15. April 2025

Abschied von einer Germanisten-Generation/Zum Tode des Sprachwissenschaftlers und Mundartforschers Heinrich Mantsch

Bei genauem Suchen wird offenbar, dass sich im engeren Kreis der Alters- und Berufsgenossen niemand mehr findet, der aus Kollegialität und eigenem Miterleben einem Vierundneunzigjährigen noch nachrufen könnte, was von dessen Lebensleistung eventuell übrig und erinnerungswürdig bleibt. Dann aber lohnt es vielleicht, den Blick zu erweitern und diesem Letztverstorbenen – Heinrich Mantsch starb im Alter von 94 Jahren am 20. Februar 2025 in Bonn – den ihm zukommenden Platz zu suchen innerhalb seiner nun abgetretenen Generation. Wenn nun ich diesen Rückblick unternehme, so habe ich den Nachteil des Nachgeborenen, dessen Erinnerungen zeitlich nicht ausreichend hinab reichen, also sekundär ergänzt werden müssen, und andererseits – als Schwiegersohn von Heinrich Mantsch – den fragwürdigen Standort der familiären Nähe, der Befangenheit impliziert, der aber zugleich Detailwissen bis hin zu Anekdotischem mit sich bringt.
Heinrich Mantsch (1931-2025) an seinem ...
Heinrich Mantsch (1931-2025) an seinem Schreibtisch im Bukarester Institut für Linguistik 1973 bei der Arbeit an der 2. Auflage des Deutsch-Rumänischen Wörterbuchs. Pressefoto Neuer Weg
Die Rede ist von der Generation germanistischer Linguisten, die ihr Hochschulstudium nach dem Zweiten Weltkrieg antrat und im Anschluss daran, in den Verwerfungen der 50er und frühen 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, ihrem wissenschaftlichen Beruf nachging. In Rumänien beheimatet, ergaben sich für sie zwei genuine Berufsziele, nämlich einerseits die Sichtung und Erforschung ihrer eigenen „ersten“ Muttersprache. Für die Siebenbürger Sachsen dieser Gruppe war das ihr reich aufgefächerter Dialekt, der sich in um die 250 Ortschaften in ebenso vielen lokalen Varianten weitgehend authentisch erhalten hatte, anders als im binnendeutschen Sprachgebiet. Andererseits galt es für diese Sprachwissenschaftler, die Kommunikation zwischen dem deutschen und dem rumänischen Kulturraum zu fördern, indem für Übersetzungen sowie das Erlernen der jeweils anderen Sprache das Rüstzeug zu erarbeiten und zur Verfügung zu stellen war. Es ging um zweisprachige Wörterbücher in beide Richtungen, und zwar allgemeine von jeweils zweckmäßigem Umfang sowie fachbezogene, dann Grammatiken sowie Lehrbücher für Deutsch als Fremdsprache für die unterschiedlichen Zielgruppen.

Heinrich Mantsch hat sich in seinem „ersten“ Berufsleben, in seinen Bukarester Jahrzehnten, beiden Zielsetzungen verpflichtet gefühlt: Über viele Jahre hinweg hat er Material für das große deutsch-rumänische Wörterbuch der Rumänischen Akademie („Dicţionar German-Român“) gesammelt, gesichtet, bearbeitet und für den Druck vorbereitet. Nach dessen Erscheinen 1966 folgte sein Einsatz für die technische Erfassung in einem „Schallarchiv“ des damaligen mündlichen Dialektgebrauchs in den sächsischen Ortschaften Siebenbürgens im Hinblick auf eine künftige wissenschaftliche Untersuchung. Das waren über Jahre hinweg von Bukarest aus Arbeitseinsätze mit dem Aufnahmegerät bei der Landbevölkerung, bei denen es galt, geeignete Dialektsprecher zu finden, die einerseits die authentische Ortsmundart sprachen und andererseits möglichst orts- und generationentypische Aussagen machen konnten (Brauchtum, Volksliterarisches, Beschreibung von Vorgängen ländlicher Arbeit, Kochrezepte). Das Schallarchiv ist unvollständig geblieben, da die Arbeit daran seitens des Linguistischen Instituts der Bukarester Akademie (zeitweilig war dieses auch der dortigen Universität angegliedert) aus ungeklärten Gründen eingestellt wurde; die Ergänzung ist heute wohl nicht mehr möglich, die Transkription des aufgenommenen Lautmaterials und eine systematische Bearbeitung sind seither nicht erfolgt. Aber das damals zusammengetragene Material ist inzwischen gesichert und in Teilen auf Siebenbuerger.de digital zugänglich. In den letzten Jahren vor seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1979 arbeitete Heinrich Mantsch an der Revision „seines“ Wörterbuchs mit Blick auf dessen zweite, erweiterte Auflage. Nebenher entstand in Zusammenarbeit mit Helmut Kelp und Mihai Anuţei, beides ehemalige Kommilitonen, ein 662 Seiten starkes rumänisch-deutsches Wörterbuch der sprichwörtlichen Redensarten („Dicţionar frazeologic român-german“), das 1979 erschien.

