22. Januar 2015

Opfererfahrung verpflichtet zu Mitmenschlichkeit und Solidarität

Ulm – 25 Frauen und Männer stehen im engen Schulterschluss auf der Bühne, die, vor 70 Jahren zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert, die furchtbaren Lagerjahre überlebt haben: aufrecht, ungebrochen, selbstbewusst in ihrer kollektiven Haltung; die Gesichter vom Alter und zugestoßenem Schicksal gezeichnet; mitunter strahlende Augen in diesem Moment des Bewusstwerdens der ihnen zuströmenden öffentlichen Aufmerksamkeit und des mitmenschlichen Respekts, hier und jetzt. Diese Personengruppe steht zugleich stellvertretend für alle Angehörigen der sogenannten Erlebnisgeneration, denen die Teilnahme an dieser Zentralen Gedenkveranstaltung zur Deportation der Deutschen aus Südosteuropa in die Sowjetunion vor 70 Jahren, die am 17. Januar 2015 in Ulm stattfindet, nicht mehr möglich ist, weil sie nicht mehr am Leben sind oder die Anreise bei winterlichem Wetter aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung nicht mehr auf sich nahmen. Ihrer aller wurde in dieser feierlichen Zusammenkunft im Haus der Begegnung gedacht. Über das retrospektive Erinnern hinaus stand die gegenwartsbezogene Frage nach den Konsequenzen aus dieser Geschichte im Raum, nach den heute abzuleitenden gesellschaftlichen, verantwortungsethischen Folgerungen.
Die überregionale Gedenkveranstaltung wurde gemeinschaftlich veranstaltet vom Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm, dem Haus der Begegnung Ulm, dem Heimatverband Banater Berglanddeutscher aus Rumänien in Deutschland, dem Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Kulturreferentin für Südosteuropa, den Landsmannschaften der Banater Schwaben, der Deutschen aus Ungarn, der Donauschwaben, dem Verband der Sathmarer Schwaben und Oberwischauer Zipser, sowie dem Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland.

Der Direktor des Donauschwäbischen Zentralmuseums Ulm, Christian Glass, hieß die rund 400 Veranstaltungsteilnehmer in dem voll besetzten Saal herzlich willkommen, insbesondere die anwesenden ehemaligen Deportierten, und begrüßte als Ehrengäste die Vertreter der Kirchen, namentlich Reinhard Guib, Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien, Jenő Schönberger, Bischof der römisch-katholischen Diözese Sathmar / Satu Mare, Erzbischof emeritus Dr. Robert Zollitsch und seitens der Evangelischen Landeskirche in Württemberg Dekan Ernst-Wilhelm Gohl. Ferner begrüßte Glass neben dem rumänischen Generalkonsul in München Anton Nicolescu den Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Hartmut Koschyk, MdB, den Präsidenten des Bundes der Vertriebenen (BdV) und Vorsitzenden des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Dr. Bernd Fabritius, MdB, aus den BdV-Landesverbänden Baden-Württemberg und Hessen Arnold Tölg bzw. Georg Stolle sowie die Präsidentin des Frauenverbandes im BdV Dr. Maria Werthan; seitens der Stadt Ulm deren Oberbürgermeister Ivo Gönner, die Kulturbürgermeisterin Iris Mann und den Donaubeauftragten der Städte Ulm und Neu-Ulm Peter Langer, als Vertreterin des Landes Baden-Württemberg Dr. Christiane Meis, Leitende Ministerialrätin im Innenministerium; als landsmannschaftliche Vertreter wurden begrüßt der Präsident des Weltdachverbandes der Donauschwaben Stefan Ihas, die Vorsitzenden der Landsmannschaft der Donauschwaben, Hans Supritz, der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Peter-Dietmar Leber, des Verbandes der Sathmarer Schwaben und Oberwischauer Zipser, Helmut Berner, der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn, Klaus Loderer, und vom Heimatverband Banater Berglanddeutscher aus Rumänien in Deutschland Prof. Horst Schmidt.
Gruppenbild auf der Bühne im Haus der Begegnung: ...
Gruppenbild auf der Bühne im Haus der Begegnung: Vor 70 Jahren wurden diese Frauen und Männer zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Am 17. Januar fand in Ulm die Zentrale Gedenkveranstaltung zur Deportation der Deutschen aus Südosteuropa statt. Fotos: Christian Schoger
Glass kündigte den weiteren Programmablauf an, wies auf den Büchertisch am Eingang hin, wo u. a. das druckfrisch angelieferte Buch „Der weite Weg ins Ungewisse. Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion“ (Kooperationsprojekt der Universität Bukarest und der Landsmannschaft der Banater Schwaben) käuflich zu erwerben war. Abschließend dankte der Direktor des Donauschwäbischen Zentralmuseums Ulm allen Kooperationspartnern dieser Veranstaltung, allen voran Dr. Swantje Volkmann, dem engagierten Helferteam der Kreisgruppe Ulm der Banater Schwaben bzw. der Siebenbürger Sachsen, und dem die musikalische Umrahmung der Gedenkfeier gestaltenden Ehepaar Liane und Harald Christian aus Augsburg.
Umrahmten die Gedenkveranstaltung im Haus der ...
Umrahmten die Gedenkveranstaltung im Haus der Begegnung in Ulm musikalisch: Liane und Harald Christian.
Das anlassgerecht gewählte Programm, das Liane Christian (stammt aus Hamruden in Siebenbürgen, ihr Gatte aus Temeswar) am Klavier und Harald Christian (Violine) gefühlvoll interpretierten, umfasste Kompositionen von Robert Schumann, Ciprian Porumbescu, Ludwig van Beethoven und von John Williams das Thema aus „Schindlers Liste“.

