17. Januar 2025

"Fern in Russland, in Stalino, liegt ein Lager scharf bewacht"

Deportation Januar 1945 in Stolzenburg – Berichte aus zweiter Hand
Stolzenburger Frauen und Mädchen in einem ...
Stolzenburger Frauen und Mädchen in einem Arbeitslager in der Ukraine, ca. 1949 Foto: Nachlass Agnetha Schwarz
Nachdem der Zweite Weltkrieg von den Stolzenburgern mehr als 100 Todesopfer gefordert hatte, erfolgte am 13. und am 23. Januar 1945 die Deportation von ca. 200 Personen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, von denen mindestens 39 Menschen in den Lagern an Hunger, Kälte und Krankheiten starben. Dieses Trauma ist noch immer in den Familien präsent und manchen Zeitzeugen, die damals Kinder waren, brennt es heute noch schmerzlich auf der Seele.

Den Opfern dieses bislang in Europa wenig beachteten und ungesühnten Verbrechens an der Menschlichkeit soll mit den folgenden Berichten ihre Stimme zurückgegeben werden. Außerdem stehen die Namen der in der Sowjetunion Verstorbenen sowie der Überlebenden im Stolzenburger Heimatbuch von Michael Hihn, ergänzt und vervollständigt durch weitere Auflistungen, zu finden auf unserer Website: stolzenburger.de.

Die Vorfälle und Ereignisse aus dieser Zeit wurden entweder von den jüngeren Geschwistern der Deportierten oder ihren Nachkommen berichtet. Hier ein kleiner Ausschnitt dessen, was die große Gemeinde Stolzenburg ab dem 13. Januar 1945 an Heimsuchung erfahren hat:

Rette sich, wer kann!

Zwei junge Stolzenburgerinnen wurden von ihren Eltern erst in einem Erdloch im Garten hinter dem Haus vor den russischen Soldaten versteckt und als dieser Unterschlupf nicht mehr sicher war, flüchteten sie aufs Feld und kamen mit anderen Dorfbewohnern in einer Scheune unter.

Eine 18-Jährige wurde mit ihrer besten Freundin und Nachbarin von ihrer Mutter unter einer gut getarnten Falltür im Keller versteckt. Die beiden Mädchen konnten ihr Versteck nur verlassen, wenn „die Luft rein war“. Der Vater der Freundin kam jedoch eines Tages – mit der Waffe eines russischen Soldaten im Rücken – zur Nachbarin mit der Aufforderung: „Gëit aus Kath ǝrais!“ (Gebt unsere Kath heraus!). So musste sich die Freundin schließlich stellen. Die 18-Jährige selbst blieb unentdeckt in ihrem Kellerversteck. Aber die Soldaten drohten nun ihrer Mutter mit Deportation und nahmen sie sogar mit auf die Wache, mussten sie aber am Abend wieder freilassen, da sie das Höchstalter für Deportation weit überschritten hatte. Die versteckte Tochter entging so der Deportation.

Wie viele derartige dramatische Szenen mit riskanten Entscheidungen und Gewissenskonflikten haben sich wohl in den Häusern und Familien der großen Gemeinde abgespielt? Die Freundin, die sich stellen musste, weil dem Vater ansonsten Erschießung gedroht hätte, wurde zusammen mit ihrer Schwester und den anderen Stolzenburgern auf der „Liste“ deportiert. Sie überlebten und kamen nach einigen Jahren frei, mit einem Transport nach Deutschland bzw. Österreich, wo sie sich ein neues Leben aufbauen mussten.

„Meine Mutter, geboren 1922, hatte Glück: Bruder Martin war im August 1944 geboren und daher musste sie nicht mit nach Russland gehen.“

„Mein Mann war erst 17 und versteckte sich in letzter Minute auf dem Dachboden unter einem Berg schmutziger Wäsche, die dort auf das ,Bechen‘ (sog. Große Wäsche) im Frühjahr wartete. Er hatte Glück, die russische Patrouille entdeckte ihn nicht.“

Eine junge Mutter von drei Töchtern war auch auf der Deportationsliste. Ihr Vater brachte dem leitenden sowjetischen Offizier ein Fünf-Liter-Krüglein mit Pali (Pflaumenschnaps) und daraufhin durfte seine Tochter wieder nach Hause zu ihren Kindern gehen.

„Meine Mutter war damals hochschwanger, aber die Soldaten meinten, sie hätte nur ein Kissen unter dem Rock. Einer von ihnen stieß ihr den Gewehrlauf gegen den Bauch. Mein Bruder Hanzi kam bald darauf zur Welt, aber etwas stimmte nicht mit ihm und er starb wenig später, wohl an den Folgen dieser Misshandlung.“

Als das menschenfressende Ungeheuer genannt Deportation sein Soll zahlenmäßig erfüllt hatte – u. a. mit sechzehnjährigen Kindern, bewegten sich bei Eis und Schnee lange Eisenbahnzüge mit in Viehwaggons eingepferchten Menschen wochenlang ostwärts Richtung Donbass, Ural und Sibirien, während zu Hause verängstigte Kreaturen aus ihren Verstecken wieder hinaus ans Tageslicht traten: Nur das nackte Leben gerettet und auch das musste irgendwie weitergehen.