Die meisten seiner Jahre am Linguistik-Institut hat Heinrich Mantsch Seite an Seite mit seiner Kollegin Ruth Kisch (1930-2008) gearbeitet, sowohl am Wörterbuch als auch am Schallarchiv. Wie auch die vielfältige und zeitlich ausgedehnte Erstellung des Wörterbuches Dutzende Linguisten mit Teilaufgaben beschäftigt hat, so dass seine Mitarbeiterliste einen Großteil der genannten Germanistengeneration verzeichnet, sofern sie in Bukarest angesiedelt war. Zudem war die Hermannstädter Wörterbuchstelle, der die Erarbeitung des Siebenbürgisch-sächsischen Wörterbuchs obliegt, zeitweise ebenfalls dem Bukarester Linguistik-Institut zugeordnet, seine Mitarbeiterinnen waren mit den beiden Bukarestern öfter gemeinsam in den siebenbürgischen Dörfern unterwegs. Es kann also nicht verkehrt sein, von einem kollegialen Zusammenhalt dieser Generation zu sprechen, deren Geschichte noch zu schreiben wäre.

Zudem half man sich auch institutionell gegenseitig aus. Der damalige Kader des Germanistiklehrstuhls der Bukarester Universität macht einen guten Teil dieser Generation aus, wie auch Heinrich Mantsch zeitweise mit Lehrveranstaltungen (Lexikologie, Grammatik) dort eingesprungen ist. Die universitäre Germanistik (mit Sitz in der Strada Pitar Moş) war sehr viel mehr im Fokus von ideologischer Gängelung und sogar geheimdienstlicher Aufsicht als etwa der Arbeitsraum einer Wörterbuchredaktion. Daran erinnerte jetzt ein Kondolenzbrief einer damaligen Lehrstuhlmitarbeiterin. Sie schrieb im Andenken an die angespannte Atmosphäre und den erfreulichen Auftritt des zeitweiligen Kollegen: „Wenn er das Dozenten-Zimmer in der Pitar Moş betrat, war es immer, als träten zugleich Solidität und Anstand ein. Und das tat diesem Dozenten-Zimmer sehr gut. Dafür bin ich ihm dankbar, und so trauere ich mit Euch.“