„Größte Tragödie in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen und der Evangelischen Kirche“


Der Oberbürgermeister der Stadt Ulm, Ivo Gönner, erinnerte in seinem Grußwort an das Schicksal der Deportation in einem weiter gefassten Bezugsrahmen der Unmenschlichkeit
Ivo Gönner, Oberbürgermeister der Stadt Ulm ...
Ivo Gönner, Oberbürgermeister der Stadt Ulm
und wies in diesem Zusammenhang auf die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren hin. Allen Vertriebenen gemein seien die Entwurzelung und der Neuanfang. „Wir sollten alle das Gedenken auch dazu nutzen, um uns selber immer wieder den Spiegel vorzuhalten, ob wir aus dem Geschehenen lernen.“ Die „schmerzhafte Erinnerung“ sollte uns dazu ermutigen, "rechtzeitig Courage zu zeigen, zu warnen und aufzustehen“, um Demokratie und Freiheit zu verteidigen. „Die Botschaft über den Tag hinaus ist, dass die Würde des Menschen unantastbar ist“, unterstrich Gönner. Das Stadtoberhaupt dankte allen, die aktiv mitgewirkt haben am Zustandekommen dieser Gemeinschaftsveranstaltung, den Landsmannschaften und insbesondere auch „den Ulmern insgesamt“.

Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Peter-Dietmar Leber, bat die verteilt im Saal sitzenden einstigen Deportierten aufzustehen, um ihrer – wie auch ihrer Anzahl – gewahr zu werden. In seinem Grußwort erinnerte Leber eindringlich an den Hunger in Russland, an Leid und Tod, auch an das spät initiierte öffentliche Erinnern bei einer ersten großen Gedenkveranstaltung 1995 in München, als sich die Deportation zum 50. Mal jährte, an die offizielle Entschuldigung der rumänischen Regierung, die vom ungarischen Parlament einstimmig verabschiedete Einführung eines Gedenktages, an das Ausbleiben eines ähnlichen Signals in Serbien.
Peter-Dietmar Leber ...
Peter-Dietmar Leber
Die ehemaligen Deportierten hätten „trotz unmenschlicher Prüfungen, traumatischer Erfahrungen und ungemein schlechter Startbedingungen nach der Entlassung ihr Leben gemeistert“. Sie hätten ihren Nachkommen auf den Weg gegeben, „ihre Stimme zu erheben, wenn Menschenrechte und Grundwerte bedroht sind; zusammenzustehen, einer für den anderen da zu sein; Solidarität zu üben, wie damals die Großfamilien, in deren Obhut die zurückgebliebenen Kinder blieben; trotz schwerer Prüfungen im Glauben Kraft zu finden. Nehmen wir dieses Erbe an, heute, aber auch in der Zukunft.“

