15. Juni 2010

Im Alleingang auf den Aconcagua

Der gebürtige Kronstädter Klaus Petzak stieg – notgedrungen, da seine Expeditionspartner kurz­fristig absprangen – allein auf den Aconcagua in Argentinien. Im Folgenden berichtet er von der Besteigung des höchsten Berges Südamerikas.
Der Aconcagua, mit komplettem Namen Cerro Aconcagua, ist mit seinen 6 962 m der höchste Berg des amerikanischen Kontinents und der höchste Gipfel der westlichen Hemisphäre. Es führen viele Routen mit unterschiedlichen Schwierigkeiten auf den Gipfel. So z. B. gilt der Normalweg als höchste Trekkingroute der Welt und die über 2 000 m hohe Südwand kann einem Vergleich mit der Eiger Nordwand standhalten. Der Aconcagua liegt in Argentinien, an der Grenze zu Chile und nahe am Pazifik. Besonders der Wind, die Kälte, das schnell wechselnde Wetter und die Höhe machen eine Besteigung schwierig. Nur ca. 30 % der Bergsteiger, die eine Besteigung versuchen, erreichen den Gipfel.

Es sollte eigentlich eine kleine Expedition mit zwei guten Freunden auf meinen ersten hohen Berg werden, so die Vorstellungen vor anderthalb Jahren. Zu der Umsetzung dieser Pläne sollte es aber nicht kommen, da sich bei beiden Freunden Nachwuchs angemeldet hatte. Kurzfristige Versuche, andere Freunde zu einer Expedition in der Vorsaison zu bewegen, blieben verständlicherweise erfolglos. Für die Entscheidung, den Besteigungsversuch alleine zu wagen, war mir die Zustimmung der Familie wichtig. Diese kam auch recht schnell, nachdem mir das Versprechen entlockt wurde, eine leichte Route für den Aufstieg zu wählen. Da nach den negativen Meldungen im Internet der Normalweg nicht in Frage kam, hatte sich die Routenwahl ziemlich vereinfacht. Die Vorteile der „Polen Traverse“ (auch „Falsche Polen Route“ genannt) im Vergleich zum Normalweg lagen auf der Hand: Der Anmarsch ins Basislager dauert drei Tage, was eine bessere Akklimatisation bedeutet; auf der Route sind weniger Bergsteiger unterwegs, so dass ein guter Zeltplatz in den Lagern immer vorhanden ist, und die landschaftlichen Eindrücke sind intensiver, da ab dem zweiten Tag der Gipfel fast immer im Blickfeld bleibt. Vier Wochen vor dem Abflug musste nur noch der Urlaub genau abgestimmt, ein Flugticket gekauft und ein leichtes Zelt beschafft werden. Die ersten zwei Punkte waren innerhalb weniger Tage abgehakt. Ein Dreipersonen-Expeditionszelt lag im Keller, aber mit 5,3 kg eindeutig zu schwer für einen Alleingang. Mit Hilfe der freundlichen Verkäufer von SPORT IN, denen ich in der Zeit häufig auf die Nerven ging, konnte noch rechtzeitig ein Zelt beschafft werden.

2. Dezember 2009
Am Vormittag wurde schnell noch die ganze Ausrüstung auf zwei Expeditionstaschen von 22 kg und 10 kg verteilt. Die Fahrt nach München, ein kurzer Abschied von der Familie am Flughafen, dann zweieinhalb Stunden Flug nach Madrid und 13 Stunden nach Santiago de Chile fielen doch etwas leichter als vorgestellt.

3. Dezember 2009
Die Einreise nach Chile und die sieben Stunden Fahrt mit dem Bus nach Argentinien waren auch unproblematisch, sogar kurzweilig für einen Bergsteiger, der das erste Mal die Anden sieht. Eine Vorauswahl an Hotels hatte ich schon zu Hause getroffen, so dass ich am Abend das Zimmer im Hotel meiner Wahl in Mendoza beziehen konnte.

4. Dezember 2009
Am nächsten Morgen hielt ich innerhalb einer Stunde das Permit in der Hand und zusätzlich eine Liste der offiziellen Firmen, die verschiedene Serviceleistungen am Berg anbieten. Dadurch konnte der Mulitransport des Gepäcks ins Basislager ziemlich schnell organisiert werden. Die Tickets für die Fahrt am nächsten Tag, die Gaskartuschen und das Essen für 15 Tage waren bis zum Nachmittag gekauft. Danach musste nur noch das ganze Gepäck auf die zwei Taschen für die Mulis und den Rucksack für den Anmarsch verteilt werden. Nach getaner Arbeit blieb noch etwas Zeit die Stadt zu erkunden und eines der berühmten argentinischen Steaks an einem herrlichen Sommerabend im Freien zu genießen.

