22. Oktober 2024

Im Glauben an die Kraft des Gedichts: Horst Samson wurde 70

Nicht von ungefähr erwähnt der Lyriker Horst Samson die Merseburger Zaubersprüche in seinen Essays über Literatur. Diese einzigen erhaltenen althochdeutschen Sprüche sind zu einer Zeit entstanden, als dichterischen Worten noch Zauberkraft zugesprochen wurde. Dieses Urvertrauen in die beschwörende Wirkung des Wortes lebte und lebt fort, wenn auch in abgewandelten Äußerungsformen. Vielleicht rührt daher Horst Samsons Glaube an die Kraft des Gedichts.
Horst Samson wurde im UN-Jahr des Delfins (2007) ...
Horst Samson wurde im UN-Jahr des Delfins (2007) von der Gesellschaft zum Schutz der Delfine, der Münchener Zeitschrift Das Gedicht und Rewe-Touristik für „Das beste deutsche Delfingedicht“ ausgezeichnet. Seither trägt er ein Goldkettchen mit Delfin. Foto: Edda Samson
Denn leidenschaftlich und konsequent wie kein zweiter rumäniendeutscher Autor seiner Generation bekennt er sich zum Gedicht als Urform der Dichtung und beklagt ihr Schattendasein im aktuellen Literaturbetrieb: „Lyrik ist unstrittig die verhexte Königsdisziplin der Literatur, der unsere Zeit die Bettelkleider übergeworfen hat, bevor sie aus Buchhandlungen verjagt und an die Ränder der Papierwelt vertrieben wurde, auf die Deponie der missachteten Werte ...“ (In: „Heimat als Versuchung. Das nackte Leben“, Pop Verlag 2018)

Geboren wurde Horst Samson vor siebzig Jahren, am 4. Juni 1954. Nicht in einem beschaulichen Banater Heidedorf, sondern in Salcâmi, einem Verbannungsort in der weiten, unwirtlichen rumänischen Distelsteppe, genannt Bărăgan, wo seine Eltern fünf Jahre Zwangsaufenthalt verbringen mussten, bis die Familie 1956 in ihr Heimatdorf Albrechtsfor (rumänisch Teremia Mică) zurückkehren konnte. Die Verletzungen aus dieser Zeit, die nie ganz vernarbten – weder in der Familie Samson und noch in Tausenden anderen Banater Familien, auch rumänischen und serbischen – wirkten gewiss auch auf den heranwachsenden jungen Horst Samson ein und sollten ihn späterhin als Dichter begleiten. In den benachbarten banatschwäbischen Gemeinden Albrechtsflor und Marienfeld, nahe der serbischen Grenze, verbrachte er seine Kindheit und kam dann an das deutsche Pädagogische Lyzeum in Hermannstadt, wo er zum Lehrer ausgebildet wurde. An seine Hermannstädter Jahre und die daraus entstandene enge Verbundenheit mit Siebenbürgen erinnert Horst Samson in seinem autobiografischen Essay „Unterwegs zu Joachim. Die Reise eines jungen Schwaben aus dem Banat nach Siebenbürgen und zurück“ (2019), verfasst zu Joachim Wittstocks 80. Geburtstag. Darin ist auch zu lesen, dass Georg Scherg der „allererste Schriftsteller aus Fleisch und Blut“ war, den er „gesehen“ hat. Dessen Lesung vor „Päda“-Schülern hat ihn aber nicht begeistert, denn er schwärmte zu der Zeit eher für moderne Musik.

Nach kurzer Tätigkeit als Lehrer arbeitete Samson von 1977 bis 1984 als Redakteur der Neuen Banater Zeitung, danach bei der Zeitschrift Neue Literatur bis 1987, dem Jahr seiner Ausreise nach Deutschland.

Anfang der 80er Jahre war er Sekretär des Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturkreises in Temeswar, eng verbunden mit den Autoren seiner Generation, darunter den bis dahin noch in Rumänien verbliebenen früheren Mitgliedern der Aktionsgruppe Banat. In seinem Temeswarer Jahrzehnt machte Horst Samson mit mehreren Gedichtbänden auf sich aufmerksam: „Der blaue Wasserjunge“ (Temeswar 1978); „Tiefflug“ (Klausenburg 1981); „Reibfläche“ (Bukarest 1982); „Lebraum“ (Klausenburg 1985) und wurde mit dem Lyrikpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes (1981) und Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturpreis (1982) ausgezeichnet. Doch seine nonkonforme Haltung, die Abfassung und Mit-Unterzeichnung eines offiziellen Protestbriefes Temeswarer deutscher Autoren an die Parteioberen hatte den erhöhten Druck der Securitate zur Folge, die ihn schon längst im Visier hatte. Er erhielt Schreibverbot und war Repressalien und Bedrohungen seitens des Geheimdienstes ausgesetzt. Zu den in Rumänien erschienenen Gedichtbänden kamen in Deutschland weitere zehn Sammlungen hinzu, obwohl der Dichter dem Journalist Horst Samson durch viele Jahre Vorfahrt gewähren musste, denn Journalismus war sein Brotberuf.