Erzbischof em. Dr. Robert Zollitsch rief in seinem Grußwort dazu auf, die Erinnerung an das Schicksal der zur Zwangsarbeit Deportierten – auch für künftige Generationen – wach zu halten und Solidarität zu üben mit den „Opfern skrupelloser Machtinteressen und menschenverachtender Politik“. Der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz war selbst als Sechseinhalbjähriger in das Vernichtungslager Gakowa (heute Gakovo) deportiert worden. In dem von März 1945 bis Januar 1948 bestehenden Lager in der Batschka starben mindestens 8500 Donauschwaben.
Erzbischof em. Dr. Robert Zollitsch ...
Erzbischof em. Dr. Robert Zollitsch
Das Weihnachtsfest im Dezember 1944 schilderte Erzbischof Zollitsch als „zweifellos das schlimmste in meinem Leben“. Sein Vater und sein ältester Bruder seien „als Soldaten irgendwo an der Front“ gewesen, ein Monat vor Weihnachten sei sein damals 16-jähriger Bruder Josef von Titos Partisanen mit 211 anderen Männern aus seinem Heimatort Filipowa „grausam abgeschlachtet und in drei Massengräbern verscharrt worden“. Drei Tage vor dem Fest sei die Mutter krank von der Zwangsarbeit zurückgekehrt. Am 25. Dezember dann habe der Gemeindediener nach dem feierlichen Hochamt den Sammelbefehl zur Russlanddeportation für alle Männer von 17 bis 45 Jahren sowie alle Frauen von 18 bis 40 Jahren vermeldet. Darunter befand sich auch „meine Tante, die drei Töchter in meinem Alter bei unserer Großmutter zurücklassen musste“. Zollitsch appellierte an die Überlebenden und Nachgeborenen, kraft des Gedenkens „mitzuhelfen, dass so etwas oder Vergleichbares nie wieder geschieht".

Bischof Reinhart Guib überbrachte die Grüße der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien. „Tief im Gedächtnis unserer Völker ist die Deportation und die Zwangsarbeit von 120 000 Deutschen, davon über 70 000 aus Rumänien, von denen über 30 000 Siebenbürger Sachsen, Gemeindemitglieder der Evangelischen Kirche, waren“, stellte Guib fest und sprach von der „größten Tragödie in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen und der Evangelischen Kirche“.
Bischof Reinhart Guib ...
Bischof Reinhart Guib
Die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien habe hierzu bereits im August 2014 die Veranstaltungsreihe „Glauben und Gedenken: Kirche unterwegs – 70 Jahre seit Evakuierung und Deportation“ gestartet und infolgedessen zum Deportationsgedenken in Siebenbürgen, in Rumänien, Ungarn, Österreich und in Deutschland eingeladen (diese Zeitung berichtete mehrfach). Bischof Guib erinnerte an die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen in den Deportationslagern. Das geschehene Unrecht habe bei den Betroffenen und ihren auseinandergerissenen Familien „unsagbares Leid“ erzeugt. Die Deportationsopfer „haben stellvertretend für alle am Krieg Schuldigen gesühnt und nicht wenige haben das mit ihrem Leben bezahlt“. Ihnen gebühre „unsere Ehrfurcht, unser Mitgefühl und teilnahmsvolles Gedenken“.

