26. Dezember 2024
Der Küchentisch
Advents- und Weihnachtszeit im Stolzenburger Pfarrhaus um die Mitte des vorigen Jahrhunderts

Am Vorabend des 1. Advent treffen sich fünf, sechs Gruißmaid in der geräumigen Wohnküche (42 qm!) des Pfarrhauses und binden dort, um den großen Küchentisch sitzend, zwei Adventskränze: Einen riesengroßen für aus haurz Kirch (unsere herze/liebe Kirche) und einen etwas kleineren für die Pfarrersfamilie, den die Frä Fårr im Wohnzimmer an langen, roten Bändern aufhängen wird. Tannen- und Harzduft in der ganzen Küche, Gespräche im Flüsterton, Tuscheln und Kichern der meist schon heiratsfähigen Mädchen und das Pfarrerskind staunt und spitzt die Ohren.
Am 1. Advent schreiben mehr als ein Dutzend Schüler die ihnen zugeteilten Gedichte oder Krippenspielrollen von der Vorlage des Pfarrers ab, an eben diesem Küchentisch. Denn sie alle wollen mitmachen und eine Rolle in der Weihnachtsgeschichte spielen. Erst am Abend kehrt Ruhe ins Pfarrhaus ein, die Frä Fårr zündet die erste Kerze am Adventskranz an und setzt sich ans Klavier. Die Familie singt mit: „Macht hoch die Tür“ und „Es kommt ein Schiff geladen“.
In der folgenden Woche gehen die Frauen der Presbyter (Kirchenvorstand) von Haus zu Haus und sammeln Eier, Fett, Zucker und Mehl, ersatzweise auch Geld, ein. Eine Woche vor Weihnachten treffen sie sich wieder, jeweils mit einer Helferin, zum Keksbacken. Wo? Selbstverständlich in der geräumigen Küche des Pfarrhauses! Die Siebenjährige staunt schon wieder: Der große Küchentisch, sonst Mittelpunkt des Raumes, ist zur Seite geschoben, um weiteren Tischen Platz zu machen, an denen die Frauen in ihren weißen Schürzen Teigberge kneten, auswalken und Kekse ausstechen! Viele Dutzend Backbleche werden dann über den verschneiten Hof hinunter zum großen, gemauerten Brotbackofen gebracht. Wenn dann mehrere Tausend Kekse fertig sind, sitzen die Frauen bis spät abends in der Pfarrhausküche und reihen je 20-25 Kekse auf einen festen Spagat, der dann an den Enden zusammengeschnürt ein Kränzchen ergibt. So entstehen mehrere Hundert Keks-Kränzchen, denn jedes Kind im Dorf soll eines bekommen.
In die erste Dezemberhälfte fällt der Schlachttag. Da ist wieder die große Küche Mittelpunkt des Geschehens: Vater, Mutter, Großmutter, der zuverlässige Schlachter Petri und eine tüchtige Helferin verarbeiten an einem Tag 140 Kilo Fanny zu allerlei Würsten und „Eingerextem“. Jetzt versteht das Kind auch, warum man Tieren, die man irgendwann essen wird, keinen Namen geben sollte.
Ein paar Tage vor dem Fest wird – wie überall im Dorf – das ganze Pfarrhaus von oben bis unten geschrubbt, gewaschen und geputzt, dass es nur so nach Seife, Soda und Sauberkeit duftet.
Am Vormittag des 24. Dezember zieht dann ein Hanklich- und Brotduft durch alle Straßen der stattlichen Gemeinde, denn ohne diese Herrlichkeiten möchte kein Haus das Fest begehen. Zu Mittag steht auf dem Küchentisch der Frä Fårr die Gechwoichpert, jedoch ohne Wurst und Fleisch: lediglich eine magere Suppe mit Gech (Sauerkrautsaft) und gerösteten Brotwürfeln. Das Kind hat dementsprechend wenig Appetit.
Dann kurz vor der Dämmerung, äm Zäschemmern, beginnt endlich die Chrästneicht: Die Presbyterfrauen finden sich wieder ein, um die Kekse und alle Einkäufe für die Weihnachtsbescherung im Pfarrhaus abzuholen. Dabei haben sie nicht vergessen, der Frä Fårrerän mit einer frischen Hanklich „Gläcklich uch geseijent Feiertauj“ zu wünschen. Die Frauen nehmen für ein paar Minuten in der geräumigen Wohnküche Platz, wo in der Mitte Grisis festliche Tischdecke mit dem alten, schwarzen Stickmuster auf dem Tisch prangt. Es werden mit gedämpfter Stimme Wetter, Tagesgeschehen, Vergangenes und Zukünftiges erörtert. Festlich gekleidet, die fleißigen, nimmermüden Hände nun zufrieden in den Schoß gelegt, dürfen die Frauen für ein paar Momente „von der Jagd des Lebens einmal ruh’n“. Sobald aber die Glocken von der Burg erklingen und der Pfarrer im Ornat, mit Bibel und Gesangbuch (Zålmebeauch) aus seiner Amtsstube kommt, brechen alle auf, Pfarrersfamilie und Presbyterfrauen, beladen mit Wäschekörben voller Geschenke, hinaus in die Winternacht, durch den hohen, knirschenden Schnee zur nahen Kirche.
