3. April 2025
80 Jahre Flucht und Vertreibung/Symposium in München mit renommierten Wissenschaftlern und politisch Verantwortlichen
Zum Symposium „80 Jahre Flucht und Vertreibung“ hatte Dr. Petra Loibl, MdL, Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene, am 26. März ins Prinz-Carl-Palais in München eingeladen. Anlässlich des 80. Jahrestages von Flucht und Vertreibung der Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg sei es ihr ein Anliegen, so Loibl in der Einladung, die Erinnerung an dieses Ereignis in einem großen Fachforum Revue passieren und von renommierten Wissenschaftlern und politisch Verantwortlichen historisch und gesellschaftlich einordnen zu lassen. Fünf Historikerinnen und Historiker legten in Fachvorträgen und einem Zeitzeugengespräch die wissenschaftliche Basis, während drei bayerische Politiker in einer Podiumsdiskussion über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenpolitik Auskunft gaben. Schirmherr der Veranstaltung war Eric Beißwenger, MdL, Bayerischer Staatsminister für Europaangelegenheiten und Internationales.

Europaminister Eric Beißwenger beglückwünschte seine Kollegin Petra Loibl zu ihrem Geburtstag, den sie eine Woche zuvor begangen hatte, und hieß alle Gäste, besonders Klaus Holetschek, Landrat Neumeyer, die Generalkonsulin von Rumänien und den Generalkonsul der Slowakei, willkommen im Prinz-Carl-Palais – „eines der schönsten Gebäude im Freistaat Bayern“, wie er sagte. Er überbrachte beste Grüße der Staatsregierung und des Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder, der ein großer Freund der Aussiedler und Vertriebenen sei. Deren Geschichte zu bewahren, sehe Bayern als Verpflichtung und habe 2025 über zwölf Millionen Euro für deren Arbeit zur Verfügung gestellt, denn: „Allein von warmen Worten kann man nichts kaufen“. Fleiß und Leistungswillen der Aussiedler und Vertriebenen, die Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend vorangebracht haben, hob er hervor und auch deren Willen zur Versöhnung, der sich schon in der 1950 verkündeten Charta der Heimatvertriebenen gezeigt habe. Kritik übte er an der Bundesregierung in Berlin, die für diese Leistungen zu wenig Anerkennung zeige.
Den Einstieg ins Thema bot der Historiker Dr. Florian Kührer-Wielach, Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der LMU München, mit seinem Vortrag „Geschichte der Vertreibung – ein Überblick“. Diese Darstellung nannte der Vortragende angesichts der Komplexität „eine große Herausforderung“, meisterte diese aber so routiniert und zugleich einnehmend, dass Petra Loibl ihn ob seiner „eindrucksvollen Geschichtsstunde“ gleich für den Unterricht an bayerischen Schulen engagieren wollte.