Im Kontext von Zwangsmigration und ethnischer Säuberung


Hon.-Prof. Dr. Konrad Gündisch referierte in einem 20-minütigen Vortrag überblicksartig die wesentlichen historischen Hintergründe der Deportation der deutschen Bevölkerung aus Südosteuropa zur sogenannten Wiederaufbauarbeit in der Sowjetunion. Der Historiker zitierte eingangs die Stalinsche Verordnung vom 16. Dezember 1944, wonach das Staatliche Verteidigungskomitee der UdSSR u. a. beschloss: „Die Mobilisierung und Internierung aller arbeitsfähigen Deutschen – Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren, Frauen von 18 bis 30 Jahren -, die sich auf den von der Roten Armee befreiten Territorien Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei befinden, und ihre Verbringung zur Arbeit in die UdSSR. Zu mobilisieren sind sowohl Deutsche deutscher und ungarischer Staatsangehörigkeit als auch Deutsche mit der Staatsangehörigkeit Rumäniens, Jugoslawiens, Bulgariens und der Tschechoslowakei.“ Wie der Referent ausführte, begann die Umsetzung der Maßnahmen im Herbst 1944 in Jugoslawien. Die von dort in die Sowjetunion Deportierten hätten im Vergleich zu jenen, die in Titos Todeslager verbracht worden seien, „zumindest eine Überlebenschance“ gehabt.
Hon.-Prof. Dr. Konrad Gündisch ...
Hon.-Prof. Dr. Konrad Gündisch
Hauptschauplatz der Mobilisierung und Internierung der arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung aus Südosteuropa sei alsbald Rumänien geworden. Die rumänische Regierung habe in einer Note an den stellvertretenden Vorsitzenden der Alliierten Kontrollkommission für Rumänien, General Vinogradov, vergeblich auf zu befürchtende negative Auswirkungen dieser verordneten Maßnahme hingewiesen. Am 2. Februar sei die Operation zur Mobilisierung, Internierung und Deportierung der deutschen Bevölkerung aus Südosteuropa in die UdSSR abgeschlossen gewesen. Wie NKWD-Akten belegten, seien 111 831 deutsche Frauen und Männer in die Sowjetunion deportiert worden, zusätzlich aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, vor allem aus Oberschlesien und Ostpreußen, 77 741 Personen. Allein im ersten Deportationsjahr seien 35 775 Menschen gestorben, was einer Sterberate von 17,2 % entspreche. Ursächlich für die hohe Sterberate sei neben den physischen und psychischen Strapazen des wochenlangen Transportes vor allem das abverlangte Arbeitspensum in Kohlengruben, in der Landwirtschaft, beim Holzfällen und bei Aufräumarbeiten in den Städten gewesen, dazu die unzureichende Ernährung sowie Krankheiten und Seuchen infolge der hygienischen Bedingungen. Die erste Entlassungswelle von 1945-1946 habe insbesondere Kranke und Arbeitsunfähige betroffen, so Gündisch. Durch die Folgejahre zogen sich, bis 1949, Lagerauflösungen und Rücktransporte nach Deutschland. In seinem Fazit ordnete Konrad Gündisch die Deportation in den „Kontext von Zwangsmigration und ethnischer Säuberung, die ganz besonders vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg als Mittel der Politik genutzt wurden und leider auch heute noch eingesetzt werden“.

Im Gespräch


Nach der Mittagspause, die Gelegenheit zur Begegnung und zum Gesprächsaustausch bot, folgte eine szenische Lesung unter dem Titel  „Vielleicht heißt die russische Einsamkeit Wanja“. Der von Dr. Florian Kührer-Wielach vom Institut für Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) vorbereitete Programmpunkt griff auf literarische Texte von Rainer Biemel, Herta Müller, Bernhard Ohsam, Oskar Pastior sowie Erwin und Joachim Wittstock zurück, in denen sich die Autoren mit verschiedensten Aspekten der Deportation, wie Heimatverlust, Hunger, Kälte, Tod, Liebe und Humanität auseinandersetzen. Die Interpreten Jim Seclaoui, Dipl.-Sprecher und Dipl.-Sprecherzieher, Hannah Elischer und Simon Rossa, beide Studierende an der Akademie für darstellende Kunst Ulm, lasen sensibel und engagiert.
Szenische Lesung mit den Interpreten (von links) ...
Szenische Lesung mit den Interpreten (von links) Simon Rossa, Hannah Elischer und Jim Seclaoui.
Den Nachmittag beschlossen Podiumsgespräche, die von der Hörfunkjournalistin Anita Schlesak vom Südwestrundfunk Studio Ulm in drei unterschiedlichen Konstellationen geführt wurden: zunächst mit Zeitzeugen über die Zwangsarbeitslager, danach mit Angehörigen von Deportierten über die Auswirkungen auf die Familien. In einer dritten Gesprächsrunde erörterten landsmannschaftliche Spitzenvertreter Formen der Erinnerung und der Wiedergutmachung in den von der Deportation betroffenen Ländern. Gleichsam in konzentrischen Kreisen erweiterte sich so der Dialog von der Erlebnisgeneration über mittelbar berührte Familienangehörige bis hin zu den Interessenvertretern.
Ehemalige Deportierte trugen sich bei der ...
Ehemalige Deportierte trugen sich bei der Gedenkveranstaltung in eine Liste ein mit den persönlichen Angaben und dem jeweiligen Arbeitslager.

