25. Dezember 2021

Und doch wurde es Heiliger Abend: Weihnachtsgeschichte aus Siebenbürgen

Den ganzen Vormittag über hatte der Schneesturm getobt. Innerhalb kurzer Zeit war alles tief verschneit. Nun hatte er nachgelassen, aber es schneite ununterbrochen weiter.
Heiliger Abend in der Mediascher ...
Heiliger Abend in der Mediascher Margarethenkirche. Foto: Hildegard Servatius-Depner
Langsam fuhr der Zug ein. „Endlich“, seufzte die dunkel gekleidete Frau, die auf dem Bahnsteig stand. Der Zug hatte reichlich verspätet und die Frau hatte sich in Geduld fassen müssen. Das war ihr nicht gerade leicht gefallen. Sie erwartete ihren Sohn. Er leistete seinen Militärdienst ab. „Wenn er nun aber doch nicht …“ – sie wagte nicht zu Ende zu denken. Das durfte nicht sein! Das wäre zu schwer!

Innerlich erregt folgte sie mit ihren Blicken den Reisenden, die abstiegen und aufstiegen. Nein, noch hatte sie ihn nicht entdeckt. Doch, da – nein, doch nicht. Ja, aber wo war er dann? Die Wagentüren wurden geschlossen, der Zug fuhr in die sich langsam niederlassende Dämmerung hinein und war den Blicken bald entschwunden.

Auf dem Bahnsteig stand außer ihr nur noch eine andere Frau mit Reisetasche und einem Handkoffer. Die war als letzte ausgestiegen. Ob sie wohl wartete, dass sie jemand abholte? Doch dann nahm auch jene andere ihr Gepäck auf und machte sich langsam auf den Weg.

Die Frau nahm das alles kaum wahr. Sie konnte es einfach nicht fassen, dass er nicht gekommen war.

Als Einzige stand sie noch auf dem Bahnsteig. Lautlos fielen die Schneeflocken zur Erde. Tiefe Stille ringsum. So einsam und verlassen war sie sich noch nie vorgekommen wie nun, an diesem Heiligen Abend – dem ersten ohne ihn, ohne sie beide… Ein Knoten im Hals drohte, sie zu ersticken, und sie konnte ihn nicht hinunterschlucken. Allein. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Nur eines wusste sie: ja nicht nach Hause gehen; jetzt nicht. Sie hätte es nicht ertragen. Sie fürchtete sich vor der Leere.

Und nun fühlte sie, wie kalt ihr war. Langsam ging sie zurück ins Bahnhofgebäude. Der Wartesaal ist kahl und leer. Nichts erinnert an Weihnachten. Das ist gut so, denkt die Frau. Sie will sich hinsetzen und ein wenig weinen. Es war doch zuviel.

Da sieht sie noch jemand sitzen. Ja, das ist doch jene Frau von vorhin, vom Bahnsteig. Sollte sie immer noch warten? Dann aber dürfte sie nicht so ratlos und traurig aussehen. Was sollte sie bedrücken? Die Frau fühlt sich zu jener anderen hingezogen und sie weiß eigentlich nicht, wieso. Auf mich wartet niemand, denkt sie. Ich habe Zeit. Ob ich sie wohl ansprechen soll? Und da am Heiligen Abend die Herzen offener sind als sonst, fasst sie Mut.

„Sie sind so allein“, sagt sie.

Die andere Frau hat nicht erwartet, angesprochen zu werden. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Man merkt, es ist ihr nicht so ganz recht.

„Ja“, sagt sie deshalb nur.

„Sie werden bestimmt erwartet.“

Die so Angesprochene muss sich zur Antwort erst überwinden.

„Nein, ich werde nicht erwartet.“

Die Frau ist etwas verwundert. Jene fährt nach einigem Zögern fort:

„Der Zug hatte doch diese große Verspätung. Ich habe den Anschluss verpasst. Ich wollte Weihnachten in der Familie meiner Tochter verbringen. Sie hat zwei nette Kinder. Was für eine Freude wäre das gewesen, die Kinder beim Christbaum zu erleben. Und nun…“ Sie hat Tränen in den Augen – „…muss ich diesen Heiligen Abend hier zubringen. Ein wahrhaft Heiliger Abend!“ Bitterkeit spricht aus diesen Worten.

