3. April 2025

80 Jahre Flucht und Vertreibung/Symposium in München mit renommierten Wissenschaftlern und politisch Verantwortlichen

Zum Symposium „80 Jahre Flucht und Vertreibung“ hatte Dr. Petra Loibl, MdL, Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene, am 26. März ins Prinz-Carl-Palais in München eingeladen. Anlässlich des 80. Jahrestages von Flucht und Vertreibung der Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg sei es ihr ein Anliegen, so Loibl in der Einladung, die Erinnerung an dieses Ereignis in einem großen Fachforum Revue passieren und von renommierten Wissenschaftlern und politisch Verantwortlichen historisch und gesellschaftlich einordnen zu lassen. Fünf Historikerinnen und Historiker legten in Fachvorträgen und einem Zeitzeugengespräch die wissenschaftliche Basis, während drei bayerische Politiker in einer Podiumsdiskussion über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenpolitik Auskunft gaben. Schirmherr der Veranstaltung war Eric Beißwenger, MdL, Bayerischer Staatsminister für Europaangelegenheiten und Internationales.
Die Teilnehmer des Symposiums mit Gastgeberin Dr. ...
Die Teilnehmer des Symposiums mit Gastgeberin Dr. Petra Loibl (vorne, Mitte). Foto: GAV / Nötel
Ihre Einführung hielt die Aussiedlerbeauftragte kurz, begrüßte aber dennoch einige Gäste persönlich: den Schirmherrn Eric Beißwenger, die Vertreter des konsularischen Corps, Klaus Holetschek, MdL, Vorsitzender der CSU-Landtagsfraktion, Hartmut Koschyk, früherer Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten (2014-2017), Landrat Martin Neumeyer, erster Integrationsbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung (2009-2016), Herta Daniel, stellvertretende Landesvorsitzende des BdV Bayern, Steffen Hörtler, bayerischer Landes- und stellvertretender Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft, alle weiteren Vertreter der Landsmannschaften und Kulturzentren sowie die Zeitzeuginnen Ria Schneider und Elisabeth Arnold. Sie freute sich über die vielen Teilnehmer und den großen Zuspruch zum Symposium. „Das wichtige Thema hat im Gedenkjahr einen Nerv getroffen.“

Europaminister Eric Beißwenger beglückwünschte seine Kollegin Petra Loibl zu ihrem Geburtstag, den sie eine Woche zuvor begangen hatte, und hieß alle Gäste, besonders Klaus Holetschek, Landrat Neumeyer, die Generalkonsulin von Rumänien und den Generalkonsul der Slowakei, willkommen im Prinz-Carl-Palais – „eines der schönsten Gebäude im Freistaat Bayern“, wie er sagte. Er überbrachte beste Grüße der Staatsregierung und des Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder, der ein großer Freund der Aussiedler und Vertriebenen sei. Deren Geschichte zu bewahren, sehe Bayern als Verpflichtung und habe 2025 über zwölf Millionen Euro für deren Arbeit zur Verfügung gestellt, denn: „Allein von warmen Worten kann man nichts kaufen“. Fleiß und Leistungswillen der Aussiedler und Vertriebenen, die Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend vorangebracht haben, hob er hervor und auch deren Willen zur Versöhnung, der sich schon in der 1950 verkündeten Charta der Heimatvertriebenen gezeigt habe. Kritik übte er an der Bundesregierung in Berlin, die für diese Leistungen zu wenig Anerkennung zeige.

