80. Jahrestag der Deportation: Würdige Gedenkfeier in Ulm - Erinnerungsarbeit ohne Zeitzeugen
Gemeinsames Erinnern an sich jährende historische Ereignisse wird aus guten Gründen Teil unserer kollektiven Verantwortung bleiben. Auch in Abwesenheit der unmittelbaren Zeitzeugen, die gesundheits- bzw. altersbedingt nicht mehr persönlich der Gedenkveranstaltung beiwohnen können; in den meisten Fällen sind sie inzwischen verstorben. So fanden sich am 18. Januar in Ulm zwar keine Zeitzeugen ein, jedoch viele ihrer Angehörigen, Kinder und Enkelkinder, zum gemeinsamen Gedenken anlässlich des 80. Jahrestages der Deportation von Deutschen aus Südosteuropa zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Ihr zahlreiches Erscheinen und Mitwirken bereicherte die von Würde, Ernst, Solidarität, Nachdenklichkeit ge- und bestimmte Veranstaltung.
Kranzniederlegung am Auswandererdenkmal, von links: Jürgen Harich, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Donauschwaben, Joschi Ament, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn, Dr. Bernd Fabritius, Präsident des Bundes der Vertriebenen, Rainer Lehni, Bundesvorsitzender des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Vlad Vasiliu, Generalkonsul von Rumänien in Stuttgart, Peter-Dietmar Leber, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Pfarrer Hans-Gerhard Gross, Pfarrer Paul Kollar. Fotos: Christian Schoger
Zur Kranzniederlegung am Auswandererdenkmal am Donauschwabenufer in Ulm versammelten sich an diesem Samstag, einem kalten, grauen Januartag, rund 80 Menschen. In ihrer in Wechselrede vorgetragenen Begrüßung erinnerten Rainer Lehni, Bundesvorsitzender des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, und Peter-Dietmar Leber, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Banater Schwaben, an die Opfer von Deportation und Zwangsarbeit.
„Oft konnten sie nur notdürftig verscharrt werden“
Lehni führte aus: „Vor 80 Jahren wurden 70 000 deutsche Volkszugehörige mit rumänischer Staatsangehörigkeit noch während des Kriegs zur Zwangsarbeit in die damalige Sowjetunion deportiert: Banater Schwaben und Berglanddeutsche, Siebenbürger Sachsen und Sathmarer Schwaben. Deportiert wurden auch Donauschwaben aus dem ehemaligen Jugoslawien, Deutsche aus Ungarn, Deutsche aus der Tschechoslowakei oder aus Bulgarien, insgesamt 120 000 Personen, obwohl sie alle Staatsbürger der jeweiligen Länder waren.“ Leber setzte fort: „In eiskalten Güterwaggons, oft wochenlang unterwegs, von den Familien gewaltsam getrennt wurden Frauen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren, Männer im Alter zwischen 16 und 45 Jahren. Sie mussten dort unter unmenschlichen Bedingungen schwerste Arbeiten verrichten, aufbauen, was von Deutschen zerstört worden war: die meisten in Kohlengruben, in den Wäldern, in Stahl- oder Zementwerken. Schon nach einem halben Jahr waren zehn Prozent der Deportierten an Mangelernährung gestorben. Oft konnten sie nur notdürftig verscharrt werden, ohne Priester, ohne Angehörige.“ „Die Heimkehrer blieben ihr Leben lang gezeichnet“, sagte Lehni, „von dem Erlebten, von dem staatlich verordneten Schweigen über dieses Unrecht“. Leber ergänzte: „Erst 1995, also 50 Jahre später, fand in München die große Gedenkveranstaltung für die Opfer der Deportation statt, organisiert von den südostdeutschen Landsmannschaften, wo über 1000 ehemalige Deportierte, oft mit ihren Familien, nach München kamen, die Ausstellung über die Deportation besuchten, der Einordnung des Geschehens durch die Historiker lauschten und die offiziellen Entschuldigungen der Regierung Rumäniens hörten, warum sie als von den Sowjets besetztes Land nichts gegen die Deportation unternehmen konnte. Den Deportierten und mittlerweile deren Kindern gewährt Rumänien eine Entschädigung.“ Das Erinnern an die Deportation als Mahnung und Verpflichtung begreifend, appellierten die Bundesvorsitzenden Lehni und Leber gemeinsam: „unsere Stimme zu erheben, wenn Menschenrechte und Grundwerte bedroht sind, sie gelten für alle Menschen; zusammenzustehen, einer für den anderen da zu sein, im Großen wie im Kleinen; Solidarität zu üben, wie damals die Großfamilien, in deren Obhut die zurückgebliebenen kleinen Kinder geblieben waren; trotz schwerer Prüfungen mit Gottvertrauen der Zukunft begegnen“.