Heinrich Mantsch, am 1. Januar 1931 als Bauernsohn im Meschen geboren, geht 1943 an das Gymnasium in Mediasch und wechselt 1948 an die Lehrerbildungsanstalt, die damals in der Schäßburger Bergschule funktionierte. Nach der Matura 1952 entscheidet er sich gegen den Beruf als Grundschullehrer, besteht die Aufnahmeprüfung an die Philologische Fakultät, Abteilung Germanistik, der Bukarester Universität, die er 1957 absolviert. Nach einem einjährigen Zwischenspiel als Dozent für Deutsch als Fremdsprache am Bukarester Hochschulinstitut „Ștefan Gheorghiu“ wird er Redakteur im Verlag der Akademie der Wissenschaften, der auch die Arbeit am Deutsch-rumänischen Wörterbuch betreute. Bei dieser Arbeit bleibt er auch, als die Verantwortung für das Wörterbuch an das Linguistik-Institut der Rumänischen Akademie übergeht, und bleibt wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts bis zu seiner Aussiedlung 1979 in die Bundesrepublik. Er findet eine Anstellung in Düsseldorf und lässt sich mit den Seinen dort nieder. 2019 starb meine Schwiegermutter, so dass er allein blieb und vor zwei Jahren nach Bonn in unsere Nähe umzog, wo seine Tochter Ruth, also meine Frau, seit ihren Studententagen lebt.

Heinrich Mantsch (1931-2025) ...
Heinrich Mantsch (1931-2025)
Im Hause Mantsch sprachen wir natürlich Mundart, und zwar gleich drei Varianten des Siebenbürgisch-Sächsischen, jeder selbstbewusst die seine: Heinrich Mantsch sein Meschnerisch, Frau und Tochter ein Honoratioren-Sächsisch, das sie aus ihrer Herkunftsfamilie von Pfarrern und Notären mitbrachten, und ich mein Agnethlerisch. Der Spaß ging uns nie aus am wechselseitigen Entdecken und Nachahmen von Idiotismen – tatsächlich werden so die sprachlichen Eigentümlichkeiten von den Fachleuten genannt.

In seinem Nachlass findet sich das Probeexemplar „seines“ Wörterbuchs, der Vorsatz und das Schmutztitelblatt voller Glückwünsche und witziger Widmungen der Kollegen, manche in so winziger Handschrift, dass sie damit offenbar die Kleinheit des Druckes parodieren wollten. In das Lexikon-Oktav des Bandes passen in dieser ersten Auflage (1966) 140 000 Stichwörter, in der zweiten, an deren Redaktion er noch beteiligt war, die dann aber erst 1989, zehn Jahre nach seiner Auswanderung, erschien, sind es schon etwa 40 000 mehr, und die dritte, 2007 dann schon in Computersatz hergestellt, umfasst schließlich rund 200 000 Stichwörter. Ein umfangreicheres deutsch-rumänisches Wörterbuch gab es zuvor nicht. Wenn ich mein Exemplar der Erstausgabe neben sein Probeexemplar lege, so ist der Buchblock von meinem neun Zentimeter stark, der von seinem bloß sieben, bei gleicher Seitenzahl. Als ich den Unterschied seinerzeit entdeckte, konnte er ihn mir leicht erklären: Das Wörterbuch war beim Erscheinen ein solcher Verkaufserfolg – im Ausland sowieso das meistverkaufte rumänische Buch –, dass der Druckerei der Papiervorrat nicht ausreichte und sie darum für die Nachauflage Zeitungspapier nahm, das entsprechend mehr aufträgt.

In den endsechziger Jahren, die ein politisches Tauwetter versprachen, fasste Heinrich Mantsch das Ziel der Promotion ins Auge. Das Themenfeld für seine Dissertation sollte die mündliche Alltagskommunikation der Sachsen sein, die sich im Zuge der beschleunigten Industrialisierung und Urbanisierung tiefgreifend verändert hatte. Die Mundartsprecher partizipierten zunehmend an dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die aber fast ausschließlich im rumänischen Sprachmedium stattfand, was das Siebenbürgisch-Sächsische bei der Arbeit und im Alltag nicht bloß zurückdrängte, sondern im Wortschatz und darüber hinaus bis in die Grammatikstrukturen kontaminierte. Er hat zu diesen Interferenzerscheinungen mehrfach veröffentlicht sowie vorbereitende Studienaufenthalte wahrgenommen (so an den Universitäten Trier 1967, Freiburg i. Br. 1970 – hier als Stipendiat der Alexander-von-Humboldt-Stiftung –, Leipzig 1971 und im darauf folgenden Jahr – wohin ihn Prof. Dr. Helmut Protze seitens der Sächsischen Akademie der Wissenschaften vermittelte, mit dem ihn gemeinsam unternommene Feldforschung in der siebenbürgischen Dialektlandschaft verband; Prof. Protze vertrat damals die DDR-Seite im rumänisch-ostdeutschen Forschungsprojekt zur Weiterführung des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs). Die geplante Promotion musste schließlich aufgegeben werden, vermutlich war die Stoßrichtung der Untersuchungen nicht (mehr) opportun. Die Nachweise für die Nähe des Zusammenlebens der verschiedenen Ethnien in Siebenbürgen, also auch sprachliche Übernahmen, durften nämlich keinesfalls ungewünschte Prioritäten zu Tage fördern oder gar eine eindeutige Richtung der Akkulturation, die politisch nicht genehm war. – Durch den Massenexodus der Sachsen gilt die Fragestellung wohl als obsolet: einerseits ist der Kontakt der Sprechergruppen inzwischen numerisch irrelevant, andererseits ist die Mundart nicht länger allgemeines Verständigungsmittel im Alltag.