5. Dezember 2009
Am nächsten Morgen hieß es früh aufstehen, um vom Busterminal in Mendoza in Richtung Penitentes zu starten. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Uspallata und nach vier Stunden Fahrt stieg ich mit zwei Taschen und einem Rucksack als einziger Fahrgast aus. Penitentes liegt ungefähr auf halber Strecke zwischen Puente del Inca und Punta de Vacas, den beiden Startpunkten zum Aconcagua. Im Winter wird in Penitentes Ski gefahren und im Sommer das Gepäck der Touristen auf die Mulis geladen. Ganz pünktlich wie am Vortag vereinbart, kam Osvaldo von der Firma Lanko, einer der kleineren Expeditionsanbieter, wog das Gepäck für den Muli (28 kg) und brachte mich nach Punta de Vacas (2 400 m). Hier konnte das große Abenteuer beginnen. Und es begann mit einem fünfstündigen Marsch entlang des Vacas-Flusses bis nach Pampa de Lenas (2 800 m). Hier befindet sich die erste Station der Parkranger. Jeder wird registriert und bekommt eine Mülltüte, die beim Verlassen des Nationalparks wieder abgegeben werden muss. An diesem ersten Tag in den Bergen hatte ich nur kurz Bekanntschaft mit dem Wind geschlossen, der sich als der zuverlässigste Begleiter der Expedition erweisen sollte. Ich lernte die ersten Bergsteiger kennen: Ron, ein älterer Amerikaner, und Lee, ein kräftiger Engländer, mit denen ich noch die nächsten Lager teilen sollte. Mit den sechs Teilnehmern einer spanischen Expedition ergaben sich kaum Kontakte wegen unseren gegenseitigen begrenzten Sprachkenntnisse. Leider musste eine Einladung der Arrieros zum „Grillabend“ ausgeschlagen werden, da ich kurz vorher Unmengen an Nudeln gegessen hatte.

6. Dezember 2009
Zu meinem Schrecken musste ich feststellen, dass meine neuen Schuhe die erste Etappe mehr schlecht als recht überstanden hatten und zerrissen waren. Nach einer windigen und sorgenvollen Nacht musste ich als erstes meine Schuhe nähen, da ich bis auf die Plastik-Stiefel, die aber auf dem Rücken eines Mulis waren, aus Gewichtsgründen keine anderen Schuhe dabei hatte. Bei meinem späten Start gegen Mittag waren alle anderen Expeditionen schon längst aufgebrochen. Zuerst musste der Vacas-Fluss über eine neue, recht abenteuerliche Brücke überquert werden, um dann in einem recht abwechslungsreichen und windigen Weg nach ca. sechs Stunden das Lager Casa de Piedra (3 200 m) zu erreichen. Hier traf ich meine Bekannten vom Vortag und musste erneut eine Einladung zum „Grillabend“ ausschlagen, da sie wieder zu spät kam.

7. Dezember 2009
Am Vormittag hieß es zuerst die Schuhe ausziehen, um den knietiefen Vacas-Fluss zu durchqueren und danach dem anfänglich steilen Relinchos-Tal zu folgen. Mit zunehmender Höhe wurde das Tal immer flacher und der Gegenwind immer stärker. Dem Höhenmesser (4 200 m) und der Gehzeit von sieben Stunden nach musste das Basislager in der Nähe sein, war aber bis auf die letzten Meter nicht auszumachen. Endlich im Basislager angekommen, wurden schnell die Taschen aus dem Lanko-Zelt geholt, die Anmeldung bei den Rangers erledigt, das Zelt aufgebaut und sofort in den Schlafsack gestiegen.

