9. März 2014

„Ich brauche zum Leben ein Stück Heimatluft“

Erinnerung an den ehemaligen Pädagogen, Wissenschaftler, Bischofsvikar und Politiker Dr. Adolf Schullerus (1864-1928) zum 150. Geburtstag
Eine der eindrücklichsten und geistig vielseitigsten Persönlichkeiten der Siebenbürger Sachsen war der als Hermannstädter Stadtpfarrer und Bischofsvikar am 27. Januar 1928 verstorbene Dr. Adolf Schullerus. Sein unmittelbarer Einfluss, aber auch seine weitreichende Nachwirkung in wissenschaftlicher, aber auch in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht ist nicht zu überschätzen. Politisch zählte er zu den Exponenten der „Grünen“, wissenschaftlich verwirklichte er die Pläne für ein Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch, dessen Publikation er nach der Jahrhundertwende maßgeblich und dynamisch vorantrieb, als Pfarrer vertrat er die damals „moderne“ Theologie. Nach dem Ersten Weltkrieg befürwortete er als Volksratsvorsitzender und Senator den Anschluss Siebenbürgens an Rumänien, lehnte aber die zentralstaatliche, den Minderheitenschutz vernachlässigende Verfassung Rumäniens 1923 im Parlament ab.

Adolf Schullerus. Fotograf: Emil Fischer, 1918, ...
Adolf Schullerus. Fotograf: Emil Fischer, 1918, Zentralarchiv der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien, Bildarchiv-Nr. 291
Am 7. März 1864 wurde Adolf Johann Andreas Schullerus in Fogarasch geboren. Er entstammte einer Pfarrer- und Lehrer-Dynastie, aus der im 19. Jahrhundert besonders sein Großvater Johann Andreas Schullerus (1793-1867) und sein Vater Gustav Adolf Schullerus (1832-1900) hervorzuheben sind, die prägend im Schenker Kirchenbezirk gewirkt haben. Adolf Schullerus wuchs seit 1872 auf dem gastfreien, weltoffenen und die musischen Begabungen der Kinder vielseitig fördernden Pfarrhof in Schönberg auf. Als Bursche saugte er das Dorfleben der geschlossenen siebenbürgisch-sächsischen Welt und Kultur als stimmigen und gemeinschaftsbildenden Lebensstil glückhaft in sich auf. Diese Lebensweise, in der evangelische Kirchlichkeit, sächsische Tradition und dörfliches Brauchtum von ihm als eine ideale Einheit erlebt, erfahren und verinnerlicht wurden, suchte er aus dieser Lebenserfahrung heraus in seinem späteren Wirken für die Gegenwart und Nachwelt zu bewahren und zu retten. Er besuchte ein Jahr die Dorfschule in Schönberg, und nach mehrjährigem Privatunterricht im Elternhaus bereitete er sich am Gymnasium in Hermannstadt auf die Hochschulreife vor. Anschließend studierte Adolf Schullerus ab 1882 in Bern und von 1883 bis 1885 in Leipzig hauptsächlich Philologie mit Schwerpunkt auf Germanistik, aber auch ugrischer Sprachwissenschaft sowie Theologie. Nach einem – obligatorischen – Studienjahr in Budapest krönte er sein Studium 1886 mit der fünfzigseitigen germanistischen Promotion zum Thema: „Zur Kritik des altnordischen Valhollglaubens“. Eine mögliche akademische Karriere in Deutschland schlug Schullerus aus. Sofort nach dem Erwerb des Gymnasiallehrer-Diploms 1887 wurde er in Agnetheln zum Rektor der Schule berufen, von wo er nach nur zwei Jahren ab 1889 als Dozent am Theologisch-Pädagogischen Landeskirchenseminar, der seit 1892 bzw. 1894 zentralen Lehrerbildungsanstalt der Landeskirche, die Fächer Deutsche Sprache, Religion, Latein, Geschichte, Ungarisch und Pädagogik unterrichtete. Ein für damalige Verhältnisse ungemein modernes Lehrwerk für den magyarischen Sprachunterricht an siebenbürgisch-sächsischen Volksschulen (1901) zeigt seine didaktische und wissenschaftliche Professionalität. Direktor des Landeskirchenseminars war von 1889-1896 der Historiker, Theologe und nachmalige Bischof Dr. Friedrich Teutsch (1852-1933), dem im Kollegium auch Schullerus‘ Vetter, der universal gebildete und spätere Seminardirektor Josef Capesius (1853-1918), zur Seite stand. In diesem sich gegenseitig befruchtenden und anregenden Kollegenkreis konnte Schullerus seine vielfältigen Gaben, Interessen und unbestritten anerkannten Kompetenzen reich entfalten. Er setzte sich selbstlos, effektiv und mit unbändiger Schaffenskraft über seinen Wirkungskreis am Seminar hinaus maßgeblich für moderne wissenschaftliche Forschung und selbstbewusste politische Bestrebungen ein. Im Verein für siebenbürgische Landeskunde übernahm er ehrenamtlich nicht nur 1892 die Schriftleitung des Korrespondenzblattes, sondern wirkte seit 1894 in dessen Ausschuss und seit 1900 als „Secretär“, koordinierte also als dessen Geschäftsführer die vielseitige und ungemein produktive Forschungsarbeit des Landeskundevereins. Darüber hinaus engagierte er sich ab 1890 als langjähriger Schriftführer des Allgemeinen Frauenvereins, korrespondierte seit 1887 mit Johann Wolff (1814-1893) und koordinierte nach dessen Rückzug und baldigem Tod die bis dahin jahrzehntelang erfolglos angestellten Bemühungen um das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch und trieb sie konzeptionell und organisatorisch zur Publikationsreife maßgeblich und dynamisch voran. Vorbildlich beteiligte er selbst sich an der Erarbeitung dieses Idiotikons. Schullerus hat umfangreiche Korrespondenz u. a. mit Friedrich Naumann, Friedrich Zarncke, Lutz Korrodi, Adolf Harnack, R.W. Seten-Watson, Erich von Falkenhayn, Rudolf Otto, Max Moltke und vielen siebenbürgischen Zeitgenossen geführt. Die erhaltene, an ihn gerichtete Korrespondenz, die von Monica Vlaicu gegenwärtig für die Publikation vorbereitet wird, zeigt den weit gespannten Horizont und die internationalen und binnenländischen Kulturbeziehungen von Adolf Schullerus auf. Eine von ihm zu besorgende Gellert-Ausgabe, zahlreiche Buchrezensionen und eigene Forschungsbeiträge wurden von ihm bereitwillig zur Verfügung gestellt. Mit dem Banatdeutschen Adam Müller-Guttenbrunn korrespondierte er 1898 über die – schließlich doch nicht verwirklichte – Absicht, eine Literarische Gesellschaft („Deutsch-ungarischer Literaturverein“) mit Volksbibliotheken zu gründen, um von Seiten der Minderheiten eine kluge und selbstbewusste kulturelle Verteidigungsstrategie gegen die Magyarisierungsziele des Staates zu entwickeln.

