18. Mai 2017
Iris Wolff entwirft in ihrem neuen Roman Lebensbilder vierer Generationen von Siebenbürger Sachsen
Vor Kurzem ist Iris Wolffs dritter Roman „So tun, als ob es regnet“ (nach „Halber Stein“, 2012, „Leuchtende Schatten“, 2015) erschienen. Als „Roman in vier Erzählungen“ kennzeichnet sie ihn im Untertitel und stellt ihm ein Zitat aus Hermann Lenz‘ autobiografischem Roman „Verlassene Zimmer“ (1966) als Motto bedeutungsvoll voran: „Du musst dich umschauen, sieh um dich; was du bemerkst, das gehört dir.“
Der Sinn solcher Assoziation erhellt sich im Rückblick des Lesers als gelungene Metapher für den Blick der Erzählerin auf die Lebensgeschichten der Vertreter vierer Generationen von Siebenbürger Sachsen, die, wiewohl als eigenwillige und scheinbar selbstbestimmte Menschen geschildert, den Stempel der größeren, der historischen Zeitläufe eines Jahrhunderts tragen. Die Erzählungen können jede für sich stehen und bilden dennoch, im Rückblick gesehen, ein Ganzes, schaffen über Brüche in Lebens- wie auch in den historischen Abläufen hinweg Kontinuität. Denn wiewohl die Protagonisten ihr Eigenleben entwickeln, haben sie ihren bestimmten Platz in einer Generationenfolge. Sie treten namentlich als Nachkommen der in der jeweils vorangegangenen Erzählung geschilderten Generation auf. Doch die Autorin bettet die Figuren bewusst nicht in erklärende Schilderungen oder in vor- und nachgesetzte Exkurse in die wechselvolle und nicht undramatische Geschichte der Siebenbürger Sachsen des 20. Jahrhunderts ein, sondern wirft innerhalb der Schilderung subjektiven Lebensgeschehens wie beiläufig und nur skizzenhaft Hinweise auf so einschneidende Ereignisse wie den Ersten Weltkrieg mit seinen Folgen, auf Deportation und Auswanderung.
Dem Insider siebenbürgischer Geschichte bietet sie damit die Taste, die er anzuklicken vermag, für den Outsider reicht die kurze Einblendung, um Ereignisse oder Reaktionen der geschilderten Personen einzuordnen, ohne Neugier und Spannung zu verlieren. „Geschichtsunterricht“ sei nicht Ziel ihres Schreibens, sagte die Autorin bezüglich ihres zweiten Romans im Interview mit Siegfried Habicher (Siebenbürgische Zeitung, Folge 4 vom 15. März 2015, Seite 7), doch jede Generation habe „ihre Fragen an die Vergangenheit und die Freiheit, sich damit auseinanderzusetzen, ob auf autobiographischem oder künstlerischem Weg“. Iris Wolff gelingt dies auf letzterem evident: Konzentriert erzählt sie und spannend, denn sie beherrscht ihr Handwerk, indem sie ihre Inspiration, subjektive Erfahrung und Recherche mit dem theoretischen Wissen über Struktur und Funktionsmechanismen von Literatur spannungsreich in Beziehung setzt. In der Interview-Lounge im Internet mit Gabriele Rechberger berichtet sie darüber. Nicht selbst erlebte Vergangenheit, erzähltes oder erinnertes Leben erobert sie sich durch genaues „Hinhören“, durch Nachforschen und nicht zuletzt durch erstaunliches Einfühlungsvermögen, Vorstellungskraft und Fantasie im Sinne des vorangestellten Lenz-Mottos so, dass es den Leser berührt, mitnimmt und überzeugt.
Der Titel des hier zur Diskussion stehenden Romans übersetzt die gängige rumänische Redewendung „se face că plouă“ ins Deutsche, die das Verhalten eines Menschen bezeichnet, der in einer Situation halb abwesend ist oder nur so tut, um sich herauszuhalten oder in Gedanken davonzustehlen.
