18. August 2021

Vor 50 Jahren: Unsere Flucht aus dem Ceaușescu-Land Rumänien

„Das Göld darf man nicht so wuzeln“, sagte die Beamtin an der österreichisch-bayerischen Grenze, nachdem ich die zur Einreise nach Deutschland erforderliche Autoversicherung mit einem 100-DM-Schein aus unserer „Reisekasse“ bezahlen wollte. Der Geldschein war tatsächlich sehr dünn zusammengerollt, weil wir das deutsche Geld im Rohr der Gangschaltung unseres Käfers verstecken mussten. Wir waren ja rumänische Staatsbürger und durften als solche keine Devisen besitzen. „Manchmal muss man das Geld aber wuzeln“, meinte ich nur und beobachtete, wie die Frau mit einem Kugelschreiber versuchte, meinen Geldschein zu glätten. „Na, das Göld muss man nie so wuzeln“, sagte sie noch und übergab mir den Versicherungsschein samt 20 DM Restgeld. Jetzt waren wir ganz legal in Deutschland angekommen. An diesem Tag, es war der 18. August 1971, hatten wir, das sind meine Frau Eli, unser damals dreijähriger Sohn Robert und ich, es „geschafft“. Die zwei Wochen vorher begonnene Flucht aus Rumänien über Bulgarien, das damalige Jugoslawien und Österreich hatte ein gutes Ende gefunden. Wir waren sehr glücklich, dankbar und davon überzeugt, unserem Sohn einen besseren Start ins Leben ermöglicht zu haben. Er sollte nicht die schon im Kindergarten einsetzende „Erziehung“ mit roter „Pionierkrawatte“, Huldigungsgesängen und Tänzen zu Ehren des Staatschefs durchmachen müssen.
Wertvolle Erinnerung: Aluteller aus dem ...
Wertvolle Erinnerung: Aluteller aus dem Campinggeschirr der Fluchtausrüstung, hängt in der Wohnung der Familie Hienz.
Seit 1962, dem Todesjahr meiner Mutter, hatte ich die Absicht, nach Deutschland zu übersiedeln, wo meine gesamte Verwandtschaft, später auch meine beiden Schwestern lebten. Alle Anträge auf Ausreise oder Besuch wurden abgelehnt oder erst gar nicht beantwortet. Es war eine lange Zeit des Wartens, der Hoffnung und Enttäuschung. Anfang 1971 hatte meine seit 1964 in München lebende Schwester Johanna etwa 20000 DM von Verwandten und Banken zusammengeborgt, um es über obskure Kanäle den für unsere Ausreise zuständigen rumänischen Stellen zukommen zu lassen. Dieses Geld sollte, nachdem wir in Deutschland Arbeit gefunden hatten, von uns zurückgezahlt werden. Glücklicherweise gelang die Flucht kurz vor dem Transfer des Geldes und meine Schwester konnte es noch zurückbekommen, da wir ja nun „aus eigener Kraft“ angekommen waren.

Die Geschichte dieser „Ausreise aus eigener Kraft“ begann etwa im Frühjahr 1971 in Bukarest, unserem damaligen Wohnort. Dort traf ich Rick, einen ehemaligen Arbeitskollegen, der mir von seinem geplanten Campingurlaub in Bulgarien erzählte und mich fragte, ob ich nicht mitmachen möchte, da auch unsere Frauen sich gut kannten und seine Kinder im Alter von drei und vier Jahren gut mit unserem Robert zusammenspielen würden. Die Aussicht, eine Besuchserlaubnis für mich und meine Familie zu bekommen, waren nahe Null. Nach dem Motto: „Probieren geht über Studieren“ stellte ich dann doch den Antrag bei der Passbehörde und bekam erwartungsgemäß die Absage, wie immer ohne Begründung. Auf Ricks Anraten hin beantragte ich erneut eine Besuchserlaubnis für Bulgarien und bekam überraschenderweise die Zusage. Es war kaum zu glauben, aber wahr.