Alle diese Bemühungen wurzelten in einer Grundüberzeugung: Die Identität der Siebenbürger Sachsen sei in ihrem „sächsischen Glauben“ metaphysisch bestimmt und verankert. Diese Haltung und Gewissheit hatte Schullerus als einer der führenden Exponenten bereits 1893 in Mediasch bei der Gründung der politischen Bewegung der „Grünen“ in einem eigenen Redebeitrag unterstützt. In diesen ideologischen Rahmen gehören sowohl die germanistische Forschung und Publikation des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs als auch weitere Veröffentlichungen von Adolf Schullerus. Nichtsdestotrotz sind die wissenschaftlichen Leistungen von Adolf Schullerus nicht hoch genug zu veranschlagen. Obwohl man sein systematisiertes Geschichtsbild einer ideologiekritischen Prüfung unterziehen muss, sind seine interesseleitenden Fragestellungen in sprachwissenschaftlicher, literatur- und theologiegeschichtlicher Hinsicht, seine scharfsinnigen Beobachtungen und profunden fachwissenschaftlichen Ergebnisse Zeugnisse einer an der jeweils aktuellen Forschungslage ausgerichteten Professionalität. Seine diskursive Aufgeschlossenheit für die Moderne und seine Liberalität gestatteten ihm eine souveräne Anwendung wissenschaftlicher Methoden und die rasche Rezeption zeitgenössischer Forschungsergebnisse. Sie brachten ihm in Fachkreisen hohe Anerkennung ein, die sich in Einladungen zu Fachkongressen und Vorlesungen (z. B. 1923 in Marburg und Berlin) und Beiträgen zu Fachpublikationen im In- und Ausland niederschlugen. Im Siebenbürgisch-sächsischen Schriftsteller-Lexikon sind mehr als 300 Titel aus seiner Feder verzeichnet. Unermüdlich war Schullerus mit wissenschaftlicher Dokumentation und Forschungsarbeit beschäftigt. Neben seinem Hauptberuf, zunächst als Dozent am Landeskirchenseminar, dann seit 1900 als Dorfpfarrer in Großschenk und von 1907 bis 1928 als administrativ und theologisch umfangreich geforderter Stadtpfarrer von Hermannstadt, erarbeitete er nebenher, aber höchst konzentriert, eine wissenschaftliche Lebensleistung, die bewundernswert war und bleibt. Dafür wurde er von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig 1909 ehrenhalber promoviert, 1924 zum Korrespondierenden Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften und 1925 in den Beirat des Allgemeinen deutschen Sprachvereins gewählt sowie 1926 zum Ehrenmitglied der Luxemburgischen Sprachgesellschaft ernannt.