8. Dezember 2009
Der erste Tag im Basislager war als Ruhetag eingeplant und wurde von mir auch rigoros durchgezogen. Nur der Weg zur Ärztin und ins Essenszelt von Daniel Lopez brachte etwas Abwechslung in den Tagesablauf. Trotz des Wertes von 80 %, den das Pulsoximeter am ersten Tag anzeigte, und einem Blutdruck von 130/80 fühlte ich mich nicht besonders wohl. Es gab keine Anzeichen für eine Höhenkrankheit. Ich fühlte aber, dass meine Kräfte noch nicht vollständig zur Verfügung standen. In der zweiten Nacht im Basislager sorgte der Wind für etwas Abwechslung. Die Spannleinen wurden noch einmal von mir kontrolliert, bevor ich mit dem MP3-Player für eine angenehmere Geräuschkulisse sorgte und einschlafen konnte.

9. Dezember 2009
Am diesem Tag wollte ich je nach Abhängigkeit meines Wohlbefindens entscheiden, ob ich den Transport einer Verpflegungstasche ins Lager 1 wagen würde. Leider blieb mein Wohlfühlpegel bei ca. 80 %, so dass ich mich für einen zusätzlichen Ruhetag entschied. Ein erneuter Besuch bei der Lagerärztin endete mit ihrer Ermutigung nach oben zu gehen, da körperlich alles in Ordnung sei. Ein Spaziergang bis auf 4 600 m und eine Verabredung mit Ron und Lee am Nachmittag in Daniel Lopez’ Zelt sollte erneut etwas Abwechslung in den Tagesablauf bringen. Bei unserem „five o’clock tea“ konnte ich Bekanntschaft mit Laurie machen, dem sympathischen Leiter einer kanadischen Expedition mit neuen Teilnehmern. Die Nacht war ziemlich angenehm, bis auf die vier bis fünf Liter Flüssigkeit, die mein Körper nicht ganz verarbeiten konnte.
Die Route auf den Aconcagua. ...
Die Route auf den Aconcagua.
10. Dezember 2009
Ron und Lee hatten auf ihrem Weg von Mendoza zum Aconcagua schon ein paar Fünftausender bestiegen und waren bestens akklimatisiert, so dass sie mit ihrem Aufstieg ins Lager 1 begannen. Ich hatte auch keine Gründe mehr den Aufstieg zu verzögern, da ich wieder im Besitz meiner gesamten Kräfte war, und brachte eine Tasche mit Essen, Gaskartuschen und Ausrüstungsgegenständen in drei Stunden ins Lager 1 auf ca. 5 000 m. Hier bereitete ich einen Lagerplatz vor, beschwerte die Tasche mit ein paar Steinen, genoss noch die Höhensonne, bis sich leichte Kopfschmerzen bemerkbar machten, und stieg in einer Stunde ins Basislager ab. Bei einem Tee im Essenszelt konnte ich mit Laurie und anderen Teilnehmern der kanadischen Expedition bis spät am Abend plaudern. In der Nacht kam stürmischer Wind auf, den man wie einen Güterzug den Berg herunterdonnern hörte. Ich befürchtete, dass mein Zelt bricht, aber es erwies sich doch als windstabil.

11. Dezember 2009
Am diesem Tag wurde das Zelt abgebaut, die unnötigen Sachen und das Essen für den Abstieg in die zweite Tasche gepackt, diese im Lanko-Zelt abgegeben und ein Telefonanruf via Satellit nach Hause getätigt. Laut der Sechs-Tage-Vorhersage sollte das Wetter die nächsten Tage gut sein. Der Aufstieg in die höheren Lager begann. Der Weg vom Basislager führte über einen Schutthang, ein Schneefeld (von mir 1 000-Schritte-Schneefeld genannt), einen schuttbedeckten Gletscher, eine Moräne und ein zweites steileres Schneefeld in drei Stunden ins Lager 1. Die Kanadier hatten ihre Zelte etwas höher und abseits vom eigentlichen Lager im Schutz einiger großer Steinblöcke aufgebaut und mir auch einen Platz frei gehalten. Das Zelt konnte ich inzwischen auch bei stärkerem Wind ziemlich schnell aufbauen, so dass die Kälte, die mit dem Verschwinden der Sonne augenblicklich aufkam, mich im warmen Schlafsack fand. Der Rucksack, gefüllt mit allen Klamotten, ergab ein gutes Kissen, so dass eine erhöhte Schlafposition auch zu einer besseren Regeneration in der Nacht führte.