Den Einstieg ins Thema bot der Historiker Dr. Florian Kührer-Wielach, Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der LMU München, mit seinem Vortrag „Geschichte der Vertreibung – ein Überblick“. Diese Darstellung nannte der Vortragende angesichts der Komplexität „eine große Herausforderung“, meisterte diese aber so routiniert und zugleich einnehmend, dass Petra Loibl ihn ob seiner „eindrucksvollen Geschichtsstunde“ gleich für den Unterricht an bayerischen Schulen engagieren wollte.
Prof. Dr. Jana Osterkamp (links) mit der ...
Prof. Dr. Jana Osterkamp (links) mit der Zeitzeugin Ria Schneider. Foto: Doris Roth
Im Gespräch mit Ria Schneider, die 1932 in der Batschka (Serbien/Ungarn) geboren wurde und von dort im Herbst 1944 fliehen musste, arbeitete die Historikerin Prof. Dr. Jana Osterkamp, Leiterin des Bukowina-Instituts Augsburg, viele persönliche und emotionale Momente einer bewegten Biografie heraus. Die Donauschwäbin Ria Schneider, die mit ihrer Familie zunächst in Österreich unterkam, erzählte, dort seien sie abgelehnt, als Zigeuner beschimpft und in Barackenlager eingesperrt worden. In Landau/Pfalz, wo sie später ein Zuhause fanden, fühlten sie sich „endlich angekommen“ dank eines freundlichen Landrats und anderer dort ansässiger Landsleute, seien aber dennoch als Ausländer angesehen worden. „Man hat alles über sich ergehen lassen in der Hoffnung, dass es besser wird.“ Die zweite eingeladene Zeitzeugin Gertrud Hofmann konnte aus Krankheitsgründen nicht am Gespräch teilnehmen, war aber durch eigene Aussagen, die von Prof. Osterkamp vorgelesen wurden, präsent. 1940 in Gablonz (Böhmen) geboren, wurde die Sudetendeutsche später in Tübingen heimisch, wo sie als Lehrerin und Chorleiterin wirkte. Auch sie erfuhr Ablehnung: „Wir waren nicht willkommen“. Beiden Lebensgeschichten gemeinsam und symptomatisch für viele Zeitzeugen ist das Schweigen über die traumatischen Ereignisse. „Über Krieg und Vertreibung wurde in meiner Familie nicht gesprochen, zumindest nicht vor mir“, so Hofmann, und Schneider bekannte: „Ich habe niemals von mir aus etwas erzählt, weder meinen Kindern noch meinem Ehemann oder meinem Umfeld, es erschien zu kompliziert.“ An diesem unterdrückten Schmerz sei sie fast zugrunde gegangen und habe irgendwann alles aufgeschrieben. Mit Ria Schneider könne man der Geschichte ein Gesicht geben, hatte Prof. Osterkamp eingangs gesagt, und Petra Loibl dankte für die „berührende halbe Stunde“.

Der Historiker Prof. Dr. Andreas Otto Weber, Direktor des Hauses des Deutschen Ostens (HDO) München, referierte über „Kinder als Opfer von Flucht und Vertreibung“. Ausgehend von den Geschichten dreier minderjähriger Kriegsflüchtlinge (unter ihnen der bekannte Fußballspieler und -trainer Udo Lattek, der aus Ostpreußen stammte), die er anhand von Memoiren, Bildern und Gegenständen skizzierte, führte er aus, welche Folgen diese Erlebnisse haben können: unter anderem eine aus der Verlusterfahrung (Heimat, kindlicher Besitz, Menschen) resultierende höhere Bildungsmotivation („Was du im Kopf hast, kann man dir nicht wegnehmen“), ein schon in jungen Jahren ausgeprägtes Verantwortungsgefühl für andere, besonders erwachsene, Menschen und durch die erlebten Traumata gestörte Eltern-Kind-Beziehungen. Eine systematische Erforschung des Themas sei nötig, so Weber, der eingangs eine diesbezügliche „überraschende Leerstelle“ konstatiert hatte. Packend seien Webers Ausführungen gewesen, so Petra Loibl.

Über die dritte Generation (die Enkel der Flüchtlinge und Vertriebenen) sprach Prof. Dr. Katrin Boeckh, Historikerin am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) Regensburg, in ihrem Vortrag „Unbewusstes Schicksal – Transgenerationelle Folgen der Vertreibung“. Nachdem einige Veröffentlichungen zur ersten und zweiten Generation erschienen sind, sei hier seit ca. zehn Jahren eine Flaute zu bemerken. Die erste bewusste Konfrontation mit der Flucht der Großeltern erlebten Kinder um das 8./9. Lebensjahr herum – diese gehe mit Spannung, Bewunderung, Empathie, Unverständnis oder Verarbeitungsunfähigkeit einher. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Großeltern als „Träger der Erinnerung“ sei durch die neue politische Lage, die freien Zugänge und Historiografien in den Herkunftsländern seit 1990 einfacher geworden, könne aber durch die zweite Generation erschwert oder sogar blockiert werden, wenn diese wegen ständiger Wiederholung der Flucht- und Vertreibungsgeschichten der Eltern „genervt“ oder „desinteressiert“ sei. Unter anderem Popkultur (Filme) und soziale Medien (Chatgruppen über Familiengeschichte, Heimatorte etc.) fungierten als Trigger für junge Menschen; deren größere zeitliche Distanz zu den und mögliche stärkere Sensibilität für die Fluchtvorgänge bedeutsam für die dritte Generation seien. Deutlich wurde, welch gewichtige Rolle Mütter und Großmütter, ergo Frauen, in der Weitergabe von Werten, Einstellungen und auch Traumata spielen. Petra Loibl folgerte aus dem „hochspannenden“ Beitrag, wie wichtig die Vermittlung von Wissen, von Geschichte sei.

