30. Mai 2007

Erika Steinbach: "Jede vierte Familie in Deutschland ist vom Vertreibungsschicksal betroffen"

Erika Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, hat in ihrer Festrede beim Heimattag der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl ihre Freude über die Aufnahme Rumäniens in die Europäische Union zum Ausdruck gebracht. Dadurch seien „die Heimatgebiete deutscher Vertriebener und der Siebenbürger Sachsen ganz nahe gerückt“. Die CDU-Politikerin lobte die Aufgeschlossenheit der rumänischen Regierung gegenüber den Deutschen aus Rumänien: „Es kommt nicht häufig vor, dass hohe und höchste Vertreter eines östlichen Staates bis hinauf zum Staatspräsidenten die Fortgegangenen zur Heimkehr aufmuntern“. Gleichwohl erinnerte Steinbach an die schikanösen Bedingungen im kommunistischen Regime und das Schicksal der mehr als 15 Millionen deutschen Deportations- und Vertreibungsopfer aus ganz Mittelost- und Südosteuropa. „Es ist eine lange überfällige Verpflichtung Deutschlands, endlich eine Dokumentationsstätte in Berlin zu errichten, in der das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler und ihre Siedlungsgeschichte deutlich werden“, erklärte die BdV-Präsidentin am Pfingstsonntag in Dinkelsbühl. Ihre Ansprache wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben.
Sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender, lieber Herr Dürr, verehrte Ehrengäste, meine lieben Siebenbürger Sachsen,
ich grüße Sie alle sehr herzlich seitens aller Landsmannschaften des Bundes der Vertriebenen. Es ist etwas ganz Bemerkenswertes, wenn gestern beim Bundestreffen der Deutschen aus Russland und heute hier in Dinkelsbühl, bei Ihnen, zuvor der Gottesdienst und ein geistliches Wort mit dazugehören, als elementarer Teil der Gemeinschaft und des Gemeinschaftslebens. Das macht eines deutlich: Der christliche Glaube, egal ob katholisch oder evangelisch, war über alle Zeiten des Elends und der Not und der Katastrophen, die die deutschen Heimatvertriebenen und Spätaussiedler betroffen haben, Halt für die Menschen. Wo es nichts anderes mehr gab, dachte man an Gott und wusste, da ist ein Anker, an den ich mich halten kann.

BdV-Präsidentin Erika Steinbach während ihrer Ansprache beim Heimattag 2007 in Dinkelsbühl. Foto: Josef Balazs
BdV-Präsidentin Erika Steinbach während ihrer Ansprache beim Heimattag 2007 in Dinkelsbühl. Foto: Josef Balazs
Ihr diesjähriges Leitwort „Wir in Europa“ ist ein treffendes Leitwort. Seit fünf Monaten gehört Rumänien und damit auch Ihre siebenbürgische Heimat zur Europäischen Union. Und gewiss hat diese tausendjährige Kulturlandschaft – auch in Zeiten schlimmster kommunistischer Diktatur – nie aufgehört, mit seinen verschiedenen Nationalitäten und Volksgruppen zum europäischen Kulturkreis, zum Abendland zu gehören. Selbst zu Zeiten des Eisernen Vorhanges nicht. Und die letzte Erweiterungsrunde der Europäischen Union (EU) hat einen Prozess zum Abschluss gebracht, der Ihre Heimat und die Heimat der anderen Rumäniendeutschen endgültig mit dem organisierten Europa wieder verbindet. Ich freue mich, dass Rumänien jetzt zur Europäischen Union gehört, weil damit die Heimatgebiete deutscher Vertriebener und der Siebenbürger Sachsen ganz nahe gerückt sind. Es ist ein schöner Zufall, oder vielleicht ist es auch kein Zufall, dass Hermannstadt zur diesjährigen Kulturhauptstadt Europas gekürt wurde, wobei man sicherlich festhalten kann, dass Schäßburg, Kronstadt oder Klausenburg auch wunderschöne Städte sind, aber freuen wir uns für Hermannstadt und auch seinen großartigen Bürgermeister.

Rumäniens Aufnahme in die EU

Es waren große und auch anspruchsvolle Bedingungen im Zuge der Annäherung an die EU zu erfüllen und der Anpassungsprozess war für viele – auch in Siebenbürgen – mit schmerzhaften Einschnitten verbunden. Aber ich bin überzeugt, dass es sich gelohnt hat.

Gewiss: Es leben heute nicht mehr viele Sachsen und Schwaben in Siebenbürgen, im Banat oder in Sathmar, aber die Verbindung der Landsleute in der Heimat mit der weltweiten Diaspora bis hin in die Vereinigten Staaten hinüber ist sehr eng und ist sehr gut. Die große Aussiedlungswelle insbesondere des Jahres 1990, als nach dem Sturz der Diktatur in wenigen Monaten ja über 100 000 Deutsche aus Rumänien nach Deutschland übersiedelten, hat dort in der Heimat Lücken hinterlassen, die sicherlich auch nicht mehr aufzufüllen sind.