12. Dezember 2009
Ich fühlte mich besonders gut und das Wetter war herrlich warm und windstill. Das führte dazu, dass ich meinen einzigen Fehler der Expedition beging und meine Tasche in fünf Stunden über steiles Geröll und Schneefelder ins Lager 2 auf ca. 5 800 m brachte. Im Lager 2 angekommen, bemerkte ich erneut leichte Kopfschmerzen und dass ich mich nicht besonders wohl fühlte. Ich deponierte deshalb schnell die Tasche und stieg in ca. einer Stunde und 15 Minuten ins Lager 1 ab.

13. Dezember 2009
Dieser Tag wollte ich zum Ausruhen nutzen, was ich eigentlich am Vortag hätte machen sollen. Da ich keine Lust auf einen langweiligen Tag im Lager 1 hatte, beschloss ich etwas für die Psyche zu tun und ins Basislager abzusteigen, bei Daniel Lopez ein Steak zu essen und für 20 US-Dollar zu duschen. In Abstimmung mit Ron und Laurie, den erfahrensten Alpinisten am Berg, beide mit dem Everest im Tourenbuch, stieg ich ab. Das Steak war gut, die Dusche noch besser, nur der Aufstieg war etwas anders als geplant, da starker Wind und Schneefall einsetzten. Dies konnte aber die belebende Wirkung des Steaks und der Dusche nicht mindern. Der Wind hatte anscheinend beschlossen einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und stürmte in der Nacht los. Sogar mit Kopfhörern war der Wind zu hören. Die Ohrstöpsel kamen zum ersten Mal zum Einsatz und verhalfen mir zu einer guten Nacht.

14. Dezember 2009
Am Vortag waren Ron und Lee ins Lager 2 aufgerückt und die Kanadier stiegen an diesem Tag auch auf, so dass ich einen recht einsamen Ruhetag verbrachte. Bei einem Spaziergang ins eigentliche Lager 1 lernte ich noch Günter, Markus und Pius, drei Österreicher, kennen und konnte zum ersten Mal seit Tagen Deutsch sprechen. Zu meiner Überraschung tauchten am Nachmittag zwei Gestalten auf, die sich als Bill, der zweite Bergführer der Kanadier, und Linda, eine Kundin, entpuppten. Bill begleitete Linda bei ihrem Abstieg ins Basislager, da sie Symptome der akuten Höhenkrankheit zeigte und für sie die Expedition zu Ende war.

15. Dezember 2009
Am Vormittag wurde das Zelt abgebaut, alles im Rucksack verstaut und die steilen Geröllfelder in Richtung Lager 2 bei ziemlich starkem Wind angegangen. Kurz nach dem Start kamen mir Ron und Lee entgegen und erzählten kurz von ihrem Gipfelerfolg. Wir verabschiedeten uns mit dem Versprechen in Kontakt zu bleiben. Nach ca. fünf Stunden wurde das Lager erreicht. Zu meiner Überraschung waren nur die Zelte der Österreicher da. Die Kanadier hatten ihr Lager etwas höher, am Fuß des Polengletschers, errichtet. Nach kurzer Zeit stand mein Zelt auch in der Nähe des kanadischen Lagers im Schutze der Felsen. Leichte Kopfschmerzen machten sich erneut bemerkbar, so dass am nächsten Tag eine Pause sehr wahrscheinlich wurde. An dem Tag hatte mich Bills Leistung beeindruckt, der nach dem Abstieg vom Vortag an einem Tag aus dem Basislager ins Lager 2 aufgestiegen war. In der Nacht bereitete mir der Wind anfänglich etwas Sorgen, da ich keinen Hering vernünftig befestigen konnte. Aber nach der Überprüfung der Abspannpunkte konnte ich mit Ohrstöpseln noch eine recht erholsame Nacht verbringen.

16. Dezember 2009
Da die Kopfschmerzen morgens noch vorhanden waren, musste ich zusehen, wie die Kanadier in Richtung Gipfel aufbrachen. Erneut versuchte ich den Ruhetag durch Spaziergänge und Gespräche mit den Österreichern etwas weniger langweilig zu gestalten. Mit Schmelzwasser holen, Essen zubereiten und viel Tee trinken konnte die Wartezeit doch noch etwas verkürzt werden. Am frühen Nachmittag hatte ich erneut ein bekanntes Bild vor Augen. Bill begleitete Mitglieder der kanadischen Expedition, denen die Höhe auf dem Weg zum Gipfel Schwierigkeiten bereitet hatte, in Richtung Basislager. Auch der Abend kam irgendwann und mit den letzten Lichtstrahlen auch das Gipfelteam der Kanadier. Laurie stand zum 28. Mal auf dem Gipfel des Aconcagua und mit ihm zwei andere Teilnehmer. Der dritte Gipfelaspirant hatte 100 Hm unter dem Gipfel aufgeben müssen. Wir verabredeten uns für ein paar Tage später in Mendoza.

