20. Februar 2013

„Volle Kelle“: Sexismus-Debatte in Deutschland

Seit Laura Himmelreichs Porträt des FDP-Politikers Rainer Brüderle mit dem provokanten Titel „Der Herrenwitz“ im stern Nr. 5 vom 24. Januar 2013 erschienen ist, geht ein Aufschrei durch die Republik. Brüderles in leicht angesäuseltem Zustand geäußerter Spruch vom Dirndl, das die Journalistin gut ausfüllen könnte, wird landauf, landab zum Anlass für eine hitzige Debatte über den Sexismus genommen. Die Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen von Günther Jauch über Anne Will bis Maybrit Illner machen auf mit Themen wie „Herrenwitz mit Folgen – hat Deutschland ein Sexismus-Problem?“, „Sexismus-Aufschrei – hysterisch oder notwendig?“ oder „Schote, Zote, Herrenwitz – Ist jetzt Schluss mit lustig?“ JournalistInnen, FrauenrechtlerInnen, PolitikerInnen diskutieren sich die Köpfe heiß, unter ihnen auch die 1975 in Heltau geborene Journalistin und Bloggerin Birgit Kelle.
Im März 2012 forderte Birgit Kelle in einem Plädoyer im FOCUS einen „femininen Feminismus“ und beklagte, dass sich die deutsche Familienpolitik nur vordergründig aufopferungsvoll um die Frau kümmere, dabei aber die Mütter vernachlässige, denn: „Frau ist nicht gleich Mutter (...) Längst steht im Fokus der Frauenpolitik nicht mehr die Mutter, die sich um den Fortbestand der Generationen kümmert, sondern die Frau in der Arbeitswelt. Frauenquoten, Widerstand gegen das Betreuungsgeld, Frauenförderung in der Wirtschaft, flächendeckender Kita-Ausbau und sogar das Elterngeld, das als ,Lohnersatzleistung‘ für den Schadensfall Kind definiert wird – alles Instrumente zur Förderung der berufstätigen Frau. Schön, klug und vom Manne unabhängig – so soll sie sein. Dafür hat der Feminismus jahrelang gekämpft. Endziel: Frauen-Vollbeschäftigung.“ Weiter schreibt sie: „Wir brauchen keinen Feminismus mehr in unserem Land. Wir haben schon seit Jahren eine gesetzliche Gleichstellung der Frau. Was wir brauchen, ist eine neue Mütterpolitik, denn Mütter sind als Verliererinnen der Frauenbewegung zurückgelassen worden. (...) Stück für Stück wurde der soziale Status einer Frau, die sich um Familie und Haushalt kümmert, finanziell ausgehöhlt. Ihre Alterssicherung ist ein Witz, und das neue Unterhaltsrecht lässt sie im Regen stehen. (...) Es ist trauriges Erbe eines verfehlten Feminismus, dass ein spezifisch weiblicher Lebensweg als nicht mehr erstrebenswert gilt. Dass Mutterschaft – die ureigenste Domäne der Frau – nur noch ein Problem darstellt, das es zu organisieren gilt.“

Birgit Kelle ...
Birgit Kelle
Birgit Kelle, Vorsitzende des Vereins „Frau 2000plus“ und Vorstandsmitglied beim europäischen Verband „New Women for Europe“ (NWFE), Dachverband für Frauen- und Familienverbände in Europa mit Beraterstatus am Europäischen Parlament, bezeichnet sich selbst in ihrem Plädoyer im FOCUS als „Teil der Frauenbewegung, ich laufe aber in eine andere Richtung. Das ist im Frauenkollektiv nicht vorgesehen, sondern Hochverrat.“ Damit begegnet sie den Feministinnen vom Kaliber einer Alice Schwarzer, denen Kelles Ansichten allem zuwiderzulaufen scheinen, wofür sie einst gekämpft haben. Dass sie gegen die Ehe von Homosexuellen und deren Recht auf Adoption ist und diese Meinung auch öffentlich vertritt (unter anderem in der Sendung „hart aber fair“ am 3. Dezember 2012), bringt viele Menschen gegen sie auf – „Hexe“ ist noch der netteste Begriff, mit dem sie sich nach ihrem Fernsehauftritt konfrontiert sah.