Vorbildlicher Zusammenhalt der Siebenbürger Sachsen

Aber ihre vielfältigen und intensiven Kontakte in die Heimat, das alles stimmt mich zuversichtlich, dass Siebenbürgen seine von Sachsen, Rumänen und Magyaren ja gleichermaßen geprägte, in diesem Fall sage ich multikulturelle Eigenart – und ich benutze den Begriff hier ausnahmsweise positiv, weil es ein konstruktives Miteinander war.

Sicherlich: Das Neben- und das Miteinander der Nationalitäten war auch über die Jahrhunderte nicht immer leicht. Nationalismen dies- und jenseits der Karpaten haben Siebenbürgen oft zum Spielball fremder Interessen gemacht und die Sachsen häufig genug zwischen Fronten geraten lassen. Aber sie sind geschickt gewesen, sie haben es immer wieder verstanden, zwischen diesen Fronten nicht zermahlen zu werden. Dass widerstreitende Interessen aber nun in der jetzt gemeinsamen europäischen Rechts- und Wertegemeinschaft leichter und friedlich ausgetragen werden können, das halte ich für einen der größten Nutzen, die die ganze Union aus der Entwicklung der vergangenen Jahre ziehen konnte. Dass das gar nicht so selbstverständlich ist, zeigt allein ein Blick auf die trostlosen Verhältnisse in Siebenbürgens südwestlichem Nachbarland.

Die deutsch-rumänischen Beziehungen sind traditionell gut; und gerade die Deutschen aus Rumänien haben hierzu stets maßgeblich beigetragen. Und es kommt nicht häufig vor, das weiß ich aus anderen Landsmannschaften im Bund des Vertriebenen, das hohe und höchste Vertreter eines östlichen Staates bis hinauf zum Staatspräsidenten die Fortgegangenen zur Heimkehr aufmuntern. Das erlebe ich kaum bei anderen Ländern jenseits des früheren alten Eisernen Vorhanges. Ich würde mir das aber sehr wünschen von Repräsentanten unserer zwei unmittelbar östlichen Nachbarstaaten, dass auch von dort solche Signale ausgesendet werden. Zurzeit ist das leider undenkbar.

Gemeinsames Schicksal der Vertriebenen und Aussiedler

Ihre Landsmannschaft, liebe Siebenbürger, ist von Anbeginn ein fester und ein treuer Mitgliedsverband in der großen Schicksalsgemeinschaft des Bundes der Vertriebenen gewesen und ist es bis heute. Ich weiß sehr wohl, dass es innerhalb Ihres Verbandes darüber manchmal auch Diskussionen gegeben hat, weil manche sich nicht als Vertriebene aus ihrem Selbstverständnis heraus empfunden haben. Aber gleichwohl wissen Sie und wissen wir, dass Sie über einen langen Zeitraum unter schikanösen Bedingungen gelebt haben und begrenzte Aussiedlungsbewegungen der 70er und der 80er unter einem objektiven Vertreibungsdruck standen. Die Menschen konnten es mit ihren Familien unter der besonders despotischen kommunistischen Diktatur Ceaușescus eben nicht mehr ertragen und haben deshalb den Wunsch gehabt, dieses Land zu verlassen. Das Schicksal vieler Tausender Rumäniendeutscher im Jahre 1945 mit der für viele tödlichen Deportation in die Sowjetunion war ohnedies das gleiche wie für hunderttausende andere zur Zwangsarbeit Verschleppte aus z.B. Ostpreußen, aus Jugoslawien oder dem Sudetenland. Das Los des Verlustes der Heimat eint alle Vertriebenen und Spätaussiedler nach wie vor.

Damit dieses Los von Millionen, die stellvertretend für alle Deutschen besonders leiden mussten, obwohl sie keine besondere Schuld trugen, nicht in Vergessenheit gerät, hat der Bund der Vertriebenen die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN (ZgV) ins Leben gerufen. Mit dieser Stiftung wollen wir das Schicksal der mehr als 15 Millionen deutschen Deportations- und Vertreibungsopfer aus ganz Mittelost- und Südosteuropa mit ihrer reichhaltigen Kultur, die wir hier heute beim Trachtenumzug sehen konnten, und mit der Siedlungsgeschichte verdeutlichen. Man muss in Deutschland erfahren können, dass die Siebenbürger Sachsen nicht als Krieger in Siebenbürgen eingefallen sind, nein, sie wurden gerufen. Die Menschen hier im Lande wissen ja nichts darüber, diese Siedlungsgeschichte wollen wir sichtbar machen. Und das Schicksal der über vier Millionen Aussiedler, die seit den 50er und den 80er Jahren nach Deutschland gekommen sind. Mit ihren Schicksalen dürfen die Vertriebenen und die Aussiedler nicht alleine gelassen werden; es ist eine gesamtdeutsche Aufgabe.