Das Interesse meines Schwiegervaters für sein „eigentliches“ Berufsfeld blieb bis zuletzt wach. Für ihn war es Ehrensache, vor unterschiedlichem Publikum auf Anfrage über die siebenbürgische Sprachenvielfalt oder das Spezifikum des Siebenbürgisch-Sächsischen zu referieren. Als sich eine Gymnasialklasse aus dem Kölner Raum Siebenbürgen zum Ziel ihrer Abi-Fahrt wählte, war es ihm eine Freude, die jungen Leute in einer mehrtägigen Einführung vorzubereiten. Er sah es als eine Art Ehrenpflicht, die neu erscheinenden Bände des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs für die Fachwelt zu rezensieren. Und als der letzterschienene Band 11 vor fünf Jahren als Rezensionsexemplar ins Haus kam und er sich eingestehen musste, dass seine Kräfte für eine verantwortliche Besprechung nicht mehr ausreichen würden, war er kreuzunglücklich. Und zwar vor allem, weil er Sigrid Haldenwang, seiner damals auch schon bald 80-jährigen Kollegin in Hermannstadt, der einzig übriggebliebenen Bearbeiterin des Wörterbuchs, nun absagen müsse. Er fragte bei mir an, ob ich mir die Aufgabe nicht vielleicht zutrauen würde. Ich sagte zu, wohl wissend, dass ich mich in die umfängliche Materie erst mühsam einlesen würde müssen. Er war mit dem Ergebnis zufrieden und bedankte sich dafür, dass ich ihn entpflichtet hätte.

Die beiden speziellen Aufgabenfelder der germanistischen Linguistik in Rumänien, insbesondere in Siebenbürgen, nämlich die Erforschung des eigenen Dialekts und die sprachliche Grundlegung des interkulturellen deutsch-rumänischen Austausches, werden in der Bundesrepublik offensichtlich nicht im gleichen Maße als kulturelle Desiderate gesehen und entsprechend gefördert, so dass bis auf wenige Ausnahmen die nach und nach hierher übersiedelten Vertreter dieser Linguisten-Generation – ähnlich vielen anderen hochqualifizierten Aussiedlern – im Mahlstrom der bundesdeutschen Arbeitsvermittlung mit Provisorien und Verlegenheitslösungen bedacht wurden. So auch Heinrich Mantsch. Nach seiner Auswanderung 1979 mit Frau und Tochter kam er für anderthalb Jahre bei der Universitätsbibliothek Düsseldorf unter, danach, bis zur Verrentung 1994, war er in der Fachbücherei und dem Fliedner-Archiv des Diakonie-Werks Düsseldorf-Kaiserswerth beschäftigt. Diese Düsseldorfer Jahre überwiegen bezüglich der Dauer, doch ist es seine beruflich erfüllte Bukarester Zeit, die eine bleibende Spur hinterlässt.

Horst Fabritius, Bonn

Schlagwörter: Nachruf, Germanist, Wissenschaft

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