Das alltägliche Grauen hautnah


Als Zeitzeugen äußerten sich Anton Schenk (Stuttgart), Donauschwabe aus der Batschka, der Banater Schwabe Johann Noll (Augsburg) und Helmut Weinschrott, (Temeswar). Schenk (zitternde Hand, feste Stimme) erinnerte an das erste Todesopfer auf dem Weg in die Deportation, eine 24-jährige Hatzfelderin: „Wir konnten ihr nur das Grab schaufeln und den Rosenkranz hineingeben.“
Zeitzeugen erinnern sich im Gespräch mit Anita ...
Zeitzeugen erinnern sich im Gespräch mit Anita Schlesak an ihre Deportationserfahrungen, von links: Helmut Weinschrott, Anton Schenk und Johann Noll.
Die unmenschlichen Verhältnisse im Lager kann Johann Noll aus St.-Andres nicht vergessen, den Hunger, die Kälte („Finger erfroren“), die Läuse und Wanzen, die Enge („ich war im Zimmer mit 60 Ungarndeutschen“); einmal fingen und töteten sie einen Hund, kochten und aßen ihn. Jüngster in der Runde war Helmut Weinschrott, dessen Eltern deportiert worden waren, der in einem ukrainischen Arbeitslager zur Welt gekommen ist, der als Kleinkind in einem unter der Zimmerdecke fixierten Leintuch lag, um vor den Wanzen geschützt zu sein, und der endlich 2004 seinen Geburts- und zugleich den mütterlichen Leidensort, jenes Arbeitslager in der Ukraine, besucht hat.

Großmutti lachte nicht mehr


Der Fokus des zweiten Gesprächskreises lag auf Familiengeschichten. Die Lehrerin und Stadtführerin Maria Kottsieper aus Ulm präsentierte dem Publikum ein Erinnerungsstück der Deportation, zwei Muschelketten, bestehend aus aneinandergefädelten Schnecken aus dem Schwarzen Meer. Ihre Eltern haben sich 1945 in der Deportation im Lager Nr. 1852 in Baschkirien kennen gelernt. Die ungarndeutsche Historikerin Judit Müller, Direktorin des Janus Pannonius Museum in Fünfkirchen / Pécs, brachte ein aus der Zeit der Verschleppung erhalten gebliebenes Stück Brot mit. Von ihrer Großmutter wusste sie zu berichten: „Großmutti war im Ural, vier Jahre lang. Sie musste zwei Kinder zurücklassen. Ich sah meine Großmutti nie im Leben lachen. Sie hat nie über die Russlandjahre gesprochen. Vor 20 Jahren ist sie gestorben.“ Das Trauma macht sprachlos.
Anita Schlesak (2. von rechts) moderiert die ...
Anita Schlesak (2. von rechts) moderiert die Gesprächsrunde „Familiengeschichte“ mit (von links) Maria Kottsieper, Dr. Renate Weber-Schlenther und Judit Müller.
Dr. Renate Weber-Schlenther aus Münster, ehemaliger DDR-Flüchtling, hat das Schicksal von 30 000 Siebenbürger Sachsen wissenschaftlich erforscht. Die Soziologin erklärte die signifikant höhere Sterblichkeit der Männer im Vergleich zu den deportierten Frauen mit dem höheren Altersdurchschnitt der Männer, der schwereren Arbeit, der minder hygienischen Verhaltensweise und dem häufigen Eintauschen der Brotration gegen Tabak.