17. Dezember 2009
Da mein Wetterbericht nur bis zu dem vergangenen Tag reichte, machte ich mir Gedanken, ob das schöne Wetter am nächsten Tag noch halten würde. Vor Aufregung und Sorge zu verschlafen, in Verbindung mit starkem Wind und Kälte, verbrachte ich die schlechteste Nacht am Berg. Beim Versuch etwas Tee zu kochen, musste ich zum ersten Mal den Kocher ins Zelt nehmen, da der Wind ihn zweimal ausgepustet hatte. Um ca. 6.00 Uhr war es soweit. Ein Biwaksack, sechs Müsliriegel, einen Liter Tee, ein Fleece-Shirt, ein Paar Reservehandschuhe und Socken im Rucksack verstaut und es ging los. Bei der Querung in Richtung der Piedras Negras wurden auch die Zehen warm, die anfänglich noch kalt waren. Schneller als erwartet erreichte ich den Normalweg und auf diesem die etwas mitgenommene Independencia Biwakschachtel. Hier traf ich einen Spanier, der sich gerade die Steigeisen anlegte. Er hatte mir gesagt, dass er zum Gipfel aufsteigen wollte, aber ich sah ihn nicht mehr, nach dem ich ihn überholt hatte. In der Querung zur Canaletta musste ich ein paar Mal anhalten um dem kalten Wind den Rücken zuzudrehen und die Hände aufzuwärmen. Etwas später kam mir Pius, einer der Österreicher, entgegen. Er machte sich Sorgen um seine Finger, die er nicht mehr aufwärmen konnte, und stieg so schnell wie möglich ab. Am Beginn der Canaletta bei ca. 6 500 Hm merkte ich, dass meine großen Zehen immer kälter wurden. Da hatte ich zwei Möglichkeiten: Schuhe ausziehen, zweites Paar Socken anziehen und Zehen wärmen oder absteigen. Ich entschied mich für die erste. Zu meiner Überraschung hatte ich danach keine Probleme mehr. Auf die Canaletta war ich ganz gespannt. Bei meinen Vorbereitungen hatte ich nur Negatives darüber gehört. Ich erwartete eine steile Rinne mit viel losem Geröll, die sehr anstrengend sein sollte. Mir hatte die Canaletta aber ihre gutmütige Seite gezeigt. Am rechten Rand lag bester Firn, perfekt für das Gehen mit Steigeisen. Kein einziger Stein rollte runter, alles war fest gefroren. Windgeschützt war das Ganze auch noch. Kurz vor dem Ende der Canaletta kamen mir Markus und Günter im Abstieg entgegen, die schon um 4.00 Uhr gestartet waren. Nach einem kurzen Glückwunsch und der Ermahnung den Abstieg nicht zu spät anzutreten ging der Aufstieg weiter. Ich wurde immer langsamer. Nach 15 bis 20 Schritten musste ich Pausen von 1 bis 2 Minuten einlegen, um nicht zu viel Kraft zu verschwenden. Zu meiner Überraschung hatte ich keine Atemprobleme und keine Kopfschmerzen. Lediglich das Licht erschien mir mit der Höhe immer greller und mit der Krafteinteilung musste ich aufpassen, um genug Reserven für den Abstieg zu haben. Bei der Querung unter dem Verbindungsgrat zwischen Süd- und Nordgipfel wurde der Wind wieder stärker. Ich traf noch fünf Spanier, die sich im Abstieg befanden, mit denen aber nur ein kurzes „Hola“ ausgetauscht wurde. Ungefähr 10 Hm unter dem Gipfel erreichte ich erneut eine windgeschützte Stelle, wo ich eine kurze Rast einlegte und ein paar Riegel und etwas Tee zu mir nahm. Um ca 14.00 Uhr trat ich auf das Gipfelplateau, suchte das kleine Aluminium-Kreuz, fand es aber nicht (später erfuhr ich, dass es gestohlen wurde). Ich legte den Rucksack in