4. November 2019

Geheimnisumwobene Bohème: Sammelband mit künstlerisch-literarischen Darstellungen auch zur Romaminderheit

Als Bohèmiens gelten heutzutage zumeist intellektuelle Randgruppen, die nicht zuletzt durch ihre recht unbekümmerte Lebensweise auffallen. Bohème steht zugleich für eine sozialgeschichtliche Kategorie, in der viele vom gradlinigen Strömungswind abgekommene Maler, Dichter, Literaten und andere Überlebenskünstler eine Art Unterschlupf fanden und noch immer finden. Gesellschaftliche Normen verursachen innerhalb dieser Szene gähnende Langeweile und werden selbstverständlich abgelehnt. Banale Gepflogenheiten sind den Outlaws sowieso suspekt. Eigene Identitäten suchen und finden sie mit Hilfe praktizierter Individualität und einem oft genug stoisch gelebten Eigensinn.
In einem Sammelband wurden jetzt sogenannte „Zigeuner“ als schillernde Marginalien plus Bohèmiens der Gesellschaft und deren vielfältige Bezüge zum Alltagsdasein untersucht. Bereiche wie Politik und Philosophie, literarische und poetische Darstellungen sowie Kunst und Medien boten dafür ausreichend Projektionsflächen. Nachzulesende Betrachtungen reichen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert und bringen oftmals extreme Tiefenanalysen an die Öffentlichkeit.
Die Autorin Sidonia Bauer erklärt auf Nachfrage: „Das Buch erschien im Zeichen meines Habilitationsprojekts zu Ästhetiken innerhalb der Romania, in denen Roma eine Rolle spielen, sowohl aus Eigen- als auch als Fremdrepräsentationen. Dazu hatte ich Mme Prof. Pascale Auraix-Jonchière, die Pionierin und Spezialistin Frankreichs auf diesem Gebiet, kontaktiert und mit ihr gemeinsam eine durch die Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung organisiert und geleitet, dessen Akten das vorliegende Buch bilden. Die weitaus meisten Beiträge stammen von Kölner und Clermontoiser Wissenschaftlerinnen, da unsere Universitäten Partneruniversitäten sind und beide diesen Schwerpunkt vorweisen können. Dr. Daniel Eiwen bildet dabei den ersten Repräsentanten auf dem Gebiet der rumänischen Literaturwissenschaft zum Thema der Roma in der Literatur.“

So beschäftigte sich Klaus-Michael Bogdal mit den Hinterlassenschaften von Franz Liszt (1811-1886) und entdeckte bei ihm ein ganz spezielles „Zigeunergefühl“ im positiven Sinn. Astou Fall wiederum thematisierte in der hier vorliegenden Konstruktion „Ethik, Politik und Philosophie“ die Benachteiligungen und fehlende Anerkennung der speziellen Lebensweise jener Menschen, die offiziell als Sinti und Roma bezeichnet werden. Andere, mit reichhaltigen Informationen ausgestattete Buchseiten, untersuchen Darstellungen im Themenbereich „Kunst und Medien“ über die „Zigeuner“ und die dabei bei der Mehrheitsbevölkerung entstehende Faszination bei einer trotzdem immer spürbar bleibenden sowie weit verbreiteten Ablehnung dieser Ethnie.
Roma-Kinder in Katzendorf im September 2018. ...
Roma-Kinder in Katzendorf im September 2018. Fotos: Roland Barwinsky
Auf besonderes Interesse bei Lesern dieser Zeitung dürfte der Beitrag von Daniel Eiwen stoßen. Sein Beitrag „Das Bild des Zigeuners in der Literatur vom Leibeigenen in den Fürstentümern zum Thron Moldaus“ lebt von vielschichtigen Einschätzungen und facettenreichen Draufsichten. Der Leser erfährt notwendigerweise viel Historisches und die von ihm verwendeten Worte von der „bunten Gesellschaft“ dienen keinesfalls nur als aufhübschende Begleitfolklore. Gemeint ist damit die schon immer vorhandene multiethnische Vielfalt im jetzigen Rumänien. Da die Fremden von weither einst kaum etwas zu bieten hatten als ihr Anderssein, blieben ihre Kontakte zu anderen Bevölkerungsgruppen jahrhundertelang eher beschränkt. Für die im Alltag zu spürende Abneigung steht die von Eiwen ausgegrabene, recht unappetitliche Aussage: „So wenig wie die Weide ein Obstbaum, so wenig ist der `Zigeuner´ ein Mensch“.
Roma beim alljährlichen Töpfermarkt in ...
Roma beim alljährlichen Töpfermarkt in Hermannstadt Foto: Roland Barwinsky
Insgesamt schätzte der aus Galatz stammende und lange Zeit in Kronstadt lebende und danach in Köln gelandete sowie mittlerweile pensionierte Lehrer und Literaturwissenschaftler die ganze Sachlage recht nüchtern ein. Rumänien verfügt bekanntlich in Europa über die größte Romaminderheit. Diese ist extrem heterogen und stolz auf einen eigenen König und Kaiser. Sie lebten immer randständig, wurden nie „rumänisiert“. Aufgrund der tradierten Vorurteile verschweigen viele bewusst ihre Herkunft. Einige davon tauchen zuweilen ab oder treten ihrem Lebensumfeld provokant gegenüber. Ein Satz von Eiwen, der einst als Doru Chirică auf die Welt kam, bringt es besonders auf den Punkt: „Sie alle aber vervollständigen das Bild eines interessanten Volkes, manchmal gehasst, manchmal beneidet. Eine Melange aus Exotik, Abenteuer, Leidenschaft, Bohémien und Kunst.“

Roland Barwinsky

Sidonia Bauer, Pascale Auraix-Jonchière (Herausgeber): Bohémiens und Marginalität / Bohémiens et marginalité. Künstlerische und literarische Darstellungen vom 19. bis 21. Jahrhundert / Représentations littéraires et artistiques du XIXème au XXIème siècles, Reihe Romanistik, Bd. 30, Verlag: Frank & Timme, Berlin 2019, 508 Seiten 79,80 Euro, ISBN 978-3-7329-0499-0

Schlagwörter: Rezension, Roma, Minderheit, Literatur, Sammelband

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