Viele trotzten dem kalten Wetter und nahmen an der Kranzniederlegung am Auswandererdenkmal am Donauschwabenufer in Ulm teil.
Nach einem geistlichen Wort durch die Pfarrer Paul Kollar und Dekan i.R. Hans-Gerhard Gross, dessen persönliche Erinnerungen an seinen Vater, der als 17-Jähriger in den Donbass verschleppt wurde und nach allem widerfahrenen Leid „keinen Hass in sich trug, im Gegenteil“, besonders berührten, legten die Bundesvorsitzenden aller südostdeutschen Landsmannschaften am Auswandererdenkmal Kränze für die Opfer der Deportation und politischen Verfolgung nieder. Die musikalische Umrahmung gestalteten Tamás Weisz und Alexander Wille am Euphonium (Tenorhorn) bzw. Trompete.
Plädoyer für Menschenwürde, Demokratie und Toleranz
Im Stadthaus Ulm hatten sich am Nachmittag rund 200 Veranstaltungsgäste eingefunden zur Gedenkfeier mit Grußworten von Vertretern der Politik sowie einem 90-minütigen Podiumsgespräch mit Künstlerinnen und Künstlern. Nicht allein ihre Beiträge honorierte das Saalpublikum hinterher mit Beifall, gleichfalls die stimmungsvolle, musikalische Programmgestaltung durch die Cellistin Ruth Maria Rossel, den Bariton Wilfried Michl und den Pianisten Tobias Schmid.
Eingeladen hatten der Verband der Siebenbürger Sachsen, die Landsmannschaft der Banater Schwaben, die Kulturreferentin für den Donauraum am Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm sowie die Kulturreferentin für Siebenbürgen, den Karpatenraum, Bessarabien und die Dobrudscha am Siebenbürgischen Museum in Gundelsheim am Neckar. Die Veranstaltung mit dem Titel „Annäherungen an das Ungesagte. Die Deportation in der Kunst“ wurde vom Kulturwerk der Siebenbürger Sachsen e.V. und dem Kulturwerk der Banater Schwaben e.V. Bayern aus Mitteln des bayerischen Sozialministeriums gefördert, ferner aus Mitteln der Staatsministerin für Kultur und Medien. Die Moderation übernahm die Bundeskulturreferentin des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Dagmar Seck.
Die Bundesvorsitzenden Rainer Lehni (rechts) und Peter-Dietmar Leber begrüßten die Ehrengäste und das zahlreiche Publikum zur Gedenkfeier im Stadthaus Ulm.
