1. März 2018

Greifbar nah: Film der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie gewinnt den Goldenen Bären

Die langsame Kamerafahrt über einen schlafenden Menschen, die von dunklen Härchen auf der Haut bis zum unverhüllten männlichen Geschlecht nichts mehr verbirgt, ist ein Einstiegs-Statement, mit dem der Film der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie offenbar zeigen will, dass Prüderie hier fehl am Platze ist. Das Langspielfilm-Debüt „Touch Me Not“ (Nu mă atinge-mă) der jungen rumänischen Regisseurin hat am 24. Februar bei der 68. Berlinale den Goldenen Bären gewonnen. Die Reaktionen in der Presse gehen von Lob über die wegweisende Rolle dieses experimentellen Films, der zwischen Fiktion und Dokumentarismus schwankt und eine Meta-Ebene mit einbaut, bis hin zum Verriss.
Die rumänisch-deutsch-tschechisch-bulgarisch-französische Koproduktion – die Schauspieler und Laien kommen zudem aus Großbritannien und Australien – ist auf Englisch gedreht, zuweilen fließt Deutsch mit ein, es ist also ein der heutigen Zeit angemessen globaler Film. Bereits 2013 gewann Călin Peter Netzer als erster rumänischer Filmemacher mit „Mutter und Sohn“ einen Goldenen Bären (Siebenbürgische Zeitung Online vom 7. Juni 2013).

In einem weißen Raum sitzen sich weiß gekleidete Menschen paarweise gegenüber; am Rande hocken schwarz gekleidete Menschen auf dem Boden. Eine ruhige getragene Stimme gibt Anweisungen, was die weiß gekleideten Menschen zu tun haben, wie sie sich zu berühren haben. Die schwarz gekleideten, am Boden Sitzenden schauen zu. Ein kahler junger Mann (Tomas Lemarquis) ist im Fokus und soll sein Gegenüber, einen jungen Mann mit langen Haaren (Christian Bayerlein), der weder Arme noch Beine bewegen kann, im Gesicht berühren. Wenn die Kamera allmählich dessen Antlitz enthüllt, mit den strahlenden erwartungsvollen Augen, dem angedeuteten Lächeln, den überstehenden Zähnen und den Speichelspuren, ist man als Zuschauer verlegen ob dieser Indiskretion. Behutsam folgt Tomas den Anweisungen und nur im Nachhinein sieht man ihn einmal bedrückt von dieser Last. Das Gesicht ist für ihn zu intim, um Nähe zuzulassen, und doch geht es in diesem Film nur darum.

Die Regisseurin erkundete in siebenjähriger Forschungsarbeit die körperliche Nähe, die Intimität. Eine der Hauptgestalten, Laura Benson, eine Mittfünfzigerin, kann keine Nähe mehr zulassen und versucht, dies auf verschiedenen Wegen zu überwinden, in Therapiesitzungen, mit einem Callboy, den sie beim Masturbieren zusieht, mit Hanna, einer Transvestitin und Musikliebhaberin. Gleichzeitig besucht sie einen Pflegebedürftigen (ihren Vater möglicherweise), was ihr, wie man an ihrem strengen Blick sieht, sehr zu schaffen macht. Im zweiten Erzählstrang erzählt der kahle Tomas, wie er als 13-jähriger seine Haare verlor und sein Leben verändert wurde. Er landet im Laufe des Films in einem BDSM-Club, wo er auf eine andere Hauptgestalt trifft, die ungewöhnlichen Sexpraktiken nicht abgeneigt ist. Am nachdenklichsten stimmen die Ausführungen des behinderten Christian, der sich ungerne so benennen lässt, offen und freimütig über seine Unzulänglichkeiten, aber auch über sein erfülltes Sexualleben mit Grit spricht und manch einen Gesunden beschämt, indem er sich dankbar für seinen Körper zeigt.

Gespiegelt auf einer umständlich vorher montierten Scheibe vor der Kamera erscheint immer mal wieder zwischendurch die fragende Regisseurin und thematisiert den Schaffensprozess auf einer Metabene, indem sie mit einem abwesenden Du (ihrem Mann?) spricht. Von der Hauptdarstellerin wird sie einmal vor die Kamera gedrängt, wo sie sich, den Tränen nahe, in ihrer ganzen Zerbrechlichkeit offenbart. Und so öffnet auch sie ihr Innerstes, wie sie das von ihren Figuren abverlangt. Das greifbar nahe, zutiefst menschliche Thema berührt den Zuschauer, vor allem weil es schonungslos offen dargestellt wird, aber die Figuren nicht bloßstellt, und man nicht genau erkennen kann, ob es sich um Drehbuch-Szenen oder dokumentarische Aufnahmen handelt. Trotzdem wird, auch schon durch die Interventionen der Regisseurin, stets auf die Ebene der Kunst verwiesen.

Ein zum Teil nur aus Schreien bestehender Gesang oder laut eingeblendete Musik unterstreichen die Schwere und Ernsthaftigkeit des Films. Ich frage mich, ob ihm ein bisschen mehr Humor nicht auch gutgetan hätte. Stattdessen gibt es zuweilen unfreiwillig komische Szenen. Sehenswert ist dieser experimentelle Film trotzdem, nicht zuletzt, weil er die Grenze der Normalität und des Unbewussten auslotet und einen zum Nachdenken bringt.

Edith Ottschofski

Schlagwörter: Film, Rezension, Rumänien, Berlinale

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