Nun hieß es schnell die nötigen Vorbereitungen zu treffen: Zelt, Campingausrüstung und Proviant konnte nur mit zum Teil hohen Schmiergeldzahlungen beschafft werden. Noch problematischer war es, das erforderliche Reisegeld in Form von Devisen aufzutreiben. Meine liebe Schwester Johanna hatte auch hierfür gesorgt und einer nach Rumänien reisenden bekannten Dame 500 DM für unsere „Reisekasse“ mitgegeben. Die Geldübergabe sollte in einer bestimmten Bukarester Busstation um 6 Uhr morgens erfolgen. Dummerweise befand sich diese Station in der Nähe eines Platzes, wo die bevorstehende Feier zum „Jahrestag der Befreiung“ stattfinden sollte. Hier wurde gerade die Tribüne errichtet, von wo aus der Staatschef persönlich die üblichen Huldigungen entgegennehmen sollte. Naturgemäß wimmelte es auf der Baustelle von Sicherheitsleuten, die meinen roten Käfer misstrauisch beäugten, da ich immer wieder auf dem Platz mit der Tribüne wenden musste, um an der bewussten, leider leeren Busstation vorbeizufahren. Endlich fand ich die Frau und erhielt die fünf 100 DM-Scheine. Sie mussten nur noch „zusammengewuzelt“ und im Rohr der Gangschaltung versteckt werden.

Jetzt waren wir startklar und fuhren am 2. August zusammen mit Ricks Familie an die rumänisch-bulgarische Grenze nach Giurgiu an der Donau. Hier durchwühlten die rumänischen Grenzer unser gesamtes Gepäck und nachdem sie nichts Verdächtiges fanden, forderten sie die Herausgabe allen rumänischen Geldes. Schließlich fuhren wir auf einer Pontonbrücke über die Donau nach Ruse und weiter zu unserem Urlaubsort Burgas am Schwarzen Meer, genauer gesagt zu dem dortigen Campingplatz. Um möglichst wenig Verdacht zu erwecken, gedachten wir eine Woche lang zusammen mit Ricks Familie Urlaub am Meer zu machen. Danach wollten wir, ohne unseren Freunden etwas zu sagen, einfach verschwinden und versuchen, in die Türkei zu „entkommen“. Das war leider notwendig, damit sie nach ihrer Rückkehr in Rumänien wahrheitsgemäß aussagen konnten, nichts von unseren Fluchtabsichten gewusst zu haben.

Die sieben gemeinsamen Urlaubstage waren erholsam, speziell für unsere Kinder, die Sandburgen bauten oder mit Grundeln spielten, die sich im seichten Küstengewässer tummelten. Am 10. August, einem Dienstag, starteten wir lange vor Sonnenaufgang unser Vorhaben und begannen ganz leise und vorsichtig alle Sachen einschließlich Zelt und den noch schlafenden Robert ins Auto zu verfrachten. Als wir mit der Packerei endlich fertig waren, schon im Auto saßen und ich gerade losfahren wollte, steckte Freund Rick seinen dicken Kopf aus dem Zelt und fragte verschlafen, was passiert sei. Mit sehr schlechtem Gewissen startete ich daraufhin den Motor, winkte ihm zu und fuhr davon. Wir hatten unsere Freunde verprellt.

Die Straße nach Malco Tarnovo, dem bulgarischen Ort an der türkischen Grenze, war völlig leer und führte zuletzt durch eine hügelige, bewaldete Region, wo meine Frau immer öfter bewaffnete Grenzsoldaten bemerkte, die sich hinter Bäumen in Straßennähe aufhielten. Schließlich erreichten wir die Grenzstation, in der alle dort Beschäftigten Volleyball spielten und niemand sich um uns kümmern wollte. In einer Spielpause kam doch einer und verlangte unsere Pässe. Zu der Zeit gab es ein Abkommen, wonach rumänische Staatsbürger kein türkisches Einreisevisum benötigten. Allerdings mussten sie ein rumänisches, speziell für die Türkei ausgestelltes Ausreisevisum vorweisen können. Diese Ausreisevisen hatten wir natürlich nicht, aber da gab es noch einen Hoffnungsschimmer: Für viele Bulgaren ohne besondere Schulbildung bereitete das Lesen und Verstehen von Texten in lateinischer Schrift, noch dazu in einer Fremdsprache, gewisse Schwierigkeiten. So hofften wir, dass die Grenzer mit unseren rumänischen Pässen Verständnisprobleme haben würden. Außerdem waren wir für sie ohnehin nur Touristen, die von einem Ausland (Rumänien) in das andere Ausland (Türkei) fahren wollten. Tatsächlich blätterte der Grenzer in unseren Pässen herum und schien damit nicht klar zu kommen. Dann zeigte er auf das im Ausreisestempel enthaltene Wort Giurgiu und fragte mich, was dastehe. TÜRKIYE antwortete ich spontan und zeigte in Richtung Türkei. Er wiegte den Kopf und wiederholte nach längerer Zeit seine Frage. Nachdem er von mir die gleiche Antwort bekommen hatte, machte er sich nach einer weiteren Denkpause – leider doch noch – auf den Weg zu seinem Chef. Dieser kam verschwitzt, verärgert und zynisch lächelnd, notierte unser Autokennzeichen und sagte, wir sollen zurück nach Bukarest fahren und mit einem rumänischen Ausreisevisum für die Türkei wiederkommen, dann würde er uns durchlassen. Er gab mir die Pässe zurück und ging weiterspielen. Wir hatten es nicht geschafft, aber man hatte uns laufen gelassen.