Die Bundesvorsitzenden des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Rainer Lehni, und der Landsmannschaft der Banater Schwaben Peter-Dietmar Leber, begrüßten die Saalgäste und namentlich den Oberbürgermeister „unserer Patenstadt“ Ulm Martin Ansbacher, die Abgeordneten des Landtags von Baden-Württemberg Martin Rivoir (SPD) und Michael Joukov (Bündnis 90/Die Grünen), den Präsidenten des Bundes der Vertriebenen (BdV) Dr. Bernd Fabritius, als Vertreter Rumäniens Miheia-Malina Diculescu-Blebea, Generalkonsulin in München, und Konsulin Casandra-Maria Marinescu sowie Dr. Vlad Vasiliu, Generalkonsul in Stuttgart, zudem als Vertreter des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien Erwin Josef Țigla aus Reschitza im Banater Bergland, die Stellvertretende Vorsitzende des Heimatverbandes der Banater Berglanddeutschen in Deutschland Astrid Krischer, den Direktor des Donauschwäbischen Zentralmuseums in Ulm Tamas Szalai, den Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn Joschi Ament, ebenso seitens der katholischen Kirche Pfarrer Paul Kollar und der evangelischen Kirche Pfarrer i.R. Hans-Gerhard Gross, Vorsitzender der Gemeinschaft evangelischer Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben im Diakonischen Werk der EKD.
Wie Rainer Lehni und Peter-Dietmar Leber versicherten, sei es dem Verband der Siebenbürger Sachsen und der Landsmannschaft der Banater Schwaben „wichtig und ein Herzensanliegen zugleich, um an diese größte Tragödie unserer Gemeinschaften zu erinnern. Das tun wir heute hier, aber auch bei den Heimattagen und in unseren Landes- und Kreisgruppen.“
Ulms Oberbürgermeister Martin Ansbacher wirbt in seinem Grußwort für Toleranz.
Den Reigen der Grußworte eröffnete der Ulmer Oberbürgermeister Martin Ansbacher, der das „historisch enge Verhältnis“ seiner Stadt zu den Banater Schwaben hervorhob. Der SPD-Politiker erinnerte an die Zwangsarbeit der Verschleppten „unter widrigsten und menschenunwürdigsten Bedingungen“, die Tausende nicht überlebten. Ansbacher ordnete die Deportation in den zeithistorischen Kontext ein, die von Nazideutschland begangenen Gräuel. Das Wissen um die Vor-Geschichte „kann und soll Schuld und erlittenes Unrecht keineswegs relativieren und nicht ungeschehen machen“. Im Zweiten Weltkrieg hätten auch Donauschwaben als Freiwillige in der Wehrmacht und auch in Divisionen der Waffen-SS gekämpft. Dies seien „längst nicht alle“ Nazis gewesen und es habe auch Widerstand gegeben. Der Ulmer Oberbürgermeister empfahl die laufende Ausstellung im Donauschwäbischen Zentralmuseum, die anhand ausgewählter Lebensgeschichten eindrucksvoll zeige, wie die Deportierten die traumatischen Ereignisse dieser Zeit erlebten und wie es den Zurückgelassenen erging. Die historischen Ereignisse verdeutlichten, so Ansbacher, „wohin Nationalismus, völkische Ideen, Rassismus und extreme Ideologien führen. Menschenwürde, Demokratie und Toleranz dürfen niemals zur Disposition stehen“.
BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius bei seinem Grußwort
BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius bezeichnete die Deportation als „eine absolute Tragödie, die unseren Eltern und Großeltern, unseren Landsleuten vor nunmehr 80 Jahren widerfuhr“. Der CSU-Politiker führte aus: „Das Leid, das so viele Menschen ertragen mussten, war zuerst physisches Leid, rein körperliche Qual, aber es war noch viel mehr Leid emotionaler, psychischer und auch sozialer Art: Mütter und Väter, Söhne und Töchter wurden von ihrem eigenen Staat aus ihrer Heimat herausgerissen, von ihren Familien getrennt, einem ungewissen Schicksal in Lagern ausgeliefert und zu härtester körperlicher Arbeit gezwungen. Sie wurden ihrer Rechte beraubt und zu Objekten eines unmenschlichen Systems degradiert. Viele überlebten die Jahre der Deportation und Zwangsarbeit nicht. Doch diejenigen, die zurückkehrten, brachten Zeugnisse des Grauens mit, die sie selbst und ihre Familien nie verarbeiten, geschweige denn vergessen konnten.“ In den Fokus von Misstrauen und Rache „gerieten unsere Volksgruppen nur deshalb, weil sie deutsch waren“, betonte Fabritius: „Die pauschale Brandmarkung als Kollaborateure Nazi-Deutschlands – eine zutiefst ungerechte Stigmatisierung, die uns bis in heutige Generationen schmerzt – zog eine kollektive Vergeltung der Siegermacht im Osten und ihrer benachbarten Verbündeten nach sich.“ Nach erlittener Verschleppung, Zwangsarbeit und Heimatverlust sei es „nur gerecht und richtig, dass Rumänien für dieses unvorstellbare Unrecht der Vergangenheit an unseren Familien heute eine Entschädigung zahlt, die den Schaden an ganzen Generationen zwar nie ungeschehen machen kann, aber zumindest eine späte Anerkennung und den Versuch einer Entschädigung darstellt“. Breiter Beifall im Saal.
Dr. Vlad Vasiliu, Generalkonsul von Rumänien in Stuttgart
Die „große Bedeutung“ des Erinnerns an die Deportation Deutscher aus Rumänien in die Sowjetunion unterstrich auch der Generalkonsul von Rumänien in Stuttgart, Dr. Vlad Vasiliu, in seinem Grußwort. Diese sei „ohne Rücksicht auf ihre persönlichen Schicksale und ohne ein Verständnis für die Differenzierung zwischen den Taten des Nazi-Regimes und dem Leben der einfachen Zivilbevölkerung“ in einer von Hass und Rache geprägten Zeit geschehen. Zugleich sei es für die rumänische Gesellschaft „eine schwierige und komplexe Zeit“ gewesen, „in der politische Entscheidungen auf der Grundlage von geopolitischen Interessen und der Strafe für die Kollaboration im Krieg getroffen wurden“. Vasiliu wandte sich gegen eine „Kollektivschuld“ und nannte die Deportation zur Zwangsarbeit „eine humanitäre Tragödie“. Rumänien habe sich verpflichtet, „die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und die Beziehungen zu seinen Nachbarn und zu Europa als Ganzem zu stärken“, um durch Dialog und Verständnis „ein starkes Fundament für die Zukunft (zu) bilden, in der solche Tragödien nie wieder passieren dürfen“.
Gestaltete den musikalischen Rahmen der Feier maßgeblich: die Cellistin Ruth Maria Rossel
Zwei weitere Grußworte nicht anwesender Aussiedlerbeauftragter wurden verlesen. Der Beauftragte der nordrhein-westfälischen Landesregierung für die Belange von deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern, Heiko Hendriks, hob hervor wie wichtig es sei, „die Erinnerung an die Opfer der Deportation und politischen Verfolgung wachzuhalten und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen“. Angesichts des Schwindens der Zeitzeugen brauche es „neue Formen der Erinnerung“. Die bei dieser Gedenkveranstaltung gewählte künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema könne „die nachfolgenden Generationen sensibilisieren“, zeigte sich der Vertreter Nordrhein-Westfalens, Patenland des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, überzeugt.
Die Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene, Dr. Petra Loibl, MdL, wies darauf hin, dass in der kollektiven Erinnerung vorwiegend die Vertreibung der Deutschen Schlesiens, Pommerns und Ostpreußens, Böhmens und Mährens thematisiert werde, zu selten aber die Deportation und Zwangsarbeit in der Sowjetunion der Deutschen aus Südosteuropa. Diese „furchtbare Geschichte“ sei „nur den wenigsten Deutschen gewärtig“. Umso wichtiger sei es, die Erinnerung aufrechtzuerhalten und „auch mehr Menschen als bisher zu vermitteln“.