Faszinierend sind seine gesammelten Studien „Siebenbürgisch-sächsische Volkskunde im Umriss“, 1926 in Leipzig erschienen, „Unsere Volkskirche“ (veröffentlicht 1928 Hermannstadt), aber auch „Luthers Sprache in Siebenbürgen“ (1923), die von stupender Belesenheit, analytischer Kraft und sprachlicher Prägnanz und Brillanz zeugen. In seiner Volkskunde beschreibt er äußere Gegebenheiten von Stadt und Dorf, Haus und Hof, Menschen und Mode (Tracht), Nahrung und Sprache, aber auch das Leben in der Gemeinschaft von der Wiege bis zur Bahre, auch Bruder-, Schwester- bzw. Nachbarschaften, Intellekt und Emotionalität. Dabei gelingt es Schullerus, zeitgenössische Umfrageergebnisse, traditionelle Spruchweisheiten, sprach- oder religionsgeschichtliche und ethnologische Beobachtungen sowie Deutungen zu einem imponierenden Gesellschafts- und Sittengemälde zu vereinen. Spannend sind seine Erläuterungen zu – von ihm zum Teil auf altdeutsche Wurzeln zurückgeführte – Riten der Dorfbevölkerung (die er z. B. bei Verlobung und Hochzeit oder beim Glauben an Schadzauber und dessen Abwehr dokumentiert; inhaltlich eng damit verbunden war seine Beschäftigung mit Märchen). Seiner Auffassung nach sind die Nachbarschaften „seit dem 17. Jahrhundert wie die Bruderschaften ein von der Kirche bewusst gehandhabtes Werkzeug sittlicher Erziehung und kirchlicher Zucht geworden.“ Seit ihrer Wiederbelebung in den Städten dienten sie im 20. Jahrhundert als „Mittel völkischer Verteidigung“ und erwiesen sich als „wertvolle Stützen des kirchlichen Gemeindelebens bei äußeren Veranstaltungen ebenso wie in der Ausübung der Wohlfahrtspflege und Erhaltung völkischer Zucht.“

Sein Konzept der Volkskirche konnte er 1926 vor sächsischen Frauen in Kronstadt dergestalt illustrieren, dass er in dem für Bischof Georg Daniel Teutsch 1899 errichteten Denkmal auf dem Huetplatz in Hermannstadt nicht nur die Person, sondern die „Verschmelzung von Glaube und Volkstum“ repräsentiert sah. In der Volkskirche sah er – nachdem die politische Selbstverwaltung aufgehoben worden war – „die innere Form unserer Volksbestimmung“, die „Zusammenfassung des Kulturlebens im Lichte der Ewigkeit“. Zweck und Ziel dieser Gemeinschaft, ja, der Inhalt ihrer Arbeit als Volkskirche sei „Ausdruck ihrer Volksaufgabe“, alle Aspekte „unserer Volksseele, die sächsische Sprache, Wirtschaft und Kunst, wie das sächsische Recht und die sächsische Schule“ zusammenzuschließen „in unserem evangelischen sächsischen Glauben, dessen äußere Gestaltungsform eben unsere Volkskirche ist.“ Diese Bestimmung erachtete Schullerus in seinem kulturprotestantischen Kontext nicht als illegitim, sondern als göttlich legitimiert: „Zur Kirche aber wird die Gemeinschaft dieser Volkskultur ihrem Wesen nach, weil sie nicht als menschliches, zufälliges Unterfangen, sondern nur als göttliche Mission empfunden werden kann.“

