11. Oktober 2016

Über den Rand hinaus: Gedichte von Kristiane Kondrat

„Wir, die Unvernünftigen/ die alle Fragen offen lassen/ auf die die Vernünftigen/ immer eine Antwort wissen/ Wir, die wir keine Sicherheiten bieten können/ nur unsere Ungewissheit.“ – Diese kollektive Selbstdarstellung finden wir auf Seite 15 im neuen Gedichtband von Kristiane Kondrat „Ein großer Buchstabe fällt von der Wand“. Die Dichterin sieht sich selbst und uns lustlos eingebettet in alte und neuere Bedenklichkeiten und redet uns nicht zu, aber auch keineswegs an uns vorbei. Sie kennt unseren Schritt und geht ihn mit, schert aus und überholt, ohne sich zu entfernen. Sie bietet keine Rückschau an, sie ist heutig und sucht den Horizont ohne Wehmut ab.
Die aus Reschitza im Banater Bergland stammende Autorin stellt ihr im Pop Verlag, Ludwigsburg, erschienenes Buch in eine beachtliche Reihe bereits veröffentlichter Romane und Erzählungen als poetische Zugabe. Sie weiß, nie wird alles gesagt sein, und alles bereits Gesagte will neu erfahren werden.

Wir blättern um zum nächsten Gedicht auf Seite 16. Es beginnt, titellos, mit der Frage: „Ist die Welt so kurz geworden/ dass jedes Wort zu lang ist/ sie zu messen ...“ – Wir lesen die ungleich langen, von keinen Satzzeichen zerteilten Verse bis ans Ende ohne Punkt und sind uns nach jeder Seite gewisser, mit dieser 152 Seiten umfassenden Gedichtsammlung eines jener Bücher zu haben, nach denen man gern immer wieder greift. Zustände, Hintergründe und Bedenklichkeiten, Alltägliches auch und Übersinnliches wird in diesen Gedichten angesprochen und dem zugeordnet, was auf Antworten aus ist und im Kern doch ohne solche auszukommen genötigt bleibt. Das scheinbar Bekannte wird in eine Konstellation des Ungewissen versetzt und durchbricht, auf den vorgeblich richtigen Weg gebracht, den Horizont („Am frühen Morgen schon“). Fragen kommen auf, Fragen an sich selbst und an alle, Fragen an die Welt, an die Geschichte und an den Sinn oder Unsinn hinter all den Dingen, Entwicklungen, Rückläufigkeiten und Stillständen. Es sind keine Erklärungen vorrätig, aber „es ist jemand da, der mitschweigt/ wenn ich verstumme“ (Seite 46). Vom „Vorwörtlichen“ spricht die Dichterin, von kleinen Menschen, die „viel zu große Schatten“ werfen, von „kleinen Missverständnissen“ beim Versuch „es wiedergutzumachen“ und auch von „den lieben Nächsten“, gegen die sich versichert zu wissen zu empfehlen ist. Eins übergeht ins andere und fügt sich zu einem bewegten und bewegenden Erlebnishintergrund ineinander, dessen Ursächlichkeit aufgedeckt und dichterisch benannt wird.

Denn so völlig abgehoben mag sich Kristiane Kondrat nicht sehen in unseren westlichen Unzulänglichkeiten, die ja den Nährboden ihrer Dichtung darstellen. „Irgendwo hängt ein Schornstein/ an einem Rauchfaden im Himmel“ – sie sieht die Welt anders rum, um sie richtig zu sehen und weiß, dass neue Nägel in die Wand geschlagen werden „zum Aufhängen für einen alten Hut“. Da ist einiges, „das unbemerkt durch den Zoll“ geht, und damit verbunden die Erfahrung, dass es im Grunde doch nur „die stumm gebliebenen Gedanken“ sind, „die immer schon frei waren“. Es bleibt das Misstrauen der Macht gegenüber, und es gilt weiterhin die ebenso alarmierende wie ernüchternde Einsicht, dass „Täter nur dann zum Tatort zurückkehren/ wenn sie wiedergewählt werden“.

Im Abschnitt „Scheherazade“ am Ende des Bandes findet die Dichterin zum vertraulichen Du, darf und kann nur Frau sein, die eine Gegenseitigkeit in Sprache fasst und ihr Gestalt verleiht. „Du bist so/ wie ich als Kind/ in meinem Zeichenheft/ die Welt sah“, notiert sie zwischen Schein und Sein und fügt hinzu, „bis an den Rand/ des Zeichenblatts/ und darüber hinaus“. Auch über den Rand des Sprachlichen hinaus, und doch von ihm gebündelt und weiter gereicht, um es zu behalten. Kristiane Kondrat bestimmt sich über die Sprache, aber sie schnürt sich nicht ein, sie verzichtet weitgehend auf Versmaß, Reim und Interpunktion und setzt dort, wo sie es haben will, behutsam ein Lesezeichen und auch den Gleichklang. Es gelingt ihr, als wollte sie sich erproben, wenn auch eher nebenbei, das Sonett. Die hier aufkeimende Beklommenheit einer Standortbestimmung von „weder da noch dort“ (haftet sie nicht uns allen an?) wirkt auch in ihrer Wiederholung unverbraucht. Die Poesie muss nicht zwangsläufig neu sein, um neu zu sein.

Die Uhr steht still seit gestern fünf nach sieben,/ dieselbe Nacht kommt wieder, ohne Grund,/ und jene, die hier saßen, sind irgendwo geblieben.// Das Gelb und Blau entziehen sich dem Wort,/ nach dem Gesetz sind unsre Gesten schon verjährt,/ und die gestörten Kreise weder da noch dort.

Franz Heinz

Kristiane Kondrat: Ein großer Buchstabe fällt von der Wand. Gedichte, Umschlaggestaltung: Traian Pop, Pop Verlag, Ludwigsburg, 157 Seiten, 17,00 Euro, ISBN 978-3-86356-096-6

Schlagwörter: Rezension, Gedichtband, Banaterin

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