Facettenreiche künstlerische Auseinandersetzung mit traumatischen Erfahrungen
Auf der Bühne nahmen zum Podiumsgespräch Platz: die Kunsttherapeutin Erika Möwius, der Fotograf Marc Schroeder, die Tänzerin Heike Schuster und die Schriftstellerin Iris Wolff.
Podiumsgespräch über die Deportation in der Kunst, von links: Marc Schroeder, Erika Möwius, Dr. Heinke Fabritius, Iris Wolff und Heike Schuster.
Die Gesprächsleitung hatte Dr. Heinke Fabritius, Kulturreferentin für Siebenbürgen, den Karpatenraum, Bessarabien und die Dobrudscha am Siebenbürgischen Museum Gundelsheim. Die Kunsthistorikerin stellte die Podiumsgäste vor, um anschließend im Dialog mit ihnen tiefer in die komplexe Thematik der Veranstaltung vorzudringen. Fabritius erörterte mit ihren Gesprächspartnern die Frage, wie es gelingen kann, die traumatischen Erfahrungen der von Deportation und Zwangsarbeit Betroffenen aufzugreifen und künstlerisch zu bearbeiten. Die Kunstschaffenden zeigten zudem Ausschnitte aus ihren Werken oder performten. Aus ihren künstlerischen Auffassungen zu (bild)sprachlichen bzw. performativen Darstellungsformen auf dem Feld der künstlerischen Deportationserinnerung können hier nur einige Äußerungen selektiv wiedergegeben werden.
Erinnerungen gleichen Lichtungen: die aus Hermannstadt stammende Schriftstellerin Iris Wolff
Die preisgekrönte siebenbürgische Schriftstellerin Iris Wolff, gebürtige Hermannstädterin, rekurrierte in ihren Ausführungen auf den Begriff der Lichtungen, zugleich Titel ihres neuen Romans, der es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024 geschafft hat: „Wir erinnern unser Leben nicht als Kontinuum, sondern wir haben ein episodisches Gedächtnis. Das heißt, wir erinnern unser Leben anhand einzelner aufscheinender Momente. Ich habe mir vorgestellt, das ist wie eine Lichtung im Wald. Das ist ein begrenzter Ort, ein von der Dunkelheit begrenzter Ort. Und eine Lichtung ist immer ein Ort auf Zeit. Also eine Lichtung ist ein im Wald geborgter Ort, und wenn man nicht aufpasst, dann kommt der Wald zurück. Das heißt, wir müssen unsere Lichtungen, unsere Erinnerungen stützen, weil das Vergessen ist immer viel größer als das Bewahren. Ich glaube, dass man auch schreibt, um diesem großen Vergessen die Kraft der Erinnerung entgegenzuhalten.“ Sie versuche ihre Geschichten „aus der Innenperspektive der Figuren zu schreiben“, ohne ihre Figuren wertend bloßzustellen, vielmehr in dem Bemühen, sie „aus einer respektvollen Distanz anzuschauen“.
Die aus dem Banat stammende Kunsttherapeutin Erika Möwius gehört der sogenannten Enkelgeneration an. In ihren Bildern verarbeitet sie traumatische Erfahrungen ihrer Großeltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Rumänien in sowjetische Lager deportiert worden waren. In ihren Werken fänden sich „die Not meiner Großmutter“, die die Künstlerin als Kind verspürt habe, ebenso „die Not meiner Eltern“. Heinke Fabritius animierte die Künstlerin, anhand auf die Bühnenwand projizierter ausgewählter Bilder einzelne Motive näher zu erklären: „Was passiert da?“ – So beschrieb Möwius „die große Unsicherheit“ im Moment der Deportation, den sie malerisch festgehalten habe.
Die aus Kronstadt stammende Tänzerin Heike Schuster zeigt ihre Performance „Gleis 3“.