Eine gesamtdeutsche Aufgabe

Wir wollen durch die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN (ZgV) die Veränderungen Deutschlands durch die Aufnahme und Eingliederung entwurzelter Landsleute mit Auswirkungen auf alle Lebensbereiche ausleuchten und wollen das „unsichtbare Fluchtgepäck“ deutlich machen, das die Aussiedler, die Vertriebenen mitgebracht haben, wie es die Dichterin Gertrud Fussenegger mal nannte, es war auch ein technisches, handwerkliches, wirtschaftliches oder akademisches Wissen, das von den hier Angekommenen mitgebracht und fruchtbar umgesetzt worden ist. Ein Wirtschaftswunder hätte es ohne die Vertriebenen und die Aussiedler so in dieser Art, wie es Deutschland erlebt hat, gar nicht geben können. Hinzu kamen achthundertjährige eigenständige kulturelle Identität und Erfahrungen im Neben- und Miteinander mit slawischen, ungarischen, rumänischen oder baltischen Nachbarn. Die deutschen Heimatvertriebenen und die Spätaussiedler haben eine interkulturelle Kompetenz mitgebracht, die für unser Land hilfreich ist. Mit ihrem frühen Bekenntnis zu einem Europa, in dem die Völker und Volksgruppen in Frieden miteinander leben können, schon 1950, waren sie den meisten Menschen in Deutschland weit voraus. Sie, liebe Siebenbürger, wissen ja viel intensiver als andere, dass Europa eben nicht an Oder und Neiße oder dem Bayerischen Wald und eben auch nicht an den Karpaten endet. Europa ist größer. Ihre Erfahrungen sollen in unsere Stiftung einfließen und auch für künftige Generationen die Werte, die uns Deutsche ausmachen, deutlich machen. Es ist ein Teil unserer kulturellen Identität, was die Aussiedler und die Vertriebenen mit hierher gebracht haben. Es geht alle Deutschen an, es geht gerade auch die Nichtvertriebenen und die Nichtausgesiedelten Deutschen an, die auf der besseren geographischen Seite des Schicksals lebten, es gehört auch zu ihrem Erbe dazu.

Die erste Ausstellung, die unsere Stiftung auf den Weg gebracht hat im Herbst vorigen Jahres in Berlin, hat 60 000 Besucher erlebt. Das ist ein gutes Zeichen, und ab 17. Juni 2007 gehen wir mit dieser Wanderausstellung in die Frankfurter Paulskirche und im Herbst nach München.

Als Nächstes aber wollen wir eine Ausstellung über die Siedlungsgeschichte der Deutschen vorbereiten. So wie wir die erste Ausstellung völlig alleine finanziert haben, wollen wir auch die nächste Ausstellung versuchen aus eigenen Kräften auf die Beine zu stellen. Sie sind herzlich eingeladen dazu beizutragen.

"Sichtbares Zeichen zu Flucht und Vertreibung"

Die Aktivitäten des gesamten BdV haben mit Ihrer Hilfe dazu beigetragen, dass heute deutsche Schicksale von Vertriebenen und Aussiedlern bekannter sind als noch vor zehn Jahren. Man spricht, schreibt Berichte oder streitet auch darüber. Das trägt zum Bekanntheitsgrad bei. Die Vertriebenen waren auch die treibende Kraft, dass in der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung ein sogenanntes „Sichtbares Zeichen zu Flucht und Vertreibung“ vereinbart worden ist.

Zurzeit, das muss ich sagen, ist dieses Zeichen noch ziemlich unsichtbar, aber der Bundeskanzlerin liegt daran. Sie will es, sie hat selbst in Warschau gesagt: „Ich verstehe und ich unterstütze, dass die deutschen Vertriebenen und Aussiedler an ihr Schicksal erinnern wollen.“ Das war ein mutiges Wort an einem schwierigen Ort, und dafür danke ich ihr.

Und es ist eine lange überfällige Verpflichtung Deutschlands, endlich eine Dokumentationsstätte über diese deutschen Schicksale in Berlin zu errichten. Wenn diese Bundesregierung das hinbekommt, dann ist es ein epochales Ereignis, denn jede vierte Familie in Deutschland ist von solchen Schicksalen betroffen. Ich freue mich, dass in Hessen und in Bayern und vielen anderen Bundesländern inzwischen die Schicksale und die Geschichte von Flucht und Vertreibung in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen worden sind. Unsere Kinder und Kindeskinder müssen eben wissen, wo die Wurzeln der Eltern und Großeltern waren und die der Nachbarn.

Meine lieben Siebenbürger, Petrus hat es gut gemeint, rundherum waren gestern Gewitter. Heute sind Gewitter angesagt. Sie haben ein wunderbares blaues Himmelsloch über sich. Ich glaube, es hält den ganzen Tag noch für Sie, ich wünsche Ihnen frohe Stunden. Sie haben heute vorgeführt, welch reiches kulturelles Erbe in Ihnen schlummert mit Jung und mit Alt, alle miteinander, alle Generationen. Viel Freude noch und die Grüße aller mehr als 20 Landsmannschaften des Bundes der Vertriebenen.

Schlagwörter: Heimattag, BdV, Flucht und Vertreibung

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  • 19.03.2009, 15:57 Uhr von Don Carlos: Danke,joker, für die Hörer-Tipps zur Erika Steinbach-Thematik. Aus aktuellem Anlass bietet sich ... [weiter]

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