24. August 2015

"Aus einem Leben in ein anderes Leben"

Der komplexe siebenbürgische Kosmos mit all seinem Facettenreichtum ist Inhalt des sehr lesenswerten neuen Romans „Leuchtende Schatten“ von Iris Wolff. Auf der Folie der Geschichte einer Großfamilie entfaltet sich, stellvertretend für das gesamte Gemeinwesen der Siebenbürger Sachsen, das sehr detailgetreu gezeichnete Bild einer sich allmählich auflösenden Gesellschaft im Hermannstadt der 1940er Jahre.
Die Freundschaft zwischen zwei Teenagern von unterschiedlicher sozialer Herkunft und gegensätzlichem Charakter bildet das erzählerische Gerüst des Romans. Elisabeth, genannt Ella, die „Wolkensammlerin“, verbindet vom ersten Augenblick des Kennenlernens an eine geradezu sinnliche Seelenverwandtschaft mit Harriet, die – viel rationaler und geerdeter als ihr Gegenüber – ein Geheimnis tief in sich trägt, das Ella zwar erahnt, aber in seiner Tragweite erst erfasst, als es auf unerwartet brutale Weise zutage tritt. Sie muss als Jüdin stetig wachsam sein, sogar der besten Freundin gegenüber, und ist zur Flucht gezwungen, ohne Vorankündigung, was Ella in tiefe Verzweiflung stürzt: „Ich wollte für mich sein, diese Nachricht abschütteln, und meine Angst, diese fürchterliche Angst, ich könne Harriet nie wieder sehen.“

Zur Figurenkonstellation gehören noch weitere Familienmitglieder, von denen insbesondere die Großmutter, Ursula-Oma, erwähnt werden muss, ist sie doch als Familienoberhaupt der Pfeiler in dem durch die Kriegsereignisse (Einsickern der Nazi-Ideologie, Übertritt Rumäniens zu den Alliierten) bedingten allmählichen Niedergang des Gemeinwesens. Ihre Eigenschaften sind Bodenständigkeit, ein Sinn fürs Praktische, Traditionsbewusstsein, ein Quäntchen Aberglauben und eine Portion Eitelkeit. Sie ist die Hüterin der sächsischen Kultur, ihrer Werte, Sitten und Bräuche und Sammlerin von Gegenständen des täglichen Lebens, die bewahrenswert sind. Aber sie hat auch ihre Umgebung stets im Auge, die politischen Veränderungen, die Multi-Kulti-Gesellschaft da draußen, mit der man Geschäfte macht und mit der man sich arrangieren muss. Was sie in diesen schwierigen Zeiten besonders auszeichnet, ist die wichtigste Großmuttereigenschaft, die Liebe zu den Ihren und zum Menschen überhaupt, die sie in ausgewogenen, aber passenden Dosen zum richtigen Zeitpunkt verteilt. So wird sie für Ella zur Trösterin, als diese mit dem bislang schwersten Schicksalsschlag in ihrem jungen Leben, nämlich dem Verlust des Vaters, fertig werden muss: „In meiner Familie war es überraschenderweise Großmutter, mit der ich in den ersten Wochen am besten auskam, die ich nicht mied, bei der ich nicht das Gefühl hatte, ich müsse mich verstellen. Ich schätzte ihren bissigen Sarkasmus, ihre launigen Sprüche, ihre strenge, unsentimentale Art – und es waren allein ihre Vorschläge, die ich blind befolgte.“

Großmutter erweist sich auch als Bewahrerin der Sprache dieser Inseldeutschen. Eine Reihe von, ich nenne es „Sächsismen“, Wörtern und Redewendungen sowie rumänischen Bezeichnungen und Ausdrücken, die in ihrer Vertrautheit dem siebenbürgischen Ohr durchaus schmeicheln, könnten für Leser, die dieser Idiome unkundig sind, das Verständnis leicht einschränken. Ein Glossar wäre da sicherlich hilfreich.

Den Roman durchweht eine elegische Grundmelodie, geht es doch um eine jahrhundertealte Lebens- und Schicksalsgemeinschaft, deren Existenz in Siebenbürgen zur Neige geht, aber diese Grundmelodie wird überlagert von Akkorden in Dur, denn Frohsinn und Lebenslust der Jugendlichen auf Entdeckungsreise ins Erwachsenwerden lassen sich nicht eindämmen. Die Autorin evoziert – rückblickend aus der Erinnerung der Protagonistin erzählt – das Tableau einer von Liebe und Gemeinsinn getragenen Gesellschaft, das im Zuge der politischen Ereignisse Risse bekommt, die in letzter Konsequenz dann „Aus einem Leben in ein anderes Leben“ (Bertolt Brecht: „Die Liebenden“) führen sollen. So überspielen, wie im Titel schon angedeutet, Licht und Schatten einander.

Auch wenn der Roman in seiner Dichte und Intensität noch viele Schreibanlässe eröffnet, möchte ich es dabei bewenden lassen, nicht ohne die große Fabulierkunst der Autorin hervorzuheben und ihr ausgefeiltes Gespür für Gefühlsregungen, für Naturbilder, für das Detail, das sich in einer sehr expressiven, empfindsamen Sprache artikuliert. Da hilft nur selber lesen.

KaRo


Iris Wolff: „Leuchtende Schatten“, Otto Müller Verlag, Salzburg/Wien, 2015, 329 Seiten, 21 Euro, ISBN 978-3-7013-1228-3
Leuchtende Schatten
Iris Wolff
Leuchtende Schatten

Müller, Otto
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Schlagwörter: Buch, Rezension, Siebenbürgen, Krieg

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