Zur „Brüderle-Affäre“ war sie in der Sendung von Markus Lanz am 31. Januar 2013 zu Gast und lieferte sich einen Schlagabtausch mit stern-Chefredakteur Andreas Petzold, dem sie – gemeinsam mit seinem Co-Chefredakteur Thomas Osterkorn – vorwarf, ihre Mitarbeiterin Laura Himmelreich nicht „geschützt“ zu haben, da sie im Rahmen ihrer Langzeitbeobachtung immer wieder mit Rainer Brüderle zusammentraf und so des Öfteren seinen „Übergriffen“ ausgesetzt war. Die Definition von Sexismus werde beliebig, so Kelle, wenn man Brüderles verbale Entgleisung als sexuelle Belästigung verstehe, und man möge sich doch vorstellen, wie die Begegnung verlaufen wäre, wenn das Gegenüber der Journalistin George Clooney gewesen wäre. Diesen Tenor hat auch Kelles Artikel „Dann mach doch die Bluse zu“, der am 29. Januar im Online-Debatten-Magazin The European (dort veröffentlicht sie unter dem Stichwort „Volle Kelle“) erschienen ist. „Wo persönliche Befindlichkeit als ausreichender Gradmesser erscheint, um Sexismus zu definieren, verkommt der Begriff zur Beliebigkeit“, schreibt sie und nennt die sich wie ein Flächenbrand ausbreitende Diskussion „aufgebauscht und heuchlerisch“. „Es nervt, es regt mich auf, gerade als Frau, dass inzwischen jede Lappalie, jede blöde Anmache, jedes Hinterherpfeifen und jeder Blick auf das falsche Körperteil zur falschen Zeit zum Sexismus hochstilisiert wird. Es wird nicht mehr differenziert und damit jede ernsthafte Diskussion im Keim erstickt.“ Die Kernfrage, schreibt Kelle, sei: „Wie wollen wir das Dilemma lösen?“, und gibt sich selbst die Antwort: „Wenn wir also ein bestimmtes Verhalten nicht wollen, müssen wir es auch aussprechen. Müssen wir selbst die Grenze ziehen und diese deutlich machen.“

Fakt ist, dass Laura Himmelreich in ihrem Artikel über Rainer Brüderle weder den Begriff „Sexismus“ noch die Formulierung „sexuelle Belästigung“ verwendet hat. Einig sind sich aber alle darüber, dass sie eine in diesem Land längst fällige Debatte angestoßen hat, die über Deutschlands Grenzen hinaus Wellen geschlagen hat – der britische Economist und die US-amerikanische New York Times sind nur die prominentesten ausländischen Medien, die das Thema aufgriffen.

Die Sexismus-Debatte wird weitergehen, und Birgit Kelle als „Teil der Frauenbewegung“ und Frau, die gerne Frau ist, wird sich weiterhin zu Wort melden, denn: „Wir haben es selbst in der Hand als Frauen.“

Doris Roth


Zur Person
Birgit Kelle wurde am 31. Januar 1975 in Heltau als Birgit Heike Götsch geboren und kam 1984 nach Deutschland. Sie studierte Rechtswissenschaften in Freiburg und volontierte anschließend beim Badischen Verlag. Von 2005 bis 2008 war sie Chefredakteurin der christlichen Monatszeitung VERS1. Sie arbeitet als Kolumnistin für verschiedene Print- und Online-Medien (u.a. Die Welt, FOCUS, The European, Kath.net) und ist Vorsitzende des Vereins „Frau 2000plus“ und Vorstandsmitglied beim europäischen Verband „New Women for Europe“ (NWFE), Dachverband für Frauen- und Familienverbände in Europa mit Beraterstatus am Europäischen Parlament. Birgit Kelle lebt am Niederrhein, ist verheiratet und hat vier Kinder im Alter von 4, 7, 11 und 13 Jahren.

Weiterlesen:
www.frau2000plus.net
www.theeuropean.de
www.newwomenforeurope.org

Schlagwörter: Porträt, Frauen, Journalistin, Kelle

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Neueste Kommentare

  • 17.04.2013, 10:17 Uhr von orbo: Sexismusdebatte - Teil II Gestern Abend bei Maischberger: Birgit Kelle war mit sachlichen Aussagen ... [weiter]
  • 24.02.2013, 01:30 Uhr von Joachim: Anchen schrieb: "Joachim, hört sich aber gar nicht gut an." Nee, nicht wirklich....... [weiter]
  • 23.02.2013, 15:23 Uhr von getkiss: @Anchen "in Deutschland leben doch mehr Menschen pro qkm als z.Bsp. in RO. Man kann fast geneigt ... [weiter]

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