Prof. Dr. Jana Osterkamp, die zuvor das Gespräch mit der Zeitzeugin Ria Schneider geführt hatte, beschloss den Vormittag mit einem Referat zum Thema „Tabu in Bildern – Flucht und Vertreibung in tschechischer Literatur und Film“. Nach einer knappen historischen Einordnung (Münchner Abkommen 1938, Attentat auf Reinhard Heydrich 1942, Prager Aufstand 1945) veranschaulichte sie anhand verschiedener Beispiele, wie sich die thematische Bearbeitung von Flucht und Vertreibung in den Jahrzehnten seit Kriegsende gewandelt hat; ein deutlicher Umschwung lässt sich nach 1989 und dann besonders zur Jahrtausendwende feststellen. Im Film „Nástup“ (1952) herrschen das Nachkriegsnarrativ und die sozialistische Erinnerungskultur vor, während im Film „Habermann“ (2010), der auf dem Buch „Habermannův mlýn“ (2001) von Josef Urban beruht, eine „neue Stimme“ zu hören und das „Überschreiten eines Tabus“ zu verzeichnen sei, so Osterkamp; er sei eine „Geschichtsstunde für alle“, wie von der Wissenschaft konstatiert wurde. Den Comicfilm „Alois Nebel“ (2011), basierend auf der gleichnamigen Graphic Novel von Jaroslav Rudiš und Jaromír Švejdík, hatte sie bereits zu Beginn erwähnt. Hier seien bewusste Anklänge an den bekannten Comic „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ (als Buch 1989 bzw. 1991 erschienen) von Art Spiegelman zu erkennen. Kateřina Tučkovás Roman „Gerta. Das deutsche Mädchen“ (2018; im Original 2009), die Bestsellertrilogie „Sudetský Dům“ (Sudetenhaus) von Štěpán Javůrek (2022-2024) und „Winterbergs letzte Reise“ (2019) von Jaroslav Rudiš führte Osterkamp als literarische Beispiele an. Eine Popularisierung finde in der Literatur statt, ein neuer Ton sei in Erinnerungskultur und Kunst zu erkennen. Petra Loibl dankte für die „spannenden Ausführungen“ und entließ die Symposiumsteilnehmer in eine wohlverdiente Mittagspause, in der diese sich bei einem Imbiss intensiv austauschten.
Paul Hansel, Josef Zellmeier und Volkmar Halbleib ...
Paul Hansel, Josef Zellmeier und Volkmar Halbleib sprachen mit Dr. Florian Kührer-Wielach (von links) über Vertriebenenpolitik. Foto: Doris Roth
Nach der Pause fanden sich die Vertriebenenpolitischen Sprecher der CSU- bzw. SPD-Landtagsfraktion, Josef Zellmeier, MdL, und Volkmar Halbleib, MdL, sowie Paul Hansel, BdV-Bezirksvorsitzender Oberbayern und Vorsitzender des Kulturwerks Schlesien, zur Podiumsdiskussion „80 Jahre danach – Vertriebenenpolitik heute“ ein; die Moderation lag in den bewährten Händen von Florian Kührer-Wielach, dem Petra Loibl zurief: „Rocken Sie die Bühne!“. Der IKGS-Direktor bat seine Gesprächspartner zum Einstieg um eine Verortung der eigenen Person – was und wo ist Heimat? Zellmeier ist als Sohn einer Karpatendeutschen und eines Niederbayern großteils bei seinen Großeltern mütterlicherseits aufgewachsen; Halbleib ist in Ochsenfurt/Unterfranken verwurzelt, hat aber eine Mutter aus Tachau (Westböhmen) und eine Großmutter aus der Zips; Hansels Eltern stammen aus Ober- bzw. Niederschlesien, von wo seine drei älteren Geschwister mit der Mutter am 21. Januar 1945 fliehen mussten. Alle drei Politiker können also auf Flucht- und Vertreibungsbiografien in der eigenen Familie blicken. Einigkeit herrschte darüber, dass die aktuelle Vertriebenenpolitik in Bayern gut sei. Hansel betonte, dass dies auch schon vor 1990 so gewesen sei, Zellmeier wies darauf hin, dass man sich über alle politischen Lager hinweg einig sei über das Unrecht von Flucht und Vertreibung, Halbleib sprach an, dass sich die SPD in Bayern mit dem Thema leichter getan habe als im Bund – wohl deswegen, weil in Bayern schon so lange so viele Vertriebene leben: „Die Menschen in den Landsmannschaften sind die besten Brückenbauer“. Für die Zukunft seien „viele gute Pflöcke eingerammt“ in Bayern, so Hansel, der sich auf die vielen Museen, Kulturwerke und anderen Einrichtungen bezog. Wichtig seien die finanzielle Absicherung in Kooperation mit den südosteuropäischen Nachbarländern, die Zusammenarbeit mit den Heimatverbliebenen sowie soziale Medien und Digitalisierung. Auch Zellmeier sprach von der Wichtigkeit der dauerhaften Finanzierung und rief dazu auf, die Geschichte für junge Menschen erlebbar und spürbar zu machen, einen Mehrwert für sie zu schaffen und so Begeisterung zu wecken. Halbleib betonte, dass die Aktualität des Themas mit Händen zu greifen sei, und wünschte sich eine Vermittlungsarbeit auf Augenhöhe – „nicht nur über den Kopf, sondern über den Bauch“ – sowie die Förderung von Begegnung und Austausch. „Ich habe mir Notizen für meine Arbeit gemacht“, bekannte Petra Loibl nach der gehaltvollen Diskussion.