Nachdem wir alle Optionen zu unserem weiteren Vorgehen besprochen hatten, starteten wir „Plan B“ und fuhren nach Westen Richtung Jugoslawien. Wir wollten am Campingplatz bei Plovdiv übernachten und am nächsten Tag am Grenzübergang Kjustendil unser Glück versuchen. Die Straße führte zunächst nach Norden, an unserem „Urlaubsort“ Burgas vorbei und dann erst nach Westen. Groß war unser Erstaunen, als wir kurz vor der Kreuzung unseren Freund Rick erblickten, der auf einem Felsen am Straßenrand stehend uns Zeichen machte anzuhalten. Um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, drehte ich den Kopf nach links und fuhr, mit sehr schlechtem Gewissen, an ihm vorbei. Einige Jahre später ergab sich die Gelegenheit zur Aussprache: Er hatte damals gedacht, mir irgendwie helfen zu können, sah aber ein, dass mein Verhalten richtig war Am Campingplatz Plovdiv angekommen, bereiteten wir uns für unseren zweiten Ausbruchsversuch vor. Um die Grenzer möglichst positiv zu beeindrucken, wuschen wir das Auto, kleideten uns so vorteilhaft wie möglich und verteilten im Auto mehrere Packungen, der im Ostblock heißbegehrten amerikanischen Zigaretten.

Am Vormittag des 11. August erreichten wir den Grenzübergang bei Kjustendil und mussten uns hinter einem jugoslawischen Bus in die Warteschlange einreihen und dessen Abgase einatmen. Irgendwann sah ich einen Grenzbeamten mit einem Stoß Pässen den Bus verlassen und in einer Baracke verschwinden. Nach langer Zeit kam er zurück, übergab die Pässe dem Fahrer und der Bus fuhr endlich davon. Der Grenzer kam jetzt zu uns, nahm unsere Pässe und verschwand damit wieder in seiner Baracke. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich ihn im Rückspiegel zurückkommen sah. Er hatte die beiden Pässe in der Hand und kam zu unserem Auto. Ohne ihn anzusehen, streckte ich meine geöffnete linke Hand zum Fenster hinaus und … spürte, wie er mir unsere Pässe zurückgab. Ich wusste: Jetzt hat es geklappt und empfand ein unbeschreibliches Glücks- bzw. Erfolgsgefühl. Ich fragte noch: „Kontrolle?“ und erhielt die Antwort: „Nicht notwendig“ und „Gute Fahrt“.

Es war phantastisch und ich wollte gleich losfahren. Aber meine liebe Frau hatte eine weniger gute Idee: Sie meinte nämlich, ich solle doch unser bulgarisches Restgeld in jugoslawische Währung hier umtauschen, wer weiß, ob das später noch möglich sei. Meine Einwände bezüglich unserer 600-DM-Reisekasse oder der geringen Summe bulgarischen Geldes ließ sie nicht gelten und so machte ich mich auf den Weg zu der Wechselstuben-Baracke. Dort legte ich die wenigen 60 Leva auf den Tisch und sagte: „Dinar“. Daraufhin verlangte der Beamte den Kaufbeleg für das bulgarische Geld und ich zeigte ihm die rumänische Quittung für die in Bukarest gekauften Leva. Aus seiner sich verfinsternden Mine schloss ich, dass etwas nicht stimmt und unsere Lage sich zuspitzen könnte. Als er dann zum Telefon griff und eine dreistellige Nummer wählte, nahm ich ganz langsam das Geld samt Beleg und sagte „Kein Problem“. Während er telefonierte, ging ich langsam zum Auto, startete den Motor und fuhr los. Mit quietschenden Reifen.

Die jugoslawischen Grenzer winkten uns einfach durch. Wir waren in Jugoslawien (dem heutigen Nordmazedonien), einem fast freien Land angekommen. Erst nach etwa 10 km fuhr ich auf einen kleinen Parkplatz, stellte den Motor ab und blieb mehrere Minuten regungslos sitzen. Dann kramte ich eine in Bukarest gekaufte Wodka-Flasche hervor und goss, unter den besorgten Blicken meiner Frau, deren gesamten Inhalt ins Gras. Es war wohl eine Kurzschlussreaktion, ausgelöst durch die nervliche Anspannung der letzten Tage.