Und die Lieben in der Heimat sind schon lange ganz allein. Kinder haben keinen Vater und auch kein Mütterlein.

Fremdes Land und fremde Erde

„Mein Großvater Michael, Jahrgang 1900, wurde auch deportiert und war von 1945 bis 1947 im Arbeitslager in Russland. Anschließend wurde er ungefragt mit einem Sammeltransport nach Deutschland geschickt. Er versuchte ein Jahr lang nach Hause zu gelangen, wurde aber in Österreich von der Polizei zurückgewiesen und landete schließlich in Estenfeld bei Würzburg, wo er bis 1956 bei einem Bauern arbeitete. Nachdem seine Familie in Stolzenburg ihrerseits vergeblich die Ausreise zu ihm nach Deutschland angestrebt hatte, gelang es ihm 1956 doch, nach Hause und zur Familie zurückzukehren. Ihm wurde daraufhin von den rumänischen Behörden im Gemeindesaal vor Publikum und Fotografen ein Empfang bereitet und der Eigentumstitel an seinem Haus und Hof zurückgegeben.“ Auch seine Tochter Katharina, 21, und sein Sohn Michael, 17 (mein Vater), waren Januar 1945 deportiert worden und überlebten ebenfalls. Der Sohn kehrte in die Heimat zurück, die Tochter kam nach Ostdeutschland und baute sich dort ein neues Leben auf, wie andere jungen Leute mit ähnlichem Deportationsschicksal.

Heimat, schönste Heimat mein! Wann werden wir wieder in Siebenbürgen sein?

„Mein Vater war 20, als er deportiert wurde. Nach einer schweren Schicht und auf dem langen Weg zu den Behausungen wurde er auf dem Bahndamm von einem Zug erfasst und verlor ein Bein. 1948 durfte er schließlich nach Hause fahren. Auch meine Mutter kam als 20-Jährige 1945 ins Lager, und zwar nach Dnepropetrowsk. Auch sie durfte nach vier Jahren Zwangsarbeit am 14.12.1949 nach Hause zurückkehren.“

„Ich war erst sieben, als ich meinen Vater am 13. Januar 1945 zum letzten Mal gesehen habe. Er wurde deportiert, kam in ein Arbeitslager im Ural, erkrankte dort an Ruhr und starb. Das hat uns ein Reußner Landsmann berichtet, der im selben Lager war.“ In der Stimme der 87-jährigen schwingt auch nach acht Jahrzehnten noch der unermessliche Schmerz mit, ohne den Vater aufgewachsen zu sein.

Und die Herzen dieser Menschen schlagen traurig, ernst und schwer, möchten gern in ihre Heimat, die Geliebten wiedersehn.

„Ich war genau ein Jahr alt, als mein Vater, 1907 geboren, deportiert wurde. Davor hatte er im rumänischen Heer gekämpft, Seite an Seite mit seinem Schwager, dem Bruder meiner Mutter. Nach dem 23. August 1944 wurden sie entlassen und durften nach Hause gehen. Allerdings nahmen die rumänischen Offiziere ihnen vorher die Uniformen ab, so dass sie in Unterwäsche den Heimweg antreten mussten. Da sie so nicht in der Gemeinde erscheinen wollten, schickten sie, kurz vor dem Dorf angekommen, von einer Scheune ,bam Leockebrånnen‘ Nachricht an ihre Familien. Jedoch kaum zurückgekehrt, wurden die beiden im Januar 1945 ebenfalls deportiert. Sie waren dreieinhalb Jahre zusammen im selben Arbeitslager und kehrten am Johannistag 1948 auch gemeinsam nach Hause zurück.“

Dieses Glück hatten andere leider nicht. Anhand der Hausnummern und der Geburtsdaten in diversen Namenslisten ist festzustellen, dass in einigen Fällen mehrere Personen aus einer Familie, z.B. Vater und Sohn, in der Deportation starben. Wie schwer muss es erst für den Vater gewesen sein, der zwar selbst überlebte, aber seinen 18-jährigen Sohn in fremder Erde notdürftig hatte begraben müssen?

Sollt’ ich einst in Russland sterben, sollt’ ich da begraben sein, so begrüßt mir meine Heimat und die Lieben all daheim.