Die mit ihrer Familie als Achtjährige 1985 aus Hermannstadt ausgewanderte Iris Wolff wählt für die drei ersten „Erzählungen“ des Romans Zeithintergründe, bei denen sie aus eigenem Erlebnisfundus nicht schöpfen kann. In der ersten schildert sie Erlebnisse des österreichischen Soldaten Jakob, der im Verlauf kriegerischer Auseinandersetzungen im Roten-Turm-Pass und um Hermannstadt während des Ersten Weltkrieges nicht nur in einer multiethnischen Armee kämpft, sondern auch innerhalb der multiethnischen Bevölkerungsgruppen Siebenbürgens auf die dort ansässigen Siebenbürger Sachsen stößt. In sinnlich poetischen Sprachbildern entwirft die Autorin Szenen zu Schrecknissen des Krieges, zu Elend und Tod der flüchtenden Bevölkerung, schildert die seelische Verfasstheit der Hauptgestalt, deren persönliche Liebes- und Leiderfahrung in dramatischen Situationen, die innerhalb unverwechselbarer Naturlandschaft die Widersinnigkeit des Krieges illustrieren. Das Quartier bei einer fünfköpfigen sächsischen Bauernfamilie bietet Gelegenheit, deren Beziehungen und Verhältnisse, einen Kleinkosmos, zu vergegenwärtigen. Dokumentarische Quelle war ihr auch das „Rumänische Tagebuch“ (Erstausgabe 1924) des Dichters und Schriftstellers Hans Carossa, der als Militärarzt während verschiedener Kriegsgefechte in den Südkarpaten gedient und darüber beeindruckende Aufzeichnungen gemacht hat.
Die jüngste Tochter der Bauernfamilie, die 16-jährige Henriette, ist Hauptperson der zweiten „Erzählung“, deren Handlung nun nach 1918 in Großrumänien spielt, gegen dessen Regierung in Bukarest in der sächsischen Gemeinde Misstrauen herrscht. Die Portraitierung der Hauptfigur hebt diese aus dem weiblichen Familien- und dem Dorfkosmos heraus, auf sie bezieht sich auch konkret die rumänische Redewendung des Titels. Ihre Erlebnisfähigkeit, ihr außergewöhnliches Wahrnehmungsvermögen und ihre altersunspezifischen Interessen zeichnen einen originellen und kreativen Menschen aus. Ob die Autorin hinter dieser Figur ihr eigenes Welt- und Kunstverständnis verbirgt oder auch zu erkennen gibt? Das mag nicht ausgeschlossen sein. Emotionale Überzeugungskraft, Milieuschilderung, Lokalkolorit und wirkungsvolle Schnitttechnik erzeugen auch hier Authentizität.
Im Mittelpunkt der dritten Erzählung steht Vicco, Henriettes Sohn, ein Draufgänger, der seine Freiheit im kommunistischen Rumänien mittels seiner „himmelblauen Maschine, einer MZ Baujahr 1963“, auslebt. Das Straßennetz kreuz und quer über die rumänische Landkarte scheint ihm zu genügen. Auch wenn es ihn noch nie über die Landesgrenze getragen hat, reicht es, ganz spontan ans Schwarze Meer zu fahren. Man feiert mit Freundin im Freundeskreis, verfolgt gemeinsam die amerikanische Mondlandung, organisiert „Keffs“. Der junge Mann lebt in leidlichem Einvernehmen mit seinem Leben, wiewohl er bei seiner Tante wohnt, seine exzentrische Mutter in Bukarest lebt und er nicht weiß, wer sein Vater ist. Er hat sich in den Verhältnissen eingerichtet und wehrt Unliebsames ab. Aus seinem Fahrwasser reißt ihn unvermittelt Henriette, die dem Sohn ihre Auswanderung nach Deutschland mitteilt. Dass es jenseits der scheinbar heilen Welt Securitate-Verfolgungen und Angst gibt, schwirrt zwar in der Atmosphäre, bestätigt sich ihm konkret erst durch die Erfahrungen eines Freundes. Die Auswanderung der Mutter erscheint danach in neuem Licht, weil Vicco erfährt, dass sie verbotene Manuskripte eines nach Deutschland geflüchteten Schriftstellers über die Grenze geschmuggelt hat. Assoziationen mit der Schicksalsgeschichte des Dichters Oskar Pastior, die vor nicht allzu langer Zeit in den hiesigen Medien kontrovers diskutiert wurden, drängen sich auf. Im Vergleich mit den drei anderen Erzählungen des Romans fällt die Gestaltungskraft bei den als Familiengeschehen skizzierten Ursachen für den massenhaften Exodus der Siebenbürger Sachsen etwas ab. Mag sein, weil es die Perspektive eines im Aufbruch befindlichen jungen Mannes ist, dessen Aufbruch brüsk gekappt werden soll.