Adolf Schullerus publizierte eine auf historisch-kritischer Exegese beruhende Auslegung und Applikation zur Bergpredigt (1906), aktuelle Predigten aus Hermannstadt. Auch Kriegspredigten hat Schullerus veröffentlicht und die Kriegsteilnehmer zu Weihnachten 1916 mit einem gedruckten Heftchen „Heilige Heimat“ gegrüßt: Nach der Rückeroberung Siebenbürgens im Herbst 1916 lasen die aus Hermannstadt stammenden Soldaten: „Gott hat uns die Heimat neu finden lassen. Herrlicher, goldener, als wir sie je gehabt. … Es ist das Land, aus dem Gott uns spricht und zu uns spricht. … Nun bleibt uns die Heimat geweiht. Heimat! Heilige Heimat!“ Diese Deutung fand herzliche Zustimmung: „Als ich nun daraus vorlas, da wurde es still, und fast andächtig hörten mir alle zu. Wie ich fertig war, da stimmte plötzlich einer unwillkürlich an, und das wunderbare ‚Sachs halte Wacht‘ scholl hinaus und brach sich vielfach an den Wänden der Karpathen.“ Auch gegenteilige Reaktionen erhielt Schullerus. Es „kommt mir der eigentlich christliche Erlösungsglaube und die dazu gehörige ewige Hoffnung reichlich kurz weg“, schrieb ihm ein Mecklenburgischer Kollege kritisch zurück und fuhr fort: „Und … in dem Weihnachtsbüchlein fehlt der Name Jesu gänzlich. Es ist aber doch kein andrer Name uns Menschen gegeben, darin wir Heil und Leben haben könnten!“ Die Kritik traf zwar den Nagel auf den Kopf. Doch Adolf Schullerus blieb seinem Konzept des sächsischen Glaubens, der Verschmelzung von Volk, Kultur und Religion, von ethnischer, sächsischer Gemeinschaft und evangelischer Landeskirche als Pfarrer, Wissenschaftler, Volkspolitiker und rumänischer Senator (1919-1926) treu.

Schullerus imponierte seinen Zeitgenossen als Persönlichkeit mit stringenter Konzeption. Nicht nur seine religiösen, sondern auch die damit unlösbar verknüpften wissenschaftlichen Äußerungen empfahlen ihn vielen für höchste Aufgaben. Nach seinem Aufstieg in die führenden Positionen nach dem Ersten Weltkrieg als Vorsitzender des Deutsch-sächsischen Nationalrats bzw. des Volksrats für Siebenbürgen (1918-1928), als Bischofsvikar (1922-1928) und als rumänischer Parlamentarier stand er im Zenit seines Einflusses, um seiner Leitidee – vorübergehend – zur öffentlichen Dominanz zu verhelfen.

Ulrich Andreas Wien

Schlagwörter: Porträt, Geburtstag, Pädagoge, Politiker

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Neueste Kommentare

  • 09.03.2014, 18:24 Uhr von getkiss: "Gott hat uns die Heimat neu finden lassen." Richtig. Die "perfekte" Vorbereitung zu der neuen ... [weiter]
  • 09.03.2014, 13:33 Uhr von seberg: getkiss, "Heimatluft" ist metaphysisch gemeint, also zum geistigen Atmen, das verstehst Du nicht. ... [weiter]
  • 09.03.2014, 11:49 Uhr von getkiss: Sorry, mir reicht Luft nicht. Ein Kanten Brot und sauberes Trinkwasser dazu wäre besser.... [weiter]

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