18. November 2010

Akteneinsicht in Bukarest: Sichtweise der Securitate oder objektive Aufklärung?

Die Bilder sind noch allpräsent: Engagierte Mitglieder der DDR-Bürgerrechtsbewegung stürmen die Stasi-Zentrale, um die dort aufbewahrten Akten vor drohender Vernichtung zu retten: Die Verbrechen der SED-Diktatur sollten nicht unentdeckt und ungesühnt bleiben. Totale „Aufklärung“ ist auch zwanzig Jahre später angesagt, da Vergangenheitsbewältigung nur dann möglich ist, wenn ihr die kritische Aufarbeitung der Vergangenheit vorausgeht. Aus dieser Einsicht heraus entstand die Bundesbehörde zur Aufarbeitung der Staatssicherheit-Akten, die so genannte „Gauck“-Behörde, heute „Birthler“-Behörde, in Berlin.
Die rumänische Entsprechung dieser Einrichtung heißt Nationaler Rat für die Aufarbeitung der Securitate-Archive (Consiliul Național pentru Studierea Archivelor Securității – kurz CNSAS). Beide Institutionen sind Teil eines EU-Netzwerks, das Licht in die kommunistische Vergangenheit bringen will – Glasnost und Perestroika, Transparenz und Aufklärung. Ein hoher Anspruch, doch ein schwieriges Anliegen, hier und dort.

Nur: Wer aufklärt, macht sich auch Feinde, das betrifft Persönlichkeiten wie Joachim Gauck ebenso wie Mircea Dinescu, den Dichter der Revolutionstage, der heute im Gremium der CNSAS mitbestimmt, wer Akteneinsicht erhält bzw. wer in Bukarest als Forscher „akkreditiert“ wird.
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Das CNSAS-Gebäude in der Matei Basarab Straße in Bukarest 3. Foto: Carl Gibson
Wie weit ist Rumänien auf dem Weg der Aufklärung? Was leistet die CNSAS? Jeder Rumäne, der Opfer der kommunistischen Diktatur oder der Securitate war, solle Akteneinsicht beantragen, forderte die Bürgerrechtlerin Doina Cornea schon frühzeitig. Heute ist das endlich möglich.

Jeder ehemalige Bürger Rumäniens kann Akteneinsicht in Bukarest beantragen. Der Antrag ist auf der Internetseite der CNSAS unter www.cnsas.ro zu finden. Die Mitarbeiter der Behörde recherchieren und finden heraus, ob der rumänische Geheimdienst „Securitate“ seinerzeit eine „Akte“ für den Antragsteller angelegt hat. Falls ein Dossier existiert, wird das Material angefordert und kann in Bukarest eingesehen werden. Kopien werden ausgehändigt oder können dem Antragsteller ins Ausland zugesandt werden, Kosten pro Kopie: ca. 5 Cent.

Um es vorwegzunehmen: Die CNSAS arbeitet inzwischen professionell, entgegenkommend und gut. Sie legt den nachfragenden Bürgern „das vor, was an Material vorgefunden wurde“. Was die vorgelegten Dokumente aber mit der „Wahrheit“ an sich zu tun haben, ist eine andere Frage. Die eigentliche Arbeit des Forschers beginnt erst mit der Exegese, mit der „kritischen Interpretation und Hinterfragung“ der Quellen.

Jeder, der wissen will, ob er während der Diktatur ausgehorcht, bespitzelt, angeschwärzt, denunziert, verraten wurde, sollte sich Klarheit verschaffen und seine Akte einsehen oder sie sich zukommen lassen. Allerdings darf nicht alles als „Klartext“ gelesen werden. Denn in der Regel wird man nur die Sichtweise der Securitate vorfinden bzw. jene der Rumänischen Kommunistischen Partei (RKP), die direkter Auftraggeber des Geheimdienstes Securitate war. Dies wird oft vergessen.
Carl Gibson wird nach den Interviews bei RFE bzw. ...
Carl Gibson wird nach den Interviews bei RFE bzw. während der UNO-Beschwerde gegen das Ceaușescu-Regime 1981 auf die Liste der unerwünschten Personen gesetzt.
Konkret zu meinem Fall: Meine „regimekritischen Aktivitäten“ sind ab 1976 – ich war damals 17 Jahre alt – dokumentiert: Sozialkritik in der Schule, Goma- Protest, Hungerstreikerklärung, SLOMR-Gründung in Temeschburg. Die letzten Dokumente in Band 2 der Akte „Gibson Karol“ belegen, dass ich im Jahr 1981 für die Zeit von fünf Jahren auf die Liste der im sozialistischen Rumänien „unerwünschten Personen“ („persoane indezirabile“) gesetzt wurde, also zwei Jahre nach meiner Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland.