Den Erinnerungstransfer an künftige Generationen leisten


Anita Schlesak stellte die Teilnehmer des dritten Gesprächskreises vor: Dr. Bernd Fabritius, MdB, Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV) und Bundesvorsitzender des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Hans Supritz, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Donauschwaben, und Erwin Josef Țigla, Vorsitzender des in Reschitza / Reșița ansässigen Demokratischen Forums der Banater Berglanddeutschen. Anknüpfend an das Motto dieser Gesprächsrunde, „Erinnerung in den Deportationsgebieten“, wies Josef Țigla auf das 1995 in Reschitza enthüllte und eingeweihte Denkmal hin. Über das Schicksal der deutschen Deportationsopfer sollten verstärkt Jugendliche informiert werden unter Einbeziehung der Schulen. Die Moderatorin sprach an Dr. Bernd Fabritius gewandt die als Folge intensiver Bemühungen des Verbandes von Rumänien gezahlten Entschädigungsrenten für Russlanddeportierte an. Dr. Fabritius betonte, dass aktives Gedenken über materielle Werte gehe.
„Erinnerung in den Deportationsgebieten“: Der ...
„Erinnerung in den Deportationsgebieten“: Der Bundesvorsitzende Dr. Bernd Fabritius, MdB (2. von links), im Dialog mit (von links) Hans Supritz, Anita Schlesak und Erwin Josef Țigla.
Der Bundesvorsitzende erinnerte an die beim Heimattag der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl 2012 übermittelte Botschaft des damaligen rumänischen Staatspräsidenten Traian Băsescu, der den Weggang der Deutschen aus Rumänien als großen Verlust für sein Land bedauerte und sich für eine Wiedergutmachung des von ihnen erlittenen Leids aussprach. „Das ist heilend für die Deportierten“, meinte Fabritius. Gegenüber der Moderatorin unterstrich der BdV-Präsident energisch, dass der vom Deportationsschicksal betroffenen deutschen Zivilbevölkerung „keine Kollektivschuld“ angelastet werden dürfe im Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, denn „Schuld ist individuell“. Fabritius registrierte allgemein eine „Kriegsgeschichtenmüdigkeit“ und bei jüngeren Generationen „verstärkt Empathielosigkeit, Verständnislosigkeit für die Sonderopfer“. An die eigene Generation appellierte der Bundesvorsitzende, diesen „Erinnerungstransfer“ an kommende Generationen zu leisten. Eingedenk der Präsenz eines rumänischen Fernsehsenders regte er an, dass das Fernsehen „das Wissen um das Schicksal unserer Landsleute in der rumänischen Gesellschaft bekannter machen“ solle. Deutsche Heimatvertriebene sollten vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen für Heimatflüchtlinge eintreten, die dem Terror des „Islamischen Staates“ entrinnen konnten. In seinen Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Solidarität bezog Dr. Fabritius auch die Muslime ein, die nach den schrecklichen Ereignissen in Paris nicht kollektiv verdächtigt werden dürften.

Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Donauschwaben, Hans Supritz, äußerte sich zuversichtlich hinsichtlich einer zunehmend angemesseneren Reaktion von Serbien auf das Schicksal der Donauschwaben: „Das Restitutions- und Rehabilitierungsgesetz hat es auch den Donauschwaben ermöglicht, Anträge auf Rückgabe enteigneten Vermögens zu stellen.“ Die Entwicklung sei insgesamt positiv, es gebe Schüleraustausch, die von der EU-Kommission für den Donauraum erarbeitete Donaustrategie zeitige Wirkung.

Die Moderatorin beschloss den Dialog – und gleichzeitig die Gedenkveranstaltung – mit der Aussage: „Ich wünsche mir, dass die Sehnsucht nach Frieden weltweit wächst, dann hat das Leben Sinn!“ Großer Beifall im Saal.

2005 hatten an der Gedenkveranstaltung in der Donauhalle in Ulm noch Dutzende ehemalige Deportierte teilgenommen, insgesamt rund 900 Gäste. Die Reihen haben sich inzwischen weiter gelichtet. In die (Über)Lebensfreude verhakt ist das unerbittliche Memento mori, es fragt sie, ihn, uns: Was hast du Mensch existenziell ausgestanden als jener, der du warst, im Werden zu jenem, der du – noch – bist? Warum geschah das alles? Was hielt dich, woran hieltst du dich, seelenwund, fest? Und: Wofür lebst du weiter, mit deinen Erinnerungen und Erfahrungen, in dieser Welt, in dieser Gesellschaft?

Christian Schoger

Schlagwörter: Deportation, Gedenkfeier, Ulm, Russland, Rumänien, Ungarn, Deutschland Serbien, Zwangsarbeit, Entschädigung

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