Seine neueren Bücher sind allesamt im Pop Verlag Ludwigsburg erschienen: „Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin“ (2014), „Heimat als Versuchung. Das nackte Leben. Literarisches Lesebuch – Gedichte, Prosa, Literaturkritiken, Interviews“ (2018, 2. erweiterte Auflage 2019), „Das Meer im Rausch. Gedichte. Illustrierte Ausgabe“ (2019), „In der Sprache brennt noch Licht“ (2021), „Der Tod ist noch am Leben“ (2022).

Horst Samson hat seinen zweigeteilten Lebensweg – eingangs in Rumänien, dann in Deutschland – gleichsam mit Gedichten gepflastert und Wegmarken und Bruchstellen mit Essays und Interviews deutlich markiert. Der Dichter bekennt: „Viele meiner Gedichte spiegeln exemplarisch die Zeitläufte des Emigranten, die fortgesetzte Suche nach Vaterländern und verlässlicher Verortung, nach unverbrauchter Sprache und nach einem Stück blauen Himmel, die Heimat sein können, und sie bilden den Reichtum der Sprache, der Literaturen dieser Welt und des poetischen Arsenals ab.“ (Heimat als Versuchung, S. 290)

In manchem seiner Gedichte blickt er zurück im Zorn, mit Bitterkeit, Schmerz und Melancholie, ob des unwiederbringlichen Verlustes der eigenen Lebenswelt, der demütigenden Abfahrt aus dem Grenzbahnhof Curtici nach Westen und eingedenk des unfassbaren Verfalls, der die Hinterlassenschaft der Ausgewanderten in wenigen Jahren heimsucht. Sprachbilder werden potenziert durch Anklänge an musikalische Genres und Begriffe, so unter vielen anderen in „Violine. Die Köpfe sind unterwegs“, Miniatüre in g-Moll“ oder in „Requiem“. Im letztgenannten Gedicht heißt es: „Verdorrtes Leben im Holunderbaum/.../ Ausgetrocknet die Dorfteiche, / in denen wir angelten .../ Verschollen sind Namen/ Schall und Rauch, Gräber und Erinnerungen. Die Toten / sind unterwegs , suchen und versuchen zu vergessen .../ Die Kirche steht noch. / Die Sakristei ein Haufen Schutt ... “

Der Begriff des „poetischen Chronisten der Auswanderung“ ist hier weiter zu fassen. Dem Dichter geht es nicht bloß um die Spiegelung des konkreten historischen Vorgangs, sondern um dessen Hintergründe und zerstörerische Wirkung auf das Leben der betroffenen Menschen, mit denen er sich identifiziert. An Protestgedichte im engeren Sinn – wie jene gegen Willkür und Gewalt in der kommunistischen Diktatur, gegen das Unwesen des Geheimdienstes – fügen sich Verse über Schuld und Verrat. Selbst Bilder der Landschaft und Dinge des Alltags werden zu Zeichen der bedrückenden Innenwelt des Dichters. Sogar in thematisch so verschiedenen Gedichten wie „Bei den Sonnenblumen“ oder „Nachruf auf meine Schreibmaschine“: „Sie wusste alles über mich (...) und schrieb/ meine verkorkste Biographie mit, die Historie/ der Familie, Krieg, Deportation, Erniedrigungen (...) / Doch ich wusste,/ kein Wort, kein Wort würde sie verraten (...).“

Horst Samson weitet den Begriff der Auswanderung aus, spricht anklagend von Exil, von „Niemandlingen“, die nicht allein das Land ihrer Träume, sondern auch die Bitternis der Fremdheit erleben. Überall trägt der Entwurzelte das Gepäck der Erinnerungen mit sich. Sie beflügeln die Imagination bei der emotionalen Naturbegegenung in anderen Breiten – kein anderer rumäniendeutscher Autor hat solch tiefgründige Meeresgedichte geschrieben wie Horst Samson!

Die Erinnerungen generieren geradezu das „Imaginäre“, in dem sich der Dichter an vielen Orten, fast bis „ans Ende der Welt“ bewegt.

Unrast ist des Dichters ständiger Begleiter, auch in den Gedichten über Liebe und Tod, über Schönheit und Verfall, Vergänglichkeit und Trauer. Nicht zuletzt im Spannungsverhältnis zur Sprache, zum Wort als Wunder und Freund, aber auch als Gefahr und Schmerz („Denn alles hat angefangen“). Horst Samson ist eben ein Dichter unserer Zeit, längst angekommen in der heutigen deutschen Lyrik.

Er ist kein Nostalgiker. Aber trotz aller expressionistischen, zuweilen sprühenden Sprachkraft, bei allem kämpferischen Protest gegen den Zustand der Welt erscheint er mir doch wie ein verkappter Romantiker, dem die „blaue Blume“ entrückt ist, der aber nicht aufgibt. „Algorithmus der Natur“: „Ein blauer Tag, September./ Die Pracht des Sommers noch einmal.// ... Die Blätter schmücken sich für den Wind./ Gleich wird er sie abholen / zum Tanz durch die Alleen.“

Walter Engel

Schlagwörter: Porträt, Geburtstag, Horst Samson, Lyriker

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