„Eine Schwester meines Vaters, Agnetha, war erst 17 Jahre alt, als sie mit den anderen im Januar 45 deportiert wurde. Sie verstarb bereits ein Jahr später in einem Arbeitslager in Russland.“

„Ich war damals elfeinhalb, als meine zwei Schwestern, Elisabeth, knapp 21, Agnetha, 19, und mein Bruder Hans, im Herbst ‘44 erst 16 geworden, nach Russland deportiert wurden“. Das schreibt eine Frau, die sich nach 80 Jahren an alles erinnert, als ob es gestern gewesen wäre: genaues Datum, Namen, Vornamen und Hausnummern all derer in ihrer Straße, die das gleiche Schicksal ereilt hatte. Was mag die Elfjährige angesichts dieser Ereignisse empfunden haben? Und die Eltern erst, die machtlos drei ihrer Kinder hatten ziehen lassen müssen? Da erfahren die heutzutage oft gedankenlos und inflationär gebrauchten Ausdrücke wie „loslassen müssen“ oder „jemanden arg vermissen“ eine ganz neue Dimension. Und die Großeltern? Hilflos, enteignet, mittellos und mit ihren Familien aus den eigenen Häusern vertrieben. Agnetha starb 19-jährig gleich im ersten Jahr in einem russischen (ukrainischen?) Lager, Elisabeth und Hans wurden nach ihrer Freilassung in das zerbombte Nachkriegs-Deutschland geschickt.

„Mein Onkel Johann war noch nicht 17, als er nach Russland deportiert wurde. Er überlebte zwar, jedoch durfte er nachher nicht zurück nach Hause, er wurde mit einem Sammeltransport nach Deutschland geschickt.“

In manchen Fällen wurden die Deportierten sogar gefragt, ob sie zurück nach Rumänien oder nach Deutschland verschickt werden wollen. 24 Stolzenburger Männer sowie 15 Frauen hatten dieses Glück nicht und auch keine Wahl. Ihre Namen sind nun in den Totenlisten für immer festgehalten und jederzeit nachlesbar.

„Meine Großtante Maria war verheiratet und hatte mehrere Kinder. Jedoch war sie noch nicht 30, demnach auch auf der ,Liste‘. Also musste die junge Mutter mit den anderen 130 Frauen und Mädchen die Reise ins Ungewisse antreten. Ihre Kinder wurden von der Großmutter großgezogen.“ Das ist bekanntlich in vielen anderen Familien der Fall gewesen.

Viele Kinder daheim in großer Not, keinen Vater, keine Mutter und auch kein Brot.

Als sich nach einigen Jahren in den sowjetischen Arbeitslagern die Bedingungen für die Überlebenden etwas besserten, man nach Hause schreiben konnte oder gar Post von dort bekam und für seine Arbeit etwas Geld erhielt, um nicht mehr hungern zu müssen, war das Leben für die Lagerinsassen etwas erträglicher geworden. Es soll sogar Musik, Tanz und Geselligkeit gegeben haben, wie eine Stolzenburgerin vor etlichen Jahren berichtete. Auch ein Kriegsgefangener hatte die Erfahrung gemacht, dass die russische Seele für Musik sehr empfänglich ist: Mit seiner angeborenen Freundlichkeit, seinem Musizieren und Gesang konnte der gebürtige Stolzenburger die grimmigen Bewacher milder stimmen und so mit seinen Kameraden dem Hungertod entgehen.

Bei all den Entbehrungen ist es daher verständlich, wenn ein ehemaliger Lagerinsasse, der fünf Jahre gehungert hatte, viel später im Familienkreis gelegentlich zu sagen pflegte: „Eher mache ich die Türen im Haus breiter, als dass ich je wieder hungern werde!“

Was sonst noch bei den „Aushebungen“ selbst und später in den Arbeitslagern vorgefallen sein mag an Gräueltaten, verübt an Frauen und Mädchen, oder an Verzweiflungstaten verängstigter, hungernder und frierender Menschen, können und wollen wir uns nicht vorstellen und belassen es dort, wo es all die Jahrzehnte sicher verwahrt wurde: auf dem Grund der verletzten Seelen. Die unschuldigen Todesopfer sowie das lebenslange Schweigen aus Kummer, Scham und Schmerz der Überlebenden verdienen unser Mitgefühl und unseren größten Respekt. Ihr unaussprechliches Leid soll unvergessen sein.

Bemerkungen

a) Die volkstümlichen Verse, die hier kursiv eingestreut sind, entstammen dem Lied der Russland-Verschleppten aus dem „Gedicht über die Sachsengeschicht“, gefunden auf der Website der HOG Bistritz-Nösen. Das Lied hat Menschen in äußerster existentieller Not über Trennung und Entwurzelung, Hunger und Kälte hinweggeholfen und ihnen Trost und Kraft gegeben. Daher steht uns kein Urteil über die dichterische Qualität der Reime zu.

b) Zwischen „Sowjetunion“, „Ukraine“, „Russland“ wurde von den Berichtenden oft nicht unterschieden und meist pauschal der Begriff „Russland“ verwendet.

c) Die Alters-Vorschriften für die Deportation: Männer zwischen 17-45, Frauen zwischen 18-30, Ausnahmen: Schwangere und Frauen, die ein Kind jünger als ein Jahr hatten.

Astrid K. Thal

Lesen Sie auch:

Das Trauma der Deportation ist bis heute präsent: Stolzenburger Deportiertenlisten vervollständigt, SbZ Online vom 24. Januar 2024

Schlagwörter: Deportation, Verschleppung, Sowjetunion, Stolzenburg

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