22. November 2022

Volkstrauertag in Dinkelsbühl: Christa Wandschneider spricht an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen

Am Volkstrauertag versammelten sich zahlreiche Teilnehmer auf der Alten Promenade in Dinkelsbühl, darunter Oberbürgermeister Dr. Christoph Hammer, mehrere Stadträte wie auch Landsleute aus der Kreisgruppe Dinkelsbühl – Feuchtwangen. Die diesjährige Gedenkansprache hielt Christa Wandschneider, Bundesfrauenreferentin und Frauenreferentin des Landesverbandes Bayern des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland. An der Gedenkstätte wurden Kränze der Stadt Dinkelsbühl und unseres Verbandes niedergelegt. Lesen Sie im Folgenden die Rede von Christa Wandschneider zum diesjährigen Volkstrauertag in Dinkelsbühl.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Hammer, sehr geehrte Stadträtinnen und Stadträte, meine Damen und Herren, liebe Landsleute. Bei der Vorbereitung zu meiner Ansprache stellte ich mir die provokante Frage: „Ist unser gemeinsames Gedenken am Volkstrauertag noch zeitgemäß?“. Ja, das ist es und zwar gerade in dieser Zeit, in welcher Europa in einen Krieg, wenn auch indirekt, involviert ist.

Der Volkstrauertag wurde durch den 1919 gegründeten Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge auf Vorschlag seines bayerischen Landesverbandes zum Gedenken an die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges eingeführt. Nicht „befohlene“ Trauer war das Motiv, sondern das Setzen eines nicht übersehbaren Zeichens der Solidarität derjenigen, die keinen Verlust zu beklagen hatten, mit den Hinterbliebenen der Gefallenen. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gab sich am 23. September 2016 auf der Grundlage seiner Satzung ein neues Leitbild, in dem es heißt: „Wir stellen uns der deutschen Geschichte“. Mit dem festen Willen, die Erinnerung an Krieg und Gewaltherrschaft wachzuhalten, Verständigung, Versöhnung und Frieden unter den Menschen und Völkern zu fördern und für Freiheit und Demokratie einzutreten.
Bundesfrauenreferentin Christa Wandschneider ...
Bundesfrauenreferentin Christa Wandschneider sprach beim Volkstrauertag an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl, auf dem Bild mit Ludwig Goffner von der Kreisgruppe Dinkelsbühl – Feuchtwangen. Foto: Sofia Schuster
Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier rief in seiner Rede zum Volkstrauertag 2021 auf, die „Verantwortung vor unserer Geschichte“ anzunehmen. Das dürfe nicht bedeuten, die Auseinandersetzung mit den Konflikten der Gegenwart zu scheuen. Trauern werde erst möglich, „wenn wir uns der Erinnerung stellen, auch der schmerzhaften“. Deshalb sei Erinnerung kein Selbstzweck und keine Bußübung: „Wir erinnern uns, um der Gegenwart und um der Zukunft willen.“

Der Volkstrauertag ist ein Tag des stillen Gedenkens an alle Opfer von Krieg und Gewalt, doch er ist auch ein Tag des Nachdenkens darüber, wie wir heute darauf reagieren und was wir, jeder Einzelne von uns, für Freiheit und Menschlichkeit in der Welt tun können.

Viele der hier Anwesenden haben nie den Krieg erfahren müssen. Wir sind in Frieden aufgewachsen und haben in Deutschland eine Heimat gefunden. Die Berichte und Erzählungen unserer Eltern und Großeltern von Flucht, Krieg, Vertreibung und Deportation waren uns nie so präsent, wie in den letzten Jahren. Die Ausstellung, auch hier in Dinkelsbühl „… skoro damoi! Hoffnung und Verzweiflung“ anlässlich des 75. Jahrestags des Beginns der Deportation der Siebenbürger Sachsen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, ist uns gegenwärtig und hat Diskussionen eröffnet. Vielleicht hat es dem einen oder anderen geholfen, über das Erlebte zu sprechen. Und dennoch können wir uns das Leid und Grauen nicht vorstellen. Heute hat uns die Geschichte eingeholt. Wir werden täglich mit Kriegsberichten aus der Ukraine konfrontiert und erfahren von den Schrecken der Kämpfe in den Kriegsgebieten. Namen wie Donezk, Saporischschja, Cherson sind für uns reale Namen geworden, die wir bisher mit den Zwangslagern, in die unsere Väter und Mütter deportiert wurden, assoziierten. Wir verbinden plötzlich ein Geschehen mit diesen Orten. Nun sind es Namen von Orten, in denen der dort lebenden Bevölkerung viel Leid geschieht, von wo geflüchtet wird und von wo wir Bilder der Zerstörung übermittelt bekommen.