„Wissen Ihre Kinder denn nicht, dass Sie kommen?“

„Nein. Sie hatten mich eingeladen, aber mir war nicht nach Feiern zumute. Mein Mann ist im Herbst gestorben… Aber dann habe ich mich doch vor dem Alleinsein gefürchtet. An solchen Tagen empfindet man das viel mehr als sonst… Und so habe ich mich kurz entschlossen auf den Weg gemacht.“

Die Frau ist von diesen Worten bewegt. Hat sie nicht auch Ähnliches erlebt?

„Ich kann mit Ihnen mitfühlen“, sagt sie. „Dies ist auch für mich der erste Heilige Abend ohne meinen Mann. Er lebt nicht mehr. Ich hatte sehr gehofft, dass wenigstens mein Sohn bei mir sein wird. Doch nun ist er nicht gekommen. Sie haben ihm wahrscheinlich nicht freigegeben. Für die gibt es ja kein Weihnachten. So bin ich ganz allein. . . Wie Sie. Aber – was werden Sie tun?“

Die Frau seufzt: „Ich weiß es nicht. Zu meinen Kindern gibt es heute keinen Anschluss mehr. Hier möchte ich aber auch nicht bleiben. Ich könnte vielleicht wieder zurückfahren. Aber die furchtbare Einsamkeit…!“

„Kennen Sie denn niemanden hier in der Stadt?“

„Nein, ich bin hier ganz fremd.“

Die Frau empfindet aufrichtiges Mitleid mit ihrer – ja, das ist sie doch – Leidensgefährtin. Im Augenblick denkt sie nicht an ihr eigenes Leid. „Ich möchte Ihnen gerne helfen … Könnte man denn nicht Ihre Kinder verständigen, dass Sie da sind?“

„Ach nein, sie haben kein Telefon. Und wer würde jetzt mit dem Auto fahren? Alles ist verschneit … Ich weiß es auch nicht … Aber, bitte, nicht bemühen Sie sich um mich. Sie haben doch auch das Ihre …“

Die Frau überlegt. Sie hat einen Gedanken, doch fällt es ihr schwer, sich mit ihm vertraut zu machen. Das wäre bestimmt eine Hilfe – für sie beide. Sie ringt mit sich. Doch dann sagt sie: „Sehen Sie, ich habe alles für das Kommen meines Sohnes vorbereitet; auch der Tisch ist gedeckt. Er ist nicht gekommen. Ich bin allein und Sie sind auch so allein … Kommen Sie zu mir. Lassen Sie uns diesen Abend gemeinsam verbringen. Wir könnten dann um Mitternacht zur Kirche gehen. Und Sie könnten dann morgen zu den Kindern fahren.“

Das kommt für die andere Frau ganz unerwartet. Was soll sie bei dieser Fremden, überlegt sie. Warum ruft sie mich? Was will sie von mir? Eigentlich wäre sie mit ihrem Schmerz lieber allein geblieben. Sie hätte sich dann so richtig ausweinen können … Aber wenn die Einladung aufrichtig gemeint ist? Kann sie so einfach absagen? – Endlich fasst sie ein Herz und sagt: „Ich danke Ihnen. Sie sind so freundlich zu mir. Aber ich weiß nicht, wie ich das annehmen soll …“

„Ich freue mich, wenn Sie kommen. Vielleicht hat es unser Herr so gewollt, um uns beiden damit zu helfen … Kommen Sie, bitte!“

Sie hat sich erhoben. Die andere Frau zögert. Doch dann nimmt sie ihr Gepäck.

„Kommen Sie, lassen Sie sich helfen. Zu zweit trägt sich das leichter.“

Sie treten hinaus in die Winternacht. Es hat aufgehört zu schneien. Der Himmel beginnt sich aufzuklären.

Der Heilige Abend ist angebrochen.

Berthold Wolfgang Köber

Schlagwörter: Weihnachten, Siebenbürgen, Heiligabend

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