der Nähe des höchsten Punktes ab und war froh, dass es nicht mehr weiter ging. Geschafft! Ein paar Aufnahmen waren noch möglich, dann gaben die Batterien im Fotoapparat den Geist auf. Schnell die Handschuhe abgelegt und die Batterien gewechselt. Nach dem Batteriewechsel musste ich die Finger aufwärmen, da ich diese kaum noch bewegen konnte. Zu meiner Beruhigung war ich nicht alleine auf dem Gipfel. David, ein Franzose, der in den USA lebt, hatte ein paar Bilder von mir geschossen und ich von ihm, nachdem meine Finger wieder in Ordnung waren. Nach dem Austausch der E-Mail-Adressen, diesmal mit Handschuhen geschrieben, hatte sich David zum Abstieg begeben. Ich wollte noch ein paar Blicke in die verschiedenen Flanken werfen und ging gerade in Richtung Polengletscher, als ich etwas Rotes im Schnee liegen sah. Nach wenigen Schritten erkannte ich einen toten Bergsteiger, der ein wenig mit Steinen bedeckt war. In dem Augenblick war mir klar, dass ich nicht mehr helfen konnte und es sich um den Toten handelte, von dem ich weiter unten Gerüchte gehört hatte. „Das könntest Du sein. Sieh zu, dass Du so schnell wie möglich runter kommst.“ schoss es mir durch den Kopf. Schnell den Rucksack geholt und den Abstieg angetreten. Ungefähr in der Mitte der Canaletta hatte ich David eingeholt, kurz ein paar Worte getauscht und mich verabschiedet, weil er den Normalweg absteigen musste. Der restliche Abstieg verlief auch schneller als erwartet: Querung zur Canaletta, Indpendencia, Piedras Negras und Querung zum Polengletscher waren kein Problem. Um 17.00 Uhr war ich wieder im Lager 2. Da ich die letzte Nacht in Erinnerung hatte, etwas zu husten begann und noch ca. vier Stunden bis Sonnenuntergang blieben, entschied ich den Abstieg in Richtung Lager 1 anzutreten. Dafür mussten aber zuerst das Zelt und die Sachen gepackt werden, was bei dem starken Wind auch mehr als anderthalb Stunden dauerte. Etwas langsamer als gedacht ging es runter zum Lager 1. Hier stand noch ein Zelt der Kanadier, für eine zweite Expedition vorbereitet. Mit der vorherigen Zustimmung von Laurie hatte ich das Zelt in Beschlag genommen und eine angenehmere Nacht als die vorherige verbracht.
Endlich auf dem Gipfel! ...
Endlich auf dem Gipfel!
18. Dezember 2009
Am nächsten Morgen war der Abstieg ins Basislager trotz großer Müdigkeit kein Problem. Die Versuche meine Familie per Satellitentelefon zu erreichen scheiterten, aber es bestand die Möglichkeit eine E-Mail zu versenden und so die Familie von Sorgen zu befreien. Die Gelegenheit eine warme Mahlzeit zu mir zu nehmen ließ ich mir nicht entgehen, bevor ich die restlichen Sachen aus dem Lanko-Zelt holte und den Abstieg in Richtung Casa de Piedra antrat. Die Überquerung des Relinchos Baches und des Vacas-Flusses waren am Nachmittag und spät am Abend wegen der Schneeschmelze nicht so einfach wie am Morgen. Erst in der Dunkelheit erreichte ich das Lager Casa de Piedra. Vermutlich machte ich einen jämmerlichen Eindruck, da eine Gruppe junger Israelis mir jegliche erdenkliche Hilfe anboten, vom Zeltaufbau bis zum Essen, die ich aber dankend ablehnte. In dieser Nacht war der Schlaf fantastisch, nur das Rauschen des nahen Vacas-Flusses war zu hören.