Da ich meinen oppositionellen Werdegang genau kenne und einzelne Stationen des Protests (Goma, SLOMR etc.) von weiteren Zeitzeugen belegt werden können, ist es mir möglich, genau nachzuvollziehen, was den tatsächlichen Abläufen entspricht bzw. was aus Securitate- Sicht hineininterpretiert wurde. Was ist echt, was wurde gefälscht oder verdreht? Die Dokumente sind in der Tat „echt“. Nachträgliche Einfügungen sind unwahrscheinlich. Die Verfälschung der Tatsachen, etwa der Gründung der Freien Gewerkschaft rumänischer Arbeiter (SLOMR) in Temeschburg, beginnt mit der Securitate- Interpretation der Ereignisse und Abläufe. Der Geheimdienst setzt – beginnend mit den Erklärungen, die durch Folter erpresst wurden und in die Feder des erklärenden Opfers diktiert wurden – seine „Version“ durch, teils aus Ehrgeiz, teils um gegenüber dem Innenministerium Rumäniens in Bukarest, dem er berichten muss, besser dazustehen.

Manipulationen sind in der Regel offensichtlich. Meine Verhaftung am Domizil von Paul Goma 1977 musste ich in der anschließenden Erklärung mit den Worten festhalten, ich sei „eingeladen worden“ („am fost invitat“), eine „freiwillige“ Erklärung abzugeben, nachdem ich darauf hinweisen musste, nur an einer Ausreise interessiert zu sein, ohne politisch agieren zu wollen oder gesellschaftliche Veränderungen anzustreben. Dass der Beitritt zur Bewegung in der Folge der Charta 77 an sich schon einem „politischen Akt“ gleichkommt, fiel der Securitate kaum auf. Sie hat entschärft, niedergespielt, speziell später bei SLOMR.

Ein anderes Mittel der Einschüchterung: Die potenzielle „Kriminalisierung des Andersdenkenden.“ Meine Akte ist voll davon, beginnend mit einem angedichteten „Fluchtversuch“ an der Donau bis hin zu Fluchtplanung und Devisenbeschaffung für andere Fluchtwillige. Meine Akte enthält Spitzelberichte aller Art, selbst aus der Gefängniszelle.

Was hat mir der Einblick in meine Akte gebracht? Eine Menge Details, speziell Daten – und eben die Sichtweise der Securitate bzw. die Einordnung in das gesamte Oppositionsgeschehen. Als mein Erinnerungswerk zur SLOMR „Symphonie der Freiheit“ entstand (siehe Besprechung in der Siebenbürgischen Zeitung Online), fehlten mir viele Details. Dort schrieb ich von der „obskuren“ CNSAS, die nur das weitergebe, was den aktuellen Interessen Rumäniens diene, eine Aussage, die ich heute nuancieren muss. Am 28. Juli 2010 wurde mir der Status eines bei der CNSAS „akkreditierten externen Forschers“ zuerkannt, was mich nun in die Lage versetzt, im Rahmen meines Projektes „Dissidenz und kultureller Widerstand im kommunistischen Rumänien“ jede Akte zu lesen, zu studieren und wissenschaftlich auszuwerten, auch die öffentlich breit diskutierte Akte „Cristina“, die ich in weiten Teilen schon rezipiert habe.

Ein großer Nachteil beim CNSAS- Aktenstudium sind die unvollständigen Ordner. Im ersten Band meiner Akte fehlen beispielsweise sehr viele Belege zu Vorladungen, U-Haft, Verhör, Prozess, Urteil und zur Dissidenz im Westen (Beschwerde der CMT über die UNO). Meine Interviews mit Max Bănuș und Emil Georgescu vom Sender Freies Europa wurden hingegen Wort für Wort mitgeschrieben. Wurde meine Akte „gesäubert“? Wann und von wem? Es ist davon auszugehen, dass auch andere Akten unvollständig sind. Wer hat was weggelassen und weshalb? Ein weites Feld! Durch das Weglassen von Fakten kann man viel verfälschen. Aufklärung wird so vereitelt. Cui bono?

Carl Gibson

Links:

Homepage des Nationalen Rates für die Aufarbeitung der Securitate-Archive (Consiliul Național pentru Studierea Archivelor Securității)

Carl Gibsons Blog für Literatur, Geschichte und Zeitkritik

Pdf-Datei zum Herunterladen:

Carls Gibson: Nachwort zur "Symphonie der Freiheit"

Schlagwörter: Securitate, Vergangenheitsbewältigung

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