Zerstörte Lebensläufe, zumindest aber gestörte Lebensläufe - solch persönliche Tragödien trafen auch Millionen Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden. Viele verloren nicht nur die Heimat, sondern auch ihr Leben. Die meisten von ihnen waren persönlich unschuldige Opfer eines verheerenden Krieges, der zweifellos von Deutschland verursacht und verschuldet war. Auch die Vertriebenen und Aussiedler haben Anspruch darauf, dass an ihr Schicksal erinnert wird, dass sie in ihrer Trauer nicht allein gelassen werden, sondern im nationalen Gedächtnis bewahrt, was Folge unserer gemeinsamen Geschichte war und bleibt. Und das tun wir heute hier in Dinkelsbühl an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen.

Als mahnende Erinnerung an die Vergangenheit und die Erneuerung des Gedenkens der Versöhnung stehen wir vor diesem Mahnmal mit der Inschrift: Sie ließen ihr Leben „in den zwei Weltkriegen und schweren Nachkriegsjahren. Im Norden, Osten, Süden, Westen. Hinter Stacheldraht. Auf der Flucht. In der Heimat“. An diesem Tag gedenken wir nicht nur der in Russland gefallenen Soldaten, sondern auch der vielen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und auf dem Weg in die Fremde den Tod fanden.

Wir gedenken der vielen Frauen und Kinder aus der Ukraine, aber auch der Flüchtlinge aus anderen Ländern, die in unserem Land Schutz und Hilfe suchen. Wir denken an die Frauen im Iran, die für Anerkennung, Gleichberechtigung und Frieden kämpfen und bereit sind, dafür ihr Leben zu lassen. In ihren Heimatländern herrscht Krieg, Terror, Unterdrückung und maßloses Leid. Die Hand zur Hilfe und Versöhnung zu reichen ist ein Gebot der Menschlichkeit und unseres christlichen Selbstbewusstseins. Auch wenn wir hier und jetzt vor dieser ehrwürdigen Gedenkstätte betroffen und traurig sind, wollen wir hoffnungsvoll und versöhnt, von hier zur weiteren Andacht schreiten.

Am Volkstrauertag wollen wir uns auf das Ideal der Menschlichkeit besinnen und die Verantwortung, die wir alle tragen, wenn es um seine Verwirklichung geht.

„Nie wieder Krieg!“ Manchen erscheint dieser pazifistische Ausruf, den Käthe Kollwitz auf ein ikonografisches Plakat gebracht hat, angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine als eine Phrase, fernab der Realpolitik. „Nie wieder Krieg!“ muss die Norm unseres menschlichen Daseins sein, ohne die Welt zu verklären. Auch wenn Europa gegenwärtig von Krieg bestimmt wird, so bleibt doch Frieden ein kostbares Gut.

Wer wir sind und woran wir uns erinnern, verdanken wir einem komplexen Zusammenspiel: unserer Herkunft, den Orten und Ereignissen unserer Biografie und dem menschlichen Handeln – dem eigenen und dem unserer Vorfahren. Geschichte, so verstanden, ist immer auch Familiengeschichte. Mit der Rückfrage nachfolgender Generationen, "was hat das mit mir zu tun?", sollten wir nicht nur rechnen. Wir müssen sie beantworten können! Wir verstehen, wer wir sind und was uns bewegt, nur, wenn wir wissen, wer und was uns vorausgegangen ist.

Frieden – wird vielleicht einmal der Grund dafür sein, dass wir hier stehen und dass wir derer gedenken, die sich dafür eingesetzt haben. Das wäre mein Wunsch, wir sind es denen schuldig, die ihr Leben im Kampf für Frieden, Demokratie und Freiheit verloren haben.

Schlagwörter: Dinkelsbühl, Gedenken, Volkstrauertag, Deportation, Wandschneider

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