11. April 2013

Möglichkeiten der Zukunft besser erkennen: Nachruf auf Georg Weber

„Das häufig gehörte Diktum: Die Siebenbürger Sachsen haben sich aus ihrer 850-jährigen Geschichte verabschiedet, ist nach unseren Beobachtungen nur die halbe Wahrheit. In ihren vielfältigen kirchlichen, politischen, sozialen und wissenschaftlichen Organisationen im In- und Ausland kultivieren sie nicht nur penetrante Selbstgewissheit, sondern reflektieren ihre Heimat auch selbstkritisch, wohl wissend: Nur wer das tut, kann Möglichkeiten seiner Zukunft besser erkennen.“ In seiner unnachahmlichen, kantig-provozierenden und doch liebevoll-engagierten Art fasste im Oktober 2002 der bekannte Münsteraner Soziologe Prof. Dr. Dr. h.c. Georg Weber im Vorwort des 910 Seiten starken Bandes „Emigration der Siebenbürger Sachsen. Studien zu Ost-West-Wanderungen im 20. Jahrhundert“ die Fragen und Herausforderungen zusammen, denen sich seine Landsleute in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus seiner Sicht zu stellen hatten. Seine Stimme können wir seit dem 9. März 2013 nicht mehr hören, seine Werke aber noch in ferner Zukunft mit Erkenntnisgewinn lesen.
Zur Liebe und kritisch-humorvollen Treue zu seiner Heimat Siebenbürgen hat sich der am 22. Oktober 1931 in Zendersch geborene Georg (Jörka) Weber stets bekannt. Der renommierte Münchener Soziologe Prof. Dr. Armin Nassehi, einer seiner besten Schüler und engsten Mitarbeiter, hat Georg Weber im Vorwort zur 1997 erschienenen Festschrift „Nation, Ethnie, Minderheit. Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte“ bescheinigt, er zeichne sich durch „starkes persönliches, ja emotionales Engagement und eine biographisch fundierte ‚Hingabe an die Sache‘“ ebenso aus wie durch seine Zugehörigkeit zur „scientific community – einer Kaste, deren höchs­tes Privileg womöglich darin besteht, vormals für unverrückbar, unfraglich und sicher gehaltene Wahrheiten zu verrücken, in Frage zu stellen und zu verunsichern“.

Emotionales Engagement zeigte Georg Weber zeitlebens für seinen Heimatort Zendersch. Er musste ihn als Dreizehnjähriger verlassen, als die sächsischen Bewohner am 8. September 1944 evakuiert wurden, sich nach der Flucht in Österreich und Deutschland zerstreuten, zum Teil aus den sowjetischen Besatzungszonen ­repatriiert wurden. Für den Erhalt der Gemeinschaft hat er sich ehrenamtlich eingesetzt, zusammen mit seiner Frau Renate ein Anschriftenverzeichnis erstellt, auf deren Grundlage 1977 das erste von ihm initiierte Zenderscher Treffen stattfinden konnte, mit den Rundbriefen Det Zenderscher Zichen den Kontakt und Informationsaustausch zwischen den ehemaligen Bewohnern hergestellt, die Heimatortsgemeinschaft Zendersch e.V. mit begründet und mit der Ortsmonographie „Zendersch – eine siebenbürgische Gemeinde im Wandel“ das Identitätsbewusstsein gestärkt und ein wissenschaftlich hoch anspruchsvolles Werk von bleibendem Wert geschaffen. Seine Bemühungen galten ebenso dem Erhalt der Kirchenburg Zendersch, dafür sind auch die Spenden zu seinem Gedenken vorgesehen.

Georg Weber, 2011. Foto: Dirk Senkpiel ...
Georg Weber, 2011. Foto: Dirk Senkpiel
Der Werdegang des Universitätsprofessors und vielseitigen Wissenschaftlers lässt sich relativ schnell skizzieren: Studium der Theologie und Philosophie an den Universitäten Heidelberg, Basel, Göttingen und Erlangen (1952-1957); Ful­bright-Stipendium und Erwerb des Titels Master of Sacred Theology in Springfield/Ohio (1957-1958); Reisepfarrer für die Integration der Vertriebenen zwischen Hamburg und Wien im Auftrag des Hilfskomitees der Siebenbürger Sachsen und evangelischen Banater Schwaben sowie des Lutherischen Weltdienstes, mit Initiativen zu Gemeindegründungen und neuen Kirchenbauten (1958-1960); Promotion in evangelischer Theologie (1965); Habilitation in Soziologie und Sozialpädagogik (1971); Berufung zum Professor für Soziologie und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, Abteilung Münster (1973); Professor für Soziologie und Sozialpädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (1980-1997). Als Wissenschaftler und akademischer Lehrer hat Professor Georg Weber weit über die Grenzen der Gruppe gewirkt, der er entstammt und der er sich stets zugehörig gefühlt hat. Der Soziologe, Sozialpädagoge, Thanatologe (Sterbeforscher) oder Migrationsforscher – um nur einige seiner Arbeitsgebiete zu benennen – hat Bücher hinterlassen, die für die jeweiligen Fachbereiche grundlegenden Wert haben, hat Schüler geprägt, die sein Werk fortführen und nicht nur Schüler geblieben, sondern – von ihm gefördert und gefordert – über den Lehrer hinausgewachsen sind. Themen wie soziale Hilfe, Alter in der modernen Gesellschaft, abweichendes Verhalten, Identität, Migration und Integration haben ihn zeitlebens beschäftigt, selbstverständlich auch nach seiner Emeritierung. Schaffenspausen kannte er nicht, bis zuletzt war er voller Ideen und Pläne.

