1. März 2015

Quellenband mit Dokumenten über Auswanderer in das Königreich Ungarn erschienen

Am Sonntag, den 13. August 1780, schrieb Genoveva Sailer aus Neu-Palanka (Újpalánka, Bačka Palanka) in der Batschka an die Herrschaft Haigerloch im Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen einen Brief. Sie war verzweifelt, denn in Erwartung ihrer Erbschaft hatte sie geheiratet, Haus und Hof angeschafft. Doch das Geld ließ auf sich warten. Schließlich rannten ihr die Gläubiger die Türen ein und sie war finanziell ruiniert. In ihrer Verzweiflung drohte sie dem Amt, sich an die „kaiserliche Majestät“ zu wenden. Als das Erbe endlich eintraf, war ihr Mann „aus Schande“ weggelaufen.
Ein anderes Beispiel: Ende August 1779 tauchten zwei Männer aus Deutschtewel (Nagytevel) im Komitat Veszprém in Oberndorf im Spessart auf. Niemand kannte die beiden. Einer der Männer behauptete, der Sohn einer vor Jahrzehnten ausgewanderten Frau zu sein, der noch eine Erbschaft zustünde. Wochenlang warteten sie, bis es ihnen schließlich tatsächlich gelang, mit dem Erbgeld zurückzureisen. Diese und zahlreiche andere Fallbeispiele mit „Geschichten um das Erben“ sind das Kernstück der Quellenedition, die im März 2015 in der Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde erschienen ist. Der Titel der von Karl-Peter Krauss herausgegebenen Edition lautet „Quellen zu den Lebenswelten deutscher Migranten im Königreich Ungarn im 18. und frühen 19. Jahrhundert“.

Die Quellen bieten einen einzigartigen Zugang zu den Lebenswelten der Auswanderer. Zugrunde liegen insbesondere Dokumente der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Territorialstaaten, aus denen die Auswanderer kamen, und der im Zuge des Geldtransfers entstandene behördliche Schriftverkehr. Für die Quellenedition wurden Akten aus über 50 verschiedenen Archiven aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Österreich, Rumänien, der Schweiz, Serbien und Ungarn herangezogen und publiziert. Sie informieren darüber, auf welchen Wegen die Auswanderer an ihr Geld gelangten, welche Abgaben sie zahlen mussten, wie sie von den habsburgischen Regierungsstellen in ihrem Bemühen unterstützt wurden, aber auch, wie manche Auswanderer versuchten, illegal an ihr Erbe zu gelangen. Die Dokumente geben Einblicke in die Investition des mitgebrachten und erhaltenen Vermögens und Erbes und in die Bemühungen der Verwandten und Ämter in den Herkunftsgebieten, das Erbe nach Ungarn zu transferieren. Zentrales Anliegen ist die Annäherung an den Menschen. Denn nur selten sind Schicksale und Lebensabschnitte von Auswanderern zu erfassen. Meist lassen sich nur Namen in Auswanderungslisten, in Erfassungslisten, in Kirchenbüchern oder in Konskriptionslisten der Ansiedlungsgebiete feststellen. So bieten diese Dokumente einen tiefen Einblick in den Mikrokosmos der Akteure, aber auch in die von Krankheit und Tod geprägte demographische Krise der Anfangszeit. Dass Erben wohl immer auch mit Streit, Betrug und Gerichtsprozessen verbunden ist und Verluste hingenommen werden mussten, verwundert dabei wenig.
Richter und Geschworene von Neu-Palanka ...
Richter und Geschworene von Neu-Palanka (Batschka) bestätigen die Identität von Genoveva Sailer und ihre Erbforderung, 4. November 1778. KrArchBL, Oberamt Hechingen, Hech2b, Höfendorf, Nr. 36, 1780-1851. (Abbildung aus dem besprochenen Band)
Insgesamt werden 138 Quellenkonvolute mit fast 700 Einzelquellen publiziert, darunter rund 130 Briefe von Auswanderern aus Ungarn innerhalb ihres Entstehungszusammenhangs. In einigen Fällen gelang es, korrespondierende Akten zu einem Vorgang aus verschiedenen Archiven, zum Beispiel aus dem Herkunftsgebiet und dem Zielgebiet, aufzufinden.

Der Quellenband ist in mehrere thematische Kapitel und Unterkapitel untergliedert. Zunächst geht es einführend um die rechtlichen Rahmenbedingungen. Von Bedeutung für das Gesamtverständnis sind auch die Formen und Folgen des Geldtransfers. So wird dargestellt, auf welchen verschiedenen Wegen die Erbschaften nach Ungarn gebracht wurden, aber auch, wie das Erbgeld investiert wurde. Ein Unterkapitel stellt einzelne Briefe von Auswanderern vor. Einen zentralen Stellenwert hat das Kapitel „Lebenswelten“: Es werden Fallbeispiele vorgestellt, die auf umfangreichen Quellen basieren. Sie gewähren einen tieferen Einblick auch in die Lebensumstände der Kolonisten. Im letzten Kapitel geht es schließlich um „Kriminelle Handlungen, Fehlzustellungen und Erbstreitigkeiten“.

Die erste Quelle datiert in das Jahr 1694, die letzten Dokumente reichen in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Der zeitliche Schwerpunkt liegt im späten 18. Jahrhundert, doch viele Dokumente stammen auch aus der Zeit Maria Theresias. Räumlich dominieren die Quellen mit Bezug zu den Hauptansiedlungsgebieten der deutschen Kolonisten im Banat, in der Batschka und in Südtransdanubien (Schwäbische Türkei), wobei aber auch andere Siedlungsregionen berücksichtigt werden.

Der Anhang enthält mehrere Karten zur Lokalisierung der Orte mit Erbschaftsakten im Königreich Ungarn, ebenso ein Personen- und Ortsregister. 28 Abbildungen von Dokumenten aus Archiven verschiedener Länder ergänzen den Quellenband.

Karl-Peter Krauss: „Quellen zu den Lebenswelten deutscher Migranten im Königreich Ungarn im 18. und frühen 19. Jahrhundert“, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2015, 707 Seiten, 86 Euro, ISBN 978-3-515-10971-0

Schlagwörter: Geschichte, Ungarn, Auswanderung, Urkundenbuch

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Neueste Kommentare

  • 02.03.2015, 08:13 Uhr von bankban: Recht gute Rezension, schade, dass sie ohne Nennung des Autorennamens veröffentlicht wurde. [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

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