Die in Kronstadt geborene und aufgewachsene Tänzerin Heike Schuster, wie Iris Wolff in Freiburg lebend, ist auch Dozentin für Körperbewusstsein. Als solche befasst sie sich etwa mit dem bewussten Gehen, dem „Kontakt mit dem Boden, der uns stützt“, überdies mit der Atmung, der im Alltag präsenten Bewegung generell. Schuster zeigte live auf der Bühne einen Ausschnitt („Gleis 3“) aus ihrer abendfüllenden, musikalisch begleiteten Performance. In der sechsminütigen handlungsbetonten Darbietung bewegte sich die Tänzerin in ihrem Kostüm (Strickpullover, Rock) gehend, rhythmisch schreitend, laufend, getrieben, erstarrt, im Ausnahmezustand des Beginns der Deportation, herausgerissen aus den Häusern, zu den Viehwaggons gezwungen. Ihre Großmutter Rosa Schuster, geb. Lukesch habe ihr viel erzählt über ihre Jahre in Russland. Mit dieser Arbeit wolle sie an deren Geschichte erinnern und sie weiter hinaus tragen.
Gegenstand des Gesprächs mit Marc Schroeder – von ihm war zuvor noch ein dreiminütiger Zeitzeugenfilm zu sehen (Link zum Video) – war dessen prämiertes Fotobuch ORDER 7161 zur Deportation der Rumäniendeutschen. Die Präsentation wurde auch in Zusammenarbeit mit Heinke Fabritius realisiert. Der viel gereiste Luxemburger schilderte im Podiumsgespräch Hintergründe und Umstände des inzwischen auch in englischer Fassung vorliegenden Buchprojektes. Dabei wies der Fotograf auch auf die bei seinen Rumänienreisen bewusst akzentuierte Bildwirkung verschwommener Landschaftsfotografien hin: „Erinnerung ist nie ganz scharf, ist immer ein bisschen verschwommen.“ Wichtig sei ihm bei seinen eindrücklichen Porträts in Schwarz-Weiß-Aufnahmen gewesen, die er während des Erzählens der Zeitzeugen respektive in „Momenten der Stille“, die Blicke abgewandt, gemacht habe: „Die Leute tauchen wirklich in sich hinab und holen ihre Erinnerungen hoch.“ Ihn habe diese „Arbeit“, der „Erinnerungsprozess“ interessiert, „diese Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Biografie“. Mit dankbarem Applaus quittierten die Feiergäste die anregenden Beiträge der Künstler.
Der Bariton Wilfried Michl sang, von Tobias Schmid am Klavier begleitet, „Banat im '49“, ein Lied in Orzydorfer Mundart nach dem Text von Rainer Kierer.
Gruppenbild ohne Zeitzeugen
Die Veranstaltung endete mit einem besonderen Akt: Auf der Bühne versammelten sich die an der Gedenkveranstaltung teilnehmenden 50 Kinder und Enkelkinder von Zeitzeugen zum Gruppenbild.
Tiefe Zäsur in der Erinnerungskultur: Beim 70-jährigen Deportationsgedenken in Ulm standen noch Zeitzeugen auf der Bühne (siehe unteres Bild). 2025 sind es ihre Kinder und Enkelkinder, die ein kraftvolles Zeichen für das Wachhalten der Erinnerung an die Deportation setzen.Gruppenbild überlebender Russlanddeportierter auf der Bühne im Haus der Begegnung am 17. Januar 2015 anlässlich der Zentralen Gedenkveranstaltung zur Deportation der Deutschen aus Südosteuropa. Foto: Christian Schoger
Ein emotional bewegender Moment für die Angehörigen, gleichfalls für die Betrachter. Zeigte sich hierin schon bekenntnishaft eine Perspektive, von wem, für wen und durch wen in welchen Formen auch immer unser Erinnern an die Deportation für die kommenden Generationen wach und lebendig gehalten werden kann, sei es in Veranstaltungen, Schulen oder sozialen Medien?
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