19. Dezember 2009
Als ich am nächsten Vormittag endlich aufwachte, waren alle Zelte bis auf das der Israelis abgebaut und alle Bergsteiger in Richtung Basislager unterwegs. Eigentlich hatte ich geplant das Vacas-Tal an einem Tag zu verlassen, was mir jetzt aber unsinnig erschien. Ich wollte den Berg nicht fluchtartig verlassen, sondern mir Zeit lassen und die Eindrücke verarbeiten, die mir der Aconcagua so reichhaltig geschenkt hatte. Am nächsten Tag wanderte ich langsam talauswärts. Dieser Tag war recht hart mit dem ganzen Gepäck auf dem Rücken, aber zugleich auch schön, da ich immer wieder auf die freundlichen jungen Leute aus Israel traf, diese mich mit Fragen überhäuften und ich so meine Gefühle zusätzlich verarbeiten konnte. Die drei Österreicher überholten mich, da sie fast ihr ganzes Gepäck auf Mulis geladen hatten und mit leichtem Rucksack das Tal an einem Tag verlassen wollten. Erneut verabschiedete man sich mit dem gegenseitigen Versprechen in den Alpen eine gemeinsame Tour zu unternehmen.

20. Dezember 2009
Genau zwei Wochen nach dem Betreten des Nationalparks meldete ich mich in Pampa de Lenas bei den Rangers ab, wurde endlich meine Mülltüte los und erreichte mit etwas leichterem Gepäck die Straße in Punta de Vacas. Hier gönnte ich mir an einer LKW-Raststätte nach zwei Wochen das erste Bier. Für 20 Pesos (ca. 3,50 €) durfte ich in den Bus nach Mendoza einsteigen, um am Abend erneut im Hotel an der Plaza de Independencia, dem Zentrum Mendozas, einzukehren. Zwei Steaks waren kein Problem bei dem Hunger, den ich verspürte. Die erste Nacht der letzten zwei Wochen ohne Wind und flatterndes Zelt erschien mir etwas komisch, aber ich hatte mich wieder schnell dran gewöhnt.

21.-25. Dezember 2009
Am nächsten Tag traf ich in der Hotellobby zwei alte Bekannte: Luke, ein Engländer, den ich bei meiner Anreise nach Mendoza kennen gelernt hatte, und Geoff, ein australischer Alleingänger, der einen Tag nach mir den Gipfel versucht hatte zu besteigen, aber leider scheiterte. Die nächsten zwei Tage in Mendoza vergingen viel zu schnell. Ich kaufte Geschenke für die Familie, machte mit Geoff eine Weintour, war Pizzaessen mit den israelischen Jugendlichen und traf mich zu einem Abschiedsessen mit Laurie und den Kanadiern. Die Fahrt nach Santiago de Chile führte erneut an Punta de Vacas, Penitentes und Puente del Inca vorbei. Die Grenzformalitäten dauerten diesmal etwas länger, da kurz vor Weihnachten viele Reisende unterwegs waren. In Santiago durfte ich im Berufsverkehr mit einem sympathischen Taxifahrer fast die ganze Stadt durchqueren, um zu meiner Herberge, dem „El Patio Suizo“, einem einfachen, aber sauberen bed & breakfast, zu gelangen. Am Abend ließ ich es mir nicht nehmen die Stadt noch zu besichtigen. Am nächsten Morgen, an Heiligabend, hatte ich geplant an den Pazifik nach Valparaiso zu fahren. Nach den Gesprächen mit Armin, dem Inhaber des „Patio Suizo“, ließ ich aber dieses Vorhaben fallen um dafür Santiago näher anzuschauen. Etwas mehr Zeit widmete ich dem San Christobal, dem „Berg“ mitten in der Stadt, dem Einkauf von Lapislazuli und dem Besuch des Boheme-Viertels „Bellavista“ mit seinen bunten Häusern. Am Abend gönnte ich mir ein Bier barfuß und in sommerlichen Klamotten im schönen Innenhof des Patio Suizo. Am ersten Weihnachtstag ging es dann zum Flughafen und mit Iberia über Madrid nach München, wo ich glücklich meine Familie in die Arme schließen konnte.

Gerne würde ich allen danken, die zum Gelingen meiner Expedition beigetragen haben, angefangen von meiner Frau und den Kindern, die ich Weihnachten in einer Baustelle gelassen habe, über die Freunde, die mir Mut zugesprochen haben, den Verkäufern von SPORT IN, Ron und Laurie, die immer nachgeschaut haben, ob es mir gut geht, und vielen anderen, die sich vielleicht gar nicht bewusst sind, dass sie mir geholfen haben, aber dann würde es eine lange Liste geben, die hier nicht hineinpasst. Rückblickend bin ich glücklich, dass ich viele freundliche Menschen kennen lernen durfte, intensive Gefühle verspüren konnte und mit schönen Erinnerungen geblieben bin.

Klaus Petzak

Schlagwörter: DAV, Bergtour

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