Dafür entfaltet die Autorin in der letzten Erzählung über Viccos Tochter Hedda (die Familie lebt längst in Deutschland), ihr sinnlich gestalterisches Können in ganz eigenen poetischen Landschafts- und Naturschilderungen der atlantischen Inselwelt von La Gomera. In deren Atmosphäre verschmelzen der „schreibenden“ Hedda Leben und Traum, Vergangenheit und Gegenwart und führen auf der Suche nach sich selbst zu der philosophischen Frage nach dem „richtigen“ Leben.
Vor die einzelnen Erzählungen stellt Wolff einen Satz aus dem jeweiligen Text, dessen Stellenwert sich erst während der Lektüre erhellt. Ein kleines Glossar erklärt dialektale oder regionale Spracheigenheiten und übersetzt rumänische oder ungarische Begriffe.
Iris Wolff hat ein neues, wieder ein sehr lesenswertes Buch geschrieben!
Iris Wolff: So tun, als ob es regnet. Roman in vier Erzählungen. Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien, 2017, 166 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3-7013-1250-4
Dem Insider siebenbürgischer Geschichte bietet sie damit die Taste, die er anzuklicken vermag, für den Outsider reicht die kurze Einblendung, um Ereignisse oder Reaktionen der geschilderten Personen einzuordnen, ohne Neugier und Spannung zu verlieren. „Geschichtsunterricht“ sei nicht Ziel ihres Schreibens, sagte die Autorin bezüglich ihres zweiten Romans im Interview mit Siegfried Habicher (Siebenbürgische Zeitung, Folge 4 vom 15. März 2015, Seite 7), doch jede Generation habe „ihre Fragen an die Vergangenheit und die Freiheit, sich damit auseinanderzusetzen, ob auf autobiographischem oder künstlerischem Weg“. Iris Wolff gelingt dies auf letzterem evident: Konzentriert erzählt sie und spannend, denn sie beherrscht ihr Handwerk, indem sie ihre Inspiration, subjektive Erfahrung und Recherche mit dem theoretischen Wissen über Struktur und Funktionsmechanismen von Literatur spannungsreich in Beziehung setzt. In der Interview-Lounge im Internet mit Gabriele Rechberger berichtet sie darüber. Nicht selbst erlebte Vergangenheit, erzähltes oder erinnertes Leben erobert sie sich durch genaues „Hinhören“, durch Nachforschen und nicht zuletzt durch erstaunliches Einfühlungsvermögen, Vorstellungskraft und Fantasie im Sinne des vorangestellten Lenz-Mottos so, dass es den Leser berührt, mitnimmt und überzeugt.
Der Titel des hier zur Diskussion stehenden Romans übersetzt die gängige rumänische Redewendung „se face că plouă“ ins Deutsche, die das Verhalten eines Menschen bezeichnet, der in einer Situation halb abwesend ist oder nur so tut, um sich herauszuhalten oder in Gedanken davonzustehlen.
Die mit ihrer Familie als Achtjährige 1985 aus Hermannstadt ausgewanderte Iris Wolff wählt für die drei ersten „Erzählungen“ des Romans Zeithintergründe, bei denen sie aus eigenem Erlebnisfundus nicht schöpfen kann. In der ersten schildert sie Erlebnisse des österreichischen Soldaten Jakob, der im Verlauf kriegerischer Auseinandersetzungen im Roten-Turm-Pass und um Hermannstadt während des Ersten Weltkrieges nicht nur in einer multiethnischen Armee kämpft, sondern auch innerhalb der multiethnischen Bevölkerungsgruppen Siebenbürgens auf die dort ansässigen Siebenbürger Sachsen stößt. In sinnlich poetischen Sprachbildern entwirft die Autorin Szenen zu Schrecknissen des Krieges, zu Elend und Tod der flüchtenden Bevölkerung, schildert die seelische Verfasstheit der Hauptgestalt, deren persönliche Liebes- und Leiderfahrung in dramatischen Situationen, die innerhalb unverwechselbarer Naturlandschaft die Widersinnigkeit des Krieges illustrieren. Das Quartier bei einer fünfköpfigen sächsischen Bauernfamilie bietet Gelegenheit, deren Beziehungen und Verhältnisse, einen Kleinkosmos, zu vergegenwärtigen. Dokumentarische Quelle war ihr auch das „Rumänische Tagebuch“ (Erstausgabe 1924) des Dichters und Schriftstellers Hans Carossa, der als Militärarzt während verschiedener Kriegsgefechte in den Südkarpaten gedient und darüber beeindruckende Aufzeichnungen gemacht hat.
