen Kirche Österreich für den treuen Dienst an unserer Gemeinschaft. Als österreichische Siebenbürger und evangelische Christen sind wir gefordert, unser Scherflein beizutragen. Für den Dienst an der Gemeinschaft, die tätige Nächstenliebe, die Pflege unserer Kultur und Mitarbeit in Kirche und Staat wünsche ich uns allen weiterhin Erfolg und Gottes Segen!

Volker Petri

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 4 vom 15. März 2005, Leitartikel)

Schlagwörter: Verbandspolitik, Integration

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