Zum Abschluss warf Dr. Martin Zückert, Geschäftsführer des Collegium Carolinum München, in seinem Vortrag „Die Erinnerung an die Vertreibung bei unseren östlichen Nachbarn“ drei Schlaglichter auf Polen, die Slowakei und Tschechien. Anhand von Karolina Kuzsyks Buch „In den Häusern der anderen“, Peter Paliks Theaterstück „Hauerland“ und Bildern eines Gedenkkreuzes in Kytlice/Kittlitz zeigte der Historiker drei Ebenen (national, regional, lokal) des Umgangs mit dem Geschehen am Ende des Zweiten Weltkriegs auf. Ausgehend davon ging er auf Ebenen, Phasen und Dimensionen der Erinnerung ein und wies am Ende auf das seit 2022 laufende länderübergreifende Projekt „Recycling the German Ghosts“ der polnischen Ethnologin Karolina Ćwiek-Rogalska hin, in dem ein polnisch-tschechisch-slowakisches Team die Wandlungen der durch Zwangsmigration und Wiederbesiedlung betroffenen Gebiete in Polen, Tschechien und der Slowakei bis in die Gegenwart untersucht. Petra Loibl dankte für die „anschauliche Darstellung“ in diesem letzten wissenschaftlichen Vortrag des Symposiums.

Dr. Petra Loibl. Foto: GAV / Nötel ...
Dr. Petra Loibl. Foto: GAV / Nötel
Ein Impulsgeber für den weiteren Dialog solle die Veranstaltung sein, sagte die Aussiedlerbeauftragte in ihrem Schlusswort und nannte als deren zentralen Punkt das Hören der Zeitzeuginnen, das Spüren der Emotionen. Sie bedankte sich bei allen Teilnehmern, Mitwirkenden und besonders beim Team ihrer Geschäftsstelle für die Organisation. „Ich bin echt begeistert, es war hervorragend aus meiner Sicht.“ Das Symposium sei der Beginn einer Reihe von Veranstaltungen im Gedenkjahr gewesen und sie freue sich auf ein Wiedersehen, zum Beispiel am 17. Mai in Schloss Ellingen bei der Eröffnung einer Ausstellung zur Rolle der Trakehnerpferde bei der Flucht, deren Schirmherrin Dr. Petra Loibl ist.

Ein kurzer Beitrag über das Symposium erschien in der BR24-Sendung am 26. März; er kann bis zum 25. April über die ARD-Mediathek abgerufen werden.

Doris Roth

Schlagwörter: Flucht und Vertreibung, Wissenschaft, Politik, Loibl

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