Die jüngste Tochter der Bauernfamilie, die 16-jährige Henriette, ist Hauptperson der zweiten „Erzählung“, deren Handlung nun nach 1918 in Großrumänien spielt, gegen dessen Regierung in Bukarest in der sächsischen Gemeinde Misstrauen herrscht. Die Portraitierung der Hauptfigur hebt diese aus dem weiblichen Familien- und dem Dorfkosmos heraus, auf sie bezieht sich auch konkret die rumänische Redewendung des Titels. Ihre Erlebnisfähigkeit, ihr außergewöhnliches Wahrnehmungsvermögen und ihre altersunspezifischen Interessen zeichnen einen originellen und kreativen Menschen aus. Ob die Autorin hinter dieser Figur ihr eigenes Welt- und Kunstverständnis verbirgt oder auch zu erkennen gibt? Das mag nicht ausgeschlossen sein. Emotionale Überzeugungskraft, Milieuschilderung, Lokalkolorit und wirkungsvolle Schnitttechnik erzeugen auch hier Authentizität.
Im Mittelpunkt der dritten Erzählung steht Vicco, Henriettes Sohn, ein Draufgänger, der seine Freiheit im kommunistischen Rumänien mittels seiner „himmelblauen Maschine, einer MZ Baujahr 1963“, auslebt. Das Straßennetz kreuz und quer über die rumänische Landkarte scheint ihm zu genügen. Auch wenn es ihn noch nie über die Landesgrenze getragen hat, reicht es, ganz spontan ans Schwarze Meer zu fahren. Man feiert mit Freundin im Freundeskreis, verfolgt gemeinsam die amerikanische Mondlandung, organisiert „Keffs“. Der junge Mann lebt in leidlichem Einvernehmen mit seinem Leben, wiewohl er bei seiner Tante wohnt, seine exzentrische Mutter in Bukarest lebt und er nicht weiß, wer sein Vater ist. Er hat sich in den Verhältnissen eingerichtet und wehrt Unliebsames ab. Aus seinem Fahrwasser reißt ihn unvermittelt Henriette, die dem Sohn ihre Auswanderung nach Deutschland mitteilt. Dass es jenseits der scheinbar heilen Welt Securitate-Verfolgungen und Angst gibt, schwirrt zwar in der Atmosphäre, bestätigt sich ihm konkret erst durch die Erfahrungen eines Freundes. Die Auswanderung der Mutter erscheint danach in neuem Licht, weil Vicco erfährt, dass sie verbotene Manuskripte eines nach Deutschland geflüchteten Schriftstellers über die Grenze geschmuggelt hat. Assoziationen mit der Schicksalsgeschichte des Dichters Oskar Pastior, die vor nicht allzu langer Zeit in den hiesigen Medien kontrovers diskutiert wurden, drängen sich auf. Im Vergleich mit den drei anderen Erzählungen des Romans fällt die Gestaltungskraft bei den als Familiengeschehen skizzierten Ursachen für den massenhaften Exodus der Siebenbürger Sachsen etwas ab. Mag sein, weil es die Perspektive eines im Aufbruch befindlichen jungen Mannes ist, dessen Aufbruch brüsk gekappt werden soll.
Dafür entfaltet die Autorin in der letzten Erzählung über Viccos Tochter Hedda (die Familie lebt längst in Deutschland), ihr sinnlich gestalterisches Können in ganz eigenen poetischen Landschafts- und Naturschilderungen der atlantischen Inselwelt von La Gomera. In deren Atmosphäre verschmelzen der „schreibenden“ Hedda Leben und Traum, Vergangenheit und Gegenwart und führen auf der Suche nach sich selbst zu der philosophischen Frage nach dem „richtigen“ Leben.
Vor die einzelnen Erzählungen stellt Wolff einen Satz aus dem jeweiligen Text, dessen Stellenwert sich erst während der Lektüre erhellt. Ein kleines Glossar erklärt dialektale oder regionale Spracheigenheiten und übersetzt rumänische oder ungarische Begriffe.
Iris Wolff hat ein neues, wieder ein sehr lesenswertes Buch geschrieben!
Gudrun Schuster
Iris Wolff: So tun, als ob es regnet. Roman in vier Erzählungen. Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien, 2017, 166 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3-7013-1250-4
Iris Wolff
So tun, als ob es regnet: Roman in vier Erzählungen
Müller, Otto
Gebundene Ausgabe
EUR 20,00
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Schlagwörter: Rezension, Roman, Iris Wolff
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