Jugoslawien war zu jener Zeit das „Enfant terrible“ des Ostblocks. Zwar wurde es auch von der kommunistischen Partei und deren Chef Tito diktatorisch regiert, jedoch genossen die dortigen Bürger viele Freiheiten, von denen die Bewohner anderer „Bruderländer“ nur träumen konnten. Da wir weder ein rumänisches Ausreisevisum für Jugoslawien noch ein jugoslawisches Einreisevisum hatten, war unser Aufenthalt dort eigentlich illegal. Hinzu kam, dass es zwischen den Nachbarländern Rumänien und Jugoslawien immer wieder größere oder kleinere Spannungen gab, so dass wir befürchteten, im Falle einer amtlichen Erfassung (beispielsweise nach einem Verkehrsunfall) nach Rumänien abgeschoben zu werden.

Wir fuhren in Richtung Skopje, wo mein ehemaliger Kommilitone Panajot lebte. Am dortigen Campingplatz wollte eine fremde Frau uns Nerzfelle verkaufen. Sie interessierte sich sehr für unsere Reise und fragte besonders nach den Grenzübertritten. Vielleicht war sie eine ganz normale Touristin und wollte mit den Nerzfellen nur ihre Urlaubskasse aufbessern, für uns jedoch war sie möglicherweise eine Informantin der dortigen Geheimpolizei und so mieden wir sie wie der Teufel das Weihwasser.

Der nächste für uns wichtige Schritt war ein Telefongespräch mit der deutschen Botschaft in Belgrad, von der wir Unterstützung für unsere Weiterreise nach Deutschland erhofften. Von einer Telefonzelle aus rief ich in Belgrad an und wurde mit einem Botschaftssekretär verbunden. Ich sagte wörtlich: „Meine Familie und ich kommen aus Siebenbürgen und sind auf der Durchreise nach Deutschland.“ Worauf er ebenfalls wörtlich antwortete: „Machen Sie keine weiteren Erörterungen am Telefon. Kommen Sie am Montag um 8 Uhr zu mir.“ Und legte auf. Für uns bedeutete das zweierlei: Erstens würde uns die Botschaft in irgendeiner Form weiterhelfen und zweitens ist man auch in diesem Land nicht gefeit vor geheimdienstlichen Machenschaften.

Am Samstag wollten wir mit Panajots Familie einen nahegelegenen Freizeitpark besuchen. Dort erwartete uns eine neue Stresssituation in Gestalt einer Wespe, welche unbemerkt in meine Colaflasche gekrochen war. Beim nächsten Schluck spürte ich sie in meinem Mund, konnte aber noch rechtzeitig alles ausspucken und so einen Wespenstich im Mund oder Rachen mit anschließend ärztlicher Behandlung, möglicher Registrierung etc. vermeiden. Wir hatten wieder Glück gehabt. Für die 300 km bis Belgrad hatten wir den ganzen Sonntag vorgesehen und erreichten den dortigen Campingplatz am frühen Nachmittag. Bevor wir unser Zelt aufschlugen, fuhren wir noch in die Stadt zur Botschaft, um uns den Weg dorthin einzuprägen. Die folgende Nacht war unheimlich aufgrund der vielen bewaffneten „Aufpasser“, die ständig zwischen den Zelten, teils mit Hunden und Taschenlampen, herumschlichen. Auch die 50 km entfernte rumänische Grenze machte uns Sorgen, da eine Abschiebung in unser Herkunftsland sehr leicht zu bewerkstelligen gewesen wäre.