Der Innenraum derselben ist stockdunkel, aber voller Stimmenbrausen. Mit jeder einzelnen Kerze, die von hoch oben am Tannenbaum vor dem Altar ‚entzündet‘ wird, erhellt sich das Gotteshaus, das Raunen des ‚vielen Volkes‘ verstummt und der Härr Fårr verkündet mit lauter Stimme von der Kanzel: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“
Eine Gruppe von Mädchen mit langem, offenem Haar, in weißen Gewändern, mit einem Stern aus Stanniol auf der Stirne und selbstgebastelten silbernen Flügeln, stimmen im Chor „Tochter Zion“ an. Hoch oben auf der Empore, Gleiter genannt, kann man im Halbdunkel die Bräute mit ihren rot-grünen Tüchern (‚mät dem Deauch åm’t Miël‘) entdecken, die mit langen Stangen den riesigen Christbaum ‚entzündet‘ haben. De Frä Fårr wirft einen sorgenvollen Blick zu den jahrhundertealten hölzernen Emporen, die unter der Last der dicht gedrängten Menge ächzen. Holzwürmer machen wohl auch vor der Heiligen Nacht nicht halt. Doch ein Wunder geschieht und auch in diesem Jahr ist die Angst der Pfarrersfrau umsonst gewesen.
Ein dreijähriger Knirps sieht den Pfarrer auf der Kanzel und fragt: „Wo ist die Schere?“ Seine Mutter hat ihm vorher gesagt, dass man im Gottesdienst nicht sprechen darf, sonst kommt der Pfarrer mit der Schere und schneidet einem die Zunge ab.
Nachdem die frohe Botschaft bei der Menge angekommen ist, die Gedichte ‚aufgesagt‘ sind und alle Beteiligten ihr Bestes gegeben haben, braust die gute alte Orgel „O du fröhliche“ über alle Köpfe hinweg. Anschließend gehen mehrere Hundert Kinder im Gänsemarsch um den Altar herum und empfangen ihre Geschenke: Ein Kekskränzchen und ein Stofftaschentuch. Die Schüler erhalten zusätzlich noch einen Bleistift. Wenn die Presbyterfrauen ein Kind nicht erkennen oder zuordnen können, fragen sie es: „Wem bäst te?“ oder: „Wie heißt man dich?“ und wenn das geklärt ist, kann das Beschenken weitergehen.
Im Pfarrhaus duftet die hellerleuchtete Wohnstube nach Tanne und Kerzen. Eine blaue ist immer dabei, „die Kerze der Auslanddeutschen“. Die Lichter am Baum verdoppeln sich im großen Spiegel und die Großmutter, deren ältester Sohn seit Weihnachten 1944 im Elsass in fremder Erde liegt, versucht, sich an das Lied zu halten: „In den Herzen wird’s warm, still schweigt Kummer und Harm ...“. Das gelingt ihr für kurze Zeit auch, angesichts strahlender Kinderaugen, denn das Mädchen erblickt soeben unter den Geschenken seine langvermisste Puppe in einem neuen Kleidchen.
Am Weihnachtsmorgen holen die Adjuvanten frühmorgens um Sechs den Härr Fårr mit einem Ständchen aus dem Bett. Der kommt dann auch eifrig mit einer Flasche Pali (Pflaumenschnaps) und ein paar Stamperl zu den Bläsern in den Hof, denn diese Begegnung findet ausnahmsweise nicht in der Pfarrhausküche statt! Einer der Musikanten fragt: „Härr Fårr, hut Er net uch dëis Geelen?“ Nein, in diesem Jahr haben die Hühner leider nicht so fleißig gelegt und ohne Eier gibt es keinen Eierlikör.
Nach dem Festgottesdienst am 1. Christtag mit Orgel UND Blaskapelle, hastigem Mittagessen mit der Familie am großen Tisch in der Küche geht es für den Pfarrer gleich weiter zum Vespergottesdienst. Anschließend lädt er das gesamte Presbyterium zu Kuchen und Wein ins Pfarrhaus ein, natürlich an den Tisch in der großen Wohnküche! Siebenerlei Kleingebäck hat Frä Fårr nämlich in der Adventszeit auf eben demselben Küchentisch gezaubert. In der Ecke stapeln sich auf dem breiten Küchensofa die zehn Pelzmäntel (Kirchepeilz) der Presbyter: Ein hoher weicher Berg, der leicht nach Naphthalin (Mittel gegen Motten) riecht und in dem man sich gut verstecken könnte, denkt die Siebenjährige.
Wer glaubt, dass nach den Feiertagen Ruhe ins Pfarrhaus einkehrt, der täuscht sich, denn der Härr Fårr hat im Bezirkskonsistorium für seine Schäfchen bereits 300 Wandkalender fürs neue Jahr ergattert. So wird sich aus jedem Haus des Dorfes eine Person schnellstens auf den Weg machen, um das begehrte Exemplar im Pfarrhaus – praktischerweise gleich in besagter Küche – abzuholen.
Die Siebenjährige freut sich, wenn’s an die Tür klopft. Sie rollt einen Kalender zusammen und übergibt ihn dem Eintretenden.
Ich waintschen ållen gläcklich Feiertauj uch en gesangtch nau Gǝhr!
Astrid K. Thal
Schlagwörter: Weihnachten, Erzählung, Stolzenburg
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