Der Historiker Prof. Dr. Andreas Otto Weber, Direktor des Hauses des Deutschen Ostens (HDO) München, referierte über „Kinder als Opfer von Flucht und Vertreibung“. Ausgehend von den Geschichten dreier minderjähriger Kriegsflüchtlinge (unter ihnen der bekannte Fußballspieler und -trainer Udo Lattek, der aus Ostpreußen stammte), die er anhand von Memoiren, Bildern und Gegenständen skizzierte, führte er aus, welche Folgen diese Erlebnisse haben können: unter anderem eine aus der Verlusterfahrung (Heimat, kindlicher Besitz, Menschen) resultierende höhere Bildungsmotivation („Was du im Kopf hast, kann man dir nicht wegnehmen“), ein schon in jungen Jahren ausgeprägtes Verantwortungsgefühl für andere, besonders erwachsene, Menschen und durch die erlebten Traumata gestörte Eltern-Kind-Beziehungen. Eine systematische Erforschung des Themas sei nötig, so Weber, der eingangs eine diesbezügliche „überraschende Leerstelle“ konstatiert hatte. Packend seien Webers Ausführungen gewesen, so Petra Loibl.
Über die dritte Generation (die Enkel der Flüchtlinge und Vertriebenen) sprach Prof. Dr. Katrin Boeckh, Historikerin am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) Regensburg, in ihrem Vortrag „Unbewusstes Schicksal – Transgenerationelle Folgen der Vertreibung“. Nachdem einige Veröffentlichungen zur ersten und zweiten Generation erschienen sind, sei hier seit ca. zehn Jahren eine Flaute zu bemerken. Die erste bewusste Konfrontation mit der Flucht der Großeltern erlebten Kinder um das 8./9. Lebensjahr herum – diese gehe mit Spannung, Bewunderung, Empathie, Unverständnis oder Verarbeitungsunfähigkeit einher. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Großeltern als „Träger der Erinnerung“ sei durch die neue politische Lage, die freien Zugänge und Historiografien in den Herkunftsländern seit 1990 einfacher geworden, könne aber durch die zweite Generation erschwert oder sogar blockiert werden, wenn diese wegen ständiger Wiederholung der Flucht- und Vertreibungsgeschichten der Eltern „genervt“ oder „desinteressiert“ sei. Unter anderem Popkultur (Filme) und soziale Medien (Chatgruppen über Familiengeschichte, Heimatorte etc.) fungierten als Trigger für junge Menschen; deren größere zeitliche Distanz zu den und mögliche stärkere Sensibilität für die Fluchtvorgänge bedeutsam für die dritte Generation seien. Deutlich wurde, welch gewichtige Rolle Mütter und Großmütter, ergo Frauen, in der Weitergabe von Werten, Einstellungen und auch Traumata spielen. Petra Loibl folgerte aus dem „hochspannenden“ Beitrag, wie wichtig die Vermittlung von Wissen, von Geschichte sei.
Prof. Dr. Jana Osterkamp, die zuvor das Gespräch mit der Zeitzeugin Ria Schneider geführt hatte, beschloss den Vormittag mit einem Referat zum Thema „Tabu in Bildern – Flucht und Vertreibung in tschechischer Literatur und Film“. Nach einer knappen historischen Einordnung (Münchner Abkommen 1938, Attentat auf Reinhard Heydrich 1942, Prager Aufstand 1945) veranschaulichte sie anhand verschiedener Beispiele, wie sich die thematische Bearbeitung von Flucht und Vertreibung in den Jahrzehnten seit Kriegsende gewandelt hat; ein deutlicher Umschwung lässt sich nach 1989 und dann besonders zur Jahrtausendwende feststellen. Im Film „Nástup“ (1952) herrschen das Nachkriegsnarrativ und die sozialistische Erinnerungskultur vor, während im Film „Habermann“ (2010), der auf dem Buch „Habermannův mlýn“ (2001) von Josef Urban beruht, eine „neue Stimme“ zu hören und das „Überschreiten eines Tabus“ zu verzeichnen sei, so Osterkamp; er sei eine „Geschichtsstunde für alle“, wie von der Wissenschaft konstatiert wurde. Den Comicfilm „Alois Nebel“ (2011), basierend auf der gleichnamigen Graphic Novel von Jaroslav Rudiš und Jaromír Švejdík, hatte sie bereits zu Beginn erwähnt. Hier seien bewusste Anklänge an den bekannten Comic „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ (als Buch 1989 bzw. 1991 erschienen) von Art Spiegelman zu erkennen. Kateřina Tučkovás Roman „Gerta. Das deutsche Mädchen“ (2018; im Original 2009), die Bestsellertrilogie „Sudetský Dům“ (Sudetenhaus) von Štěpán Javůrek (2022-2024) und „Winterbergs letzte Reise“ (2019) von Jaroslav Rudiš führte Osterkamp als literarische Beispiele an. Eine Popularisierung finde in der Literatur statt, ein neuer Ton sei in Erinnerungskultur und Kunst zu erkennen. Petra Loibl dankte für die „spannenden Ausführungen“ und entließ die Symposiumsteilnehmer in eine wohlverdiente Mittagspause, in der diese sich bei einem Imbiss intensiv austauschten.

Zum Abschluss warf Dr. Martin Zückert, Geschäftsführer des Collegium Carolinum München, in seinem Vortrag „Die Erinnerung an die Vertreibung bei unseren östlichen Nachbarn“ drei Schlaglichter auf Polen, die Slowakei und Tschechien. Anhand von Karolina Kuzsyks Buch „In den Häusern der anderen“, Peter Paliks Theaterstück „Hauerland“ und Bildern eines Gedenkkreuzes in Kytlice/Kittlitz zeigte der Historiker drei Ebenen (national, regional, lokal) des Umgangs mit dem Geschehen am Ende des Zweiten Weltkriegs auf. Ausgehend davon ging er auf Ebenen, Phasen und Dimensionen der Erinnerung ein und wies am Ende auf das seit 2022 laufende länderübergreifende Projekt „Recycling the German Ghosts“ der polnischen Ethnologin Karolina Ćwiek-Rogalska hin, in dem ein polnisch-tschechisch-slowakisches Team die Wandlungen der durch Zwangsmigration und Wiederbesiedlung betroffenen Gebiete in Polen, Tschechien und der Slowakei bis in die Gegenwart untersucht. Petra Loibl dankte für die „anschauliche Darstellung“ in diesem letzten wissenschaftlichen Vortrag des Symposiums.

Ein kurzer Beitrag über das Symposium erschien in der BR24-Sendung am 26. März; er kann bis zum 25. April über die ARD-Mediathek abgerufen werden.
Doris Roth
Schlagwörter: Flucht und Vertreibung, Wissenschaft, Politik, Loibl
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- 19.04.2025, 11:02 Uhr von rolandsky: Wenn man sich nach der Lektüre so gut informiert fühlt und das Gefühl hat, selbst bei der ... [weiter]
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