Am Montag um 8 Uhr in der Früh ging ich dann zur deutschen Botschaft, nachdem ich meine besorgte Frau Eli und Robert auf einer Bank in einem nahegelegenen Park zurückgelassen hatte. Dort wurde ich in einen Warteraum geführt, wo an der Wand das Bild des damaligen deutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann hing. Das war für mich, der gewohnt war, immer nur Bildnisse von Ceaușescu, Lenin oder Stalin an Wänden von Sälen oder Schulklassen zu erblicken, ein besonderes Erlebnis. Bald darauf erschienen nacheinander zwei deutsche Ehepaare. Die ersten hatten einen Autounfall mit Totalschaden, den anderen war ihr schöner Mercedes gestohlen worden. Sie fragten mich nach dem Grund meiner Anwesenheit und ich sagte, man habe uns die Pässe geklaut. Dann wurde ich von dem Botschaftssekretär, mit dem ich am Freitag telefoniert hatte, in sein Büro gebeten und musste zum Glück keine weiteren Lügengeschichten erfinden. Nach der Schilderung unserer Situation fragte er mich nach einer Zuzugsgenehmigung für die Bundesrepublik Deutschland. Auch diesbezüglich hatte meine Schwester Johanna vorgesorgt: Wir besaßen diese Genehmigung und ich kannte die entsprechende „RU- Nummer“. Ein Telefonat mit dem Auswärtigen Amt in Bonn erbrachte dann die Bestätigung meiner Angaben. Daraufhin bekamen wir ein deutsches Einreisevisum in unsere Pässe und der Beamte meinte: Erstens, sollten wir heute noch zum Grenzpunkt Podkoren am Dreiländereck Jugoslawien/Italien/ Österreich fahren und versuchen, nach Österreich einzureisen. Zweitens, sollten wir zu ihm zurückkommen, falls es mit der Ausreise nicht klappen sollte (daraus schloss ich, dass er uns in diesem Fall auf andere Weise helfen würde). Und drittens, sollten wir im Falle des Gelingens unserer Flucht ihm eine Ansichtskarte zukommen lassen. Ich bedankte mich bei ihm herzlich und ging erleichtert zurück in den Park, wo meine Familie mich freudig begrüßte, so als ob ich von einer langen und gefährlichen Reise zurückgekehrt sei. Wir hatten jetzt eine weitere Sprosse unserer „Fluchtleiter“ erklommen und mussten nur noch eine Hürde überwinden: die Einreise nach Österreich.

Die über 600 km lange, stark befahrene Landstraße Belgrad-Zagreb-Laibach, genannt „Autoput“, war aufgrund vieler Unfälle berüchtigt. Es ging nur langsam voran, immer wieder vorbei an schrottreifen, im Straßengraben liegenden Unfallfahrzeugen. Es war heiß und staubig. Am späten Abend beschlossen wir, eine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen und erst am kommenden Morgen zur Grenze zu fahren. In einer ziemlich verrotteten Herberge, direkt an der Straße gelegen, bekamen wir ein schmutziges Zimmer voll toter Fliegen. In der Nacht ging ich immer wieder zum Fenster, um zu sehen, ob unser Auto noch da war.

Am kommenden Morgen, es war der 18. August 1971, fuhren wir zur Grenze nach Österreich. Hier erwartete uns das „Happy End“ in Gestalt eines jugoslawischen Grenzers, der freundlich mit uns plauderte und uns einen schönen Urlaub in Deutschland wünschte. Wir konnten unseren Erfolg noch nicht richtig verarbeiten. Als de facto unfreie Bürger eines unfreien Landes fuhren wir jetzt als freie Touristen in das freie Land Österreich.

Zur Feier des Tages leisteten wir uns eine Suite in einem wunderschönen Alpenhotel am Katschberg, wo wir unsere erste Nacht in Freiheit verbrachten. Am meisten freute sich unser Sohn Robert über das „aus der Wand kommende Wasser“ und über das schöne Bett. Er hatte zu lange im Zelt oder Auto geschlafen und Wasser aus Flaschen getrunken.

Heute, ein halbes Jahrhundert nach der damaligen Weichenstellung, drängen sich Fragen auf wie: Was hätte es für unseren Sohn und für uns bedeutet, wenn wir dortgeblieben oder in Bulgarien oder Jugoslawien festgenommen und zurück nach Rumänien geschickt worden wären? Und was haben wir in den vergangenen 50 Jahren erlebt und „erreicht“? Unser „Startkapital“ bestand aus einem „Käfer“, der Bade- und Campingausrüstung sowie viel Optimismus und der Bereitschaft, ankommende „Stiere an den Hörnern zu packen“. Auch wenn nicht alle Träume Wirklichkeit werden konnten, so haben wir doch viele wunderbare und spannende Jahre erlebt. Und trotz der zahlreichen seither unternommenen Reisen und Grenzübertritte mussten wir nie wieder Geldscheine „zusammenwuzeln“.

Georg Hienz

Schlagwörter: Zeitzeugenbericht, Flucht, Rumänien, Geschichte, Erinnerungen

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Neueste Kommentare

  • 19.08.2021, 11:06 Uhr von Ingrid F.: Haben Sie vielen Dank Herr Hienz fürs Verfassen Ihrer interessanten – und gottlob geglückten – ... [weiter]

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