24. Dezember 2006

Heilig Abend in der Deportation

Heilig Abend 1945 im Lager 1416 in Dnjepopetrowsk. „An die grimmige russische Kälte jedoch konnten wir uns nicht gewöhnen“, vertraut die 22 Jahre junge Neppendorferin Elisabeth Schnell, geborene Huber, ihrem Tagebuch an, an jenem 24. Dezember - einem besonderen Tag? Lesen wir weiter.
Heute war ich mit 18 Frauen wieder am Bahngeleise am Ufer des Dnjeprflusses. Die Lokomotive brachte wie immer Schlacke und Bauschutt zum Auffüllen der Bahngeleise. Die Schienen mussten wir mit einer einfachen Eisenstange weiterrücken. Obwohl dieses Männerarbeit war, gehörte die Eisenstange und die Schaufel zu unserer täglichen Arbeit und langsam haben wir uns auch daran gewöhnt. An die grimmige russische Kälte jedoch konnten wir uns nicht gewöhnen. Wenn die Lokomotive sich mit dem Bauschutt näherte und zum Stehen kam, liefen wir alle in ihre Nähe, um von dem restlichen heißen Dampf und dem ausfließenden heißen Wasser etwas Wärme abzubekommen. Der russische Winter kann so grausam sein, wenn man ständig Hunger hat und die Sehnsucht nach den Lieben von daheim riesengroß ist.

Heute tat alles besonders weh. Jeder arbeitete schweigend vor sich hin. Es ist das erste Weihnachtsfest in der weiten Fremde. Ich musste an meine kleine Tochter denken. Inzwischen war sie vier Jahre alt. Als ich von ihr Abschied nahm, weinte sie sehr. Ihr Schreien habe ich heute noch in den Ohren. Ob sie heute an mich denkt ? Oder ist die Freude auf das Christkind größer? Kinder vergessen zum Glück schnell. Nur eines wusste ich genau, dass meine Schwiegereltern, wo ich sie zurückließ, sie sehr liebten, musste sie doch drei Söhne meiner Schwiegereltern ersetzen. Der älteste Sohn Georg, mein Mann, war in Russland vermisst, Mathias ist in Frankreich gefallen und Josef, nur 16-jährig, haben die Russen zur Zwangsarbeit verschleppt.

Der Rest der Frauen, die mit mir waren, mussten sogar mehrere Kinder in Rumänien zurücklassen. In einer anderen Gruppe arbeiteten Jungen und Mädchen zusammen. Wenn ich sie so frierend und hungernd sah, musste ich mit den aufsteigenden Tränen kämpfen. Sie hatten sich von ihrer Jugend bestimmt etwas anderes erträumt. Sehnsüchtig sahen wir den Russen nach, die aus einem nahe liegenden Betrieb heimwärts eilten. Sie verschwanden im Nebel und wir blieben halb erfroren, ausgehungert und müde zurück.

Da tauchte aus dem Nebel eine Gestalt auf. Es war eine Russin mit einem Eimer in der Hand. Sie kam auf dem Bahngeleise entlang. Ihr Alter konnte ich nicht schätzen – die russischen Frauen sahen alle gleich aus. Sie trugen Filzstiefel, eine abgesteppte Wattehose, einen Rock darüber und dazu eine abgesteppte Wattejacke. Ein großes Wolltuch wurde einmal um den Kopf geschlungen und im Nacken geknüpft. Ich dachte, sie geht Kohlen sammeln, doch über den Eimer war ein Tuch gespannt. Sie ging auf unseren Aufseher zu und fragte ihn etwas auf Russisch. Wir verstanden nichts. Dann kam sie auf uns zu, deckte den Eimer auf und wir waren alle sprachlos, denn der Eimer war voll mit gekochten, noch heißen Zuckerrüben. Jeder bekam zwei gekochte Rüben. Uns rannen die Tränen vor Freude über das Gesicht, die Russin lächelte, schlug ein Kreuz und entfernte sich schnell. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so sehr über ein Weihnachtsgeschenk gefreut. Als es dunkel wurde, gingen wir ins Lager zurück, mit strahlenden Augen und der Überzeugung, heut dem Christkind begegnet zu sein.

Elisabeth Schnell

„Ihr Schreien habe ich heute noch in den Ohren. Ob sie heute an mich denkt?“ Diese Frage quälte die junge Mutter an jenem Heilig Abend. Sechs Dekaden sind seither verstrichen. Frisch wie gestern ist die Erinnerung der heute 83-jährigen Elisabeth Schnell, die, verwitwet, in Regenstauf bei Regensburg lebt.

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 20 vom 20. Dezember 2006, Seite 5)

Schlagwörter: Erinnerungen, Deportation

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