Möglich wurde dieses umfassende Lebenswerk nicht zuletzt dank einer heutzutage kaum vorstellbaren und doch beispielhaften zwischenmenschlichen und wissenschaftlichen Symbiose mit seiner Frau, Dr. Renate Weber, geb. Schlenther, die er am 6. April 1962 geheiratet hat. Der liebevollen, harmonischen Ehe entsprangen die drei Kinder Cornelius, Markus und Ricarda, die der Familie sieben Enkelkinder schenkten. Der wissenschaftlichen „Ehe“ entsprangen die meisten seiner Werke, im perfekten geistigen Austausch in allen Fragen und ebensolcher Arbeitseinteilung.

Über, aber auch für die Gruppe der Siebenbürger Sachsen hat Georg Weber – oft zusammen mit seiner Frau und mit einigen seiner ­besten akademischen Schüler – grundlegende Forschungen angestellt, unter denen neben den bereits erwähnten Büchern über seinen Heimatort Zendersch und die Emigration der Siebenbürger Sachsen vor allem seine Untersuchung „Beharrung und Einfügung. Eine empirisch-soziologische Analyse dreier Siedlungen“ (1968), der von Georg und Renate Weber herausgegebene Leitfaden „Zugänge zur Gemeinde. Soziologische, historische und sprachwissenschaftliche Beiträge“ (2000) und das 1995 publizierte, dreibändige Grundlagenwerk „Die Deportation der Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949“ zu nennen sind. In diesem Buch haben Weber und seine Mitarbeitenden eine umfassende Dokumentation der historischen Prozesse und Vorgänge, ihrer Folgen und ihrer Verarbeitung vorgelegt, am Beispiel vieler Einzelschicksale den Schrecken verdeutlicht, den diese brutale Zäsur im Leben der Siebenbürger Sachsen allgemein und der Betroffenen im Besonderen mit sich gebracht hat. Doch es wurden – ganz im Sinne der von Armin Nassehi beschriebenen Infragestellung von für sicher gehaltenen Wahrheiten – auch Tabus gebrochen, am schwersten vermittelbar die Feststellung, dass die Rumänen als Volk und die rumänische Regierung als Verantwortliche die Deportation nicht aktiv betrieben haben, oft einfach nur von den sowjetischen Siegern dazu getrieben worden sind.

Vom ehrenamtlichen Engagement Georg Webers zeugt nicht nur sein Wirken für die Zenderscher. Er wirkte ebenso im Hilfskomitee, später im Evangelischen Freundeskreis Siebenbürgen. 1962 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde, der als Nachfolger eines seit 1840 bestehenden wissenschaftlichen Vereins entstanden ist. Im Vorstand und im Geschäftsführenden Vorstand des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde hat sich Jörka zwischen 1978 und 1999 als anregender, gelegentlich schonungslos kritischer, zugleich humorvoller und selbstironischer „guter Geist“ eingebracht, als Mitherausgeber von drei wissenschaftlichen Buchreihen des Vereins Zeit und Kraft geopfert und dazu beigetragen, dass die Qualität und Reputation der Publikationen gesichert wird.

Äußerliche Ehrungen waren ihm nicht wichtig, aber als er zum Ehrenmitglied der Zenderscher Heimatortsgemeinschaft ernannt wurde, freute er sich ebenso wie 1992, als ihm die bekannteste und nach 1989 reformfreudigste Hochschule Siebenbürgens, die Babeș-Bolyai-Universität in Klausenburg, „für seine außerordentlichen Verdienste um die moderne Soziologie und um die Förderung der deutsch-rumänischen akademischen Beziehungen“ die Ehrendoktorwürde ihrer Philosophischen Fakultät verlieh. Die Laudatio hielt der damalige Dekan Prof. Dr. Andrei Marga, einer der profiliertesten Bildungspolitiker und Philosophen Rumäniens, der als Rektor der Klausenburger Universität und als Bildungsminister nachhaltige Reformen angestoßen und umgesetzt hat.

Wir nehmen – das mögen obige Zeilen vermittelt haben – Abschied von der Person, jedoch nicht von der Persönlichkeit von Georg Weber, denn ihre Leistungen und ihr Werk dauern fort, zur Ehre der Siebenbürger Sachsen insgesamt, zur Ehre der Siebenbürgen-Forschung im Besonderen.

K. G.

Schlagwörter: Wissenschaft, Nachruf, Soziologie, Zendersch

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  • 11.04.2013, 09:54 Uhr von siebenschläfer: Er war einer der ganz Großen aus unserem Volke, der, aus meiner Sicht, das beste siebenbürgische ... [weiter]

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