15. Dezember 2013

„Ich schrieb über Europa, wenn ich über Siebenbürgen schrieb“

Am 22. November wurde Hans Bergel im vollbesetzten Ausstellungssaal des Gerhart-Hauptmann-Hauses in Düsseldorf der nach Andreas Gryphius (1616-1664) benannte Große Literaturpreis der KünstlerGilde von deren Vorsitzendem, Prof. Dr. Wolfgang Schulz, überreicht. Der Direktor des Hauses, PD Dr. Winfried Halder, hatte die Gäste begrüßt, die Berliner Historikerin und Germanistin Renate Windisch-Middendorf hielt die Laudatio. Bergel sei „Zeitzeuge u n d Chronist des 20. Jahrhunderts“, sagte sie einleitend, „sein Werk erwächst aus leidenschaftlicher u n d genauer Befragung autobiografischer Erfahrung“. Sie nannte Bergel einen „Sprachvirtuosen“, einen „Sachwalter des Kulturgedächtnisses“ und seinen Roman „Die Wiederkehr der Wölfe“ (2006) ein „polyhistorisches Erzählwerk als Epochenanalyse“. Sein gesamtes Werk sei als „Schreiben gegen das Vergessen“ zu verstehen. Bergel, der als erster Siebenbürger Sachse den Gryphius-Preis erhielt, dankte mit der folgenden Ansprache.
„Schreiben gegen das Vergessen ...“ So lautet eine Formulierung der Lobrede, die ich soeben – dankbar und beschämt – hören durfte. Ich komme aus einer Landschaft, in der das Vergessen den geschichtlichen Tod vor der Zeit bedeutet hätte. In der allein die orientierende Kraft des Gedächtnisses die innere Sicherheit zum Überleben garantierte. In der auch meine Generation, wie viele vor ihr, von Kind an das Denken in der historischen Perspektive als das letzte Maß aller Dinge erkennen musste, wollte sie nicht in umdunkelter Zeit den Weg, die Hoffnung, sich selbst verlieren. Als einer der Letzten gehöre ich jener Generation an, deren Bild von der Herkunftslandschaft noch in der Epoche zwischen den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts geprägt wurde. Ein Bild, dem die späteren Blessuren, die Verstümmelungen bis in die Wurzeln hinab durch eine der beiden großen Diktaturen des Jahrhunderts unbekannt waren. Und das Bild einer ethnischen Gemeinschaft in dieser Landschaft, deren Selbstverständnis sich ehemals von dem nicht in Frage gestellten Bewusstsein zu Europa herleitete. Ich meine das Europa, dessen beste Geister seit den Humanisten der Renaissance darum rangen, unseren Kontinent gegen die zerstörerischen Kräfte zu einem Raum des verlässlichen Rechts und der gesicherten Menschenwürde zu machen.

In Romanen, Erzählungen, Vorträgen, Funksendungen habe ich meine Herkunftslandschaft Siebenbürgen, sofern sie mein Thema war, ­niemals als jenen weitab vom europäischen Zentrum liegenden exotischen Randbezirk verstanden, als den ihn heute die meisten Mitteleuropäer missverstehen. Sondern immer als einen Teil des Geschichts- und Kulturorganismus namens Europa – nicht anders als die Provence oder Kastilien, die Toskana oder das Weserbergland, ­Masovien, Tirol oder Böhmen: Als historische Landschaft hoher Kultur und beispielhaften europäischen Befindens, in der es – zum Beispiel – die erste von Deutschen formulierte Verfassung in der Geschichte Europas gab, den Goldenen Freibrief von 1224. Niemals also konnte sie mir als der obskure Völkerwinkel irgendwo im Südosten gelten, von dem der egozentrische Mitteleuropäer unserer Tage außer Dracula und den Karpatenbären nichts weiß – Sie halten das für übertrieben? Der Redakteur einer großen deutschen Funkanstalt, der mich vor einiger Zeit interviewte, gestand mir, „bis vor einer halben Stunde Siebenbürgen für eine Provinz Bulgariens“ gehalten zu haben. „Oder so“, sagte er noch. Der ungefähr dreißigjährige sympathische Mann kannte die halbe Welt. Von den Bahamas und Acapulco bis zu den Badestränden des Roten Meeres und der australischen Küsten ziemlich alles, was der moderne Mensch meint, kennen zu müssen. Ein erklärter Europäer, hatte er jedoch weder Ahnung noch Vorstellung von Europas kulturellem Landschaftsreichtum, vom Erfahrungsangebot der von ihm so genannten europäischen „Ränder“, von Geschichte, Geist und Denkweise Europas gleich nebenan im Osten. Geschweige denn von den Wundern Kiews oder des Berges Athos ... O ja, Provinz ist immer im Kopf, nicht auf der Landkarte.
Hans Bergel erhielt den Andreas-Gryphius-Preis, ...
Hans Bergel erhielt den Andreas-Gryphius-Preis, auf dem Bild mit GHDD-Direktor Winfried Halder (links) und Wolfgang Schulz, Vorsitzender der KünstlerGilde. Foto: Hartmut Kramer
Sooft ich über Siebenbürgen schrieb, zwang mich der Stoff, über das Europäische im Siebenbürgischen zu schreiben. Ich schrieb über Europa, wenn ich über Siebenbürgen schrieb. Wer Siebenbürgen anders versteht, hat nichts von ihm verstanden. Schon gar nicht das Menetekel, von dem sein historisches Schicksal den Europäern kündet. „Wo immer ein Glied Europas leidet“, schrieb der aus Europas Osten kommende Edzard Schaper, „da leidet auch das ganze Europa“. Wir tun gut daran, Europa in der Herkunftslandschaft zu erkennen, und in dem Ereignis, das sie trifft, europäisches Ereignis zu begreifen. Ich veranschauliche es an einem Beispiel.

Als ich den Roman „Die Wiederkehr der Wölfe“ (2006) schrieb, war mir bei jedem Absatz bewusst, dass ich nur vordergründig einen Roman über Siebenbürgen schrieb. Ich schrieb einen Roman über Europa. Wohl bediente ich mich der Geografie und respektierte die Spezifika des Südostens. Diese waren aber nur der Spiegel mit der besonderen regionalen Brechung, in dem ich die dramatischen europäischen Vorgänge der Jahre 1939-1945 auf neue, bisher in der Literatur nicht bedachte Weise reflektierte. Jede am Realen orientierte Erzählung bedarf der regionalen Geografie; von Homer über Vergil bis zu Cervantes, Balzac und García Márquez gibt es kein anderes Verfahren. Doch sie ist lediglich der „Ort der Handlung“: der Schauplatz, auf dem sich das von Goethe apostrophierte „allgemein Menschliche“ entfalten muss, das uns überall auf Erden bewegt: Liebe und Not, Treue und Tod, Verrat, Niederlage, Glück, Sieg. Das regionale Konkretum ist im Kunstwerk bloß das Mittel zur Veranschaulichung der Nachricht, die uns der Autor darüber hinaus zukommen lässt.

Während der zehnjährigen Arbeit an dem Roman stellte sich mir eindringlicher als sonst die Frage: Was wirkte von der spezifischen Kulturkraft Siebenbürgens auf mich ein, um die Ereignisse 1939-1945 so und nicht anders zu sehen? Was wirkt bei der Betrachtung und Beurteilung der Welt von unseren Ausgangskräften auf uns alle bestimmend ein?

Ich lernte von Siebenbürgen nicht nur die Unumgänglichkeit der Bewahrung mir geschichtlich zugewachsener Wertepositionen, wollte ich mich nicht in und an Unverbindlichkeiten verlieren. Ich lernte im Umgang mit seinen Völkern sehr früh auch den Umgang mit dem anderen Akzent meines europäischen Kulturverständnisses. Ich begriff im Kontakt mit ihnen die Notwendigkeit der Öffnung zum Anderen hin, ohne mich dabei preiszugeben. Denn zugleich lernte ich den Wunsch der Besten unter ihnen kennen, mich als derjenige zu verhalten, den sie ihrerseits als Ergänzung erleben durften. Und ich verstand Begegnung und Berührung mit den Völkern jenes Raumes als Aufforderung zur Korrektur der eigenen Lebens- und Geistesorientierung. Ich habe diese Korrektur niemals bereut, weil sie mich bereicherte: Sie bot mir bisher unbekannte Einblicke in mich selbst, überraschte mich mit neuen Ausblicken und ebnete mir den Weg zum Verstehen jener Kulturen, die ich später kennenlernen sollte. So lebte ich von Kind an die Interkulturalität, die erst lange danach von den Gesellschaftstheoretikern entdeckt und als Legitimation vorurteilsloser Denkweise definiert werden sollte.

Alle diese Erkenntnisse flossen nicht nur in den Roman von der „Wiederkehr der Wölfe“ ein, sondern in mein gesamtes erzählerisches und essayistisches Werk. Ich halte sie für dessen entscheidendes Merkmal.

Denken Sie nun, bitte, nicht, dass meine schriftstellerische Neugier außer Siebenbürgen nichts kennt! Doch meinte ich, diese kurzen Ausführungen der Landschaft meines geistigen Herkommens und dem Anlass zu schulden, der uns hier zusammenführte. Die nicht unterdrückbare, ja die unbändige Lust, die Welt ringsum schreibend zu entziffern und verständlich darzulegen, erzählerische Ordnung in sie zu bringen, zwingt mich – ob ich will oder nicht –, zum Chronisten der Abläufe zu werden, die je mein Leben leiblich, bedrängten und geistig herausforderten. Geschichte wie Gegenwart gehören dazu, der düstere wie der heitere Gegenstand, der kanadische Urwald wie der südafrikanische Busch oder die Wüste Israels, die Kunst wie das Abenteuer. Ich sehe mich dabei in niemandes Auftrag außer dem meines Antriebs, den Horizont meiner Sehnsucht und Leidenschaft schreibend zu erkunden und auszuweiten. Das hat mir – ich darf es hier nicht verschweigen – in der Wahrnehmung der Ideologiehüter nicht immer zum Nutzen gereicht. –

Ich danke der KünstlerGilde für die Zuerkennung des Literaturpreises mit dem Namen jenes großen Dichters, der in erbarmungsloser Zeit – in den Jahrzehnten des Dreißigjährigen Kriegs – an seiner Zeit litt und oft an ihr verzweifelte, aber mit dem, was er schrieb, unentwegt gegen das Vergessen und die Gefahr der Selbstpreisgabe ankämpfte.

Schlagwörter: Bergel, Preisverleihung, Literatur

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