23. April 2021

Ein Schuljahr als Ortslehrer in Hermannstadt

Das Nibelungenlied, Till Eulenspiegel, Fabeln, Nathan der Weise, dies sind Themen, die ich den 30 wohlerzogenen, lernwilligen Neuntklässlern am Päda ab Herbst 2019 vermittelte. Für mich sind es Themen, die ich bislang noch nie unterrichtet habe. Für die Schülerinnen und Schüler bin ich mit 66 Jahren im Alter ihrer Großeltern, komme aus Deutschland, kann jedoch rumänisch, da in Hermannstadt geboren. Dies ist für viele wichtig, sie sprechen zwar sehr gut Deutsch, aber nur für drei aus der Klasse ist es die Muttersprache, am Pausenhof höre ich kein Wort Deutsch.
Als ich 1971 am Gheorghe Lazăr Abitur machte, sprachen in meiner Klasse 30 der 32 Schülerinnen und Schüler zu Hause deutsch.

Wie kam es dazu, dass ich diese Chance wahrnahm? Dass deutsche Lehrkräfte für Rumänien gesucht werden, las ich in der Siebenbürgischen Zeitung vom 20. Juni 2018. Die Zahl der Stellen, die in Rumänien über den Deutschen Auslandsschuldienst zur Verfügung gestellt werden, ist begrenzt. Als Ortslehrer in Rumänien können sich deshalb auch pensionierte Lehrkräfte aus Deutschland bewerben. Gesucht werden neben dem Unterrichtsfach Deutsch auch die Fächer Mathematik, Physik, Geographie und andere.

Meine Frau, Kölnerin, auch Lehrerin, unterstützte die Idee, mich für das Schuljahr 2019/20 in Hermannstadt zu bewerben. Ich wollte noch ein Jahr unterrichten, hatte Sehnsucht nach Hermannstadt und den Karpaten, wollte hautnah erleben, wie sich das Land nach 1979, als ich auswanderte, verändert hat.

In Hermannstadt 1953 geboren, bin ich Lehrer in fünfter Generation. Bis zu meinem siebten Lebensjahr waren meine Eltern beide als Lehrer/Lehrerin in Großau, danach in Neppendorf tätig. Dort ging ich auch zur Schule. Da im Kommunismus das Brukenthal-Lyzeum keine rein deutsche Schule sein durfte, wurde eine deutsche Klasse am Gheorghe-Lazăr-Lyzeum und eine rumänische Klasse am Bruk eingerichtet. In Hermannstadt studierte ich Germanistik und Romanistik, war vier Jahre Lehrer am Bergbau-Gymnasium in Petroschani, dann folgte die Auswanderung. In Köln unterrichtete ich 34 Jahre an einem Berufskolleg, 24 davon als Studiendirektor. Seit Sommer 2017 bin ich Pensionär.

Trotz der überwiegenden Auswanderung der Siebenbürger Sachsen werden in Rumänien landesweit über 15000 Schülerinnen und Schüler in allen Fächern in deutscher Sprache unterrichtet. Viele davon besuchen unterschiedliche Schulformen in Hermannstadt.
Eingang zum Pädagogischen Lyzeum in Hermannstadt. ...
Eingang zum Pädagogischen Lyzeum in Hermannstadt. Alle Fotos: Beate Kleifgen
Bis zu meiner ersten Unterrichtsstunde gab es Telefonate, Beratungsgespräche, Bewerbungsunterlagen, neue Telefonate. Mir wurde eine Stelle als Vertretungslehrer für deutsche Sprache und Literatur sowie deutsche Grammatik am Colegiul National Pedagogic „Andrei Saguna“ (Päda) angeboten. Das Päda ist aus dem altehrwürdigen Gebäude neben der Ursulinenkirche vor Jahren in ein Schulgebäude auf dem Hipodrom umgezogen. Die Schülerinnen und Schüler können in vier Jahren (Klasse 9 bis 12) das Bakkalaureat (Abitur) erreichen. Die Schule hat je Schuljahr fünf Parallelklassen, zwei davon mit deutscher Unterrichtssprache. In einer der beiden Klassen erwirbt man neben dem Abitur auch die Qualifikation zur Erzieher/in oder zur Grundschullehrer/in. Der Großteil der Schülerinnen und Schüler strebt für später jedoch ein Studium, teils im Ausland an.

Da ich für Hermannstadt der erste pensionierte Lehrer aus Deutschland war, mussten die Vertragsbedingungen erst geklärt werden. Der Vertrag lief vom ersten bis zum letzten Tag des Schuljahres (etwa zehn Monate). Vom Studiendirektor a.D. wurde ich plötzlich zum „Debutanten“, da Rumänien keine in Deutschland erworbenen Abschlüsse für Lehrkräfte anerkennt. Wegen meiner Ausreise ohne rumänisches „Definitivat“ (Zweite Staatsprüfung in Deutschland) war ich wieder „Lehramtsanfänger“.

Nun benötigte ich eine möblierte Wohnung. Ich befand mich in Konkurrenz zu etwa 16000 Studierenden und ausländischen Mitarbeitern von in Hermannstadt angesiedelten Firmen. Schnell wurde ich fündig, mietete fußläufig zur Schule eine Zwei-Zimmer-Wohnung am Hipodrom, zahlte monatlich 300 Euro Kaltmiete bei 460 Euro Nettoeinkommen für eine volle Lehrerstelle (19 Unterrichtsstunden zu je 50 Minuten pro Woche).

Sehr erfreulich für mich war, dass ich noch vor Beginn des Schuljahres an einem dreitägigen Lehrerfortbildungsseminar für Deutschlehrer aus ganz Rumänien in Jassy (Iași) teilnehmen konnte. Dieses Einführungsseminar wurde von der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen und dem Zentrum für Lehrerfortbildung in deutscher Sprache aus Mediasch organisiert. Im Oktober nahm ich in ­Mediasch mit 40 anderen Deutschlehrkräften an einer dreitägigen Prüferschulung für das Deutsche Sprachdiplom (DSD) I und II teil. Fast alle Schülerinnen und Schüler der deutschen Abteilung am Päda erwerben neben dem Abitur auch das DSD II. Dadurch sind sie berechtigt, an einer Hochschule in Deutschland zu studieren.

Endlich kam der erste Unterrichtstag. An der Einschulung am Päda Mitte September nahmen neben den Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern auch ein orthodoxer Pfarrer und ein Polizist teil. Neu für mich war, dass es einen Schuleingang und ein Treppenhaus nur für Lehrer und andere Eingänge und Treppenhäuser für Schüler gibt.
Das Pädagogische Lyzeum in Hermannstadt ist ...
Das Pädagogische Lyzeum in Hermannstadt ist Partnerschule der Bundesrepublik Deutschland.
Alle Schülerinnen und Schüler besuchten vor dem Päda schon einen deutschen Kindergarten und eine deutsche Grundschule. Dort gibt es wie in den weiterführenden Schulen Aufnahmeprüfungen, auf die sie (oftmals durch Privatunterricht) vorbereitet wurden.

Der zeitliche Aufwand für Unterrichtsvor- und -nachbereitung sowie Korrekturen war für mich sehr hoch. Die Stoffverteilungspläne sind ganz anders als die Deutschlehrpläne an einem Berufskolleg in NRW. Die Kolleginnen und Kollegen waren zu mir immer freundlich, hilfsbereit und kooperativ. Schule funktioniert anders, man muss sich schnell, flexibel darauf einstellen.

Einige Dinge sind erfrischend wenig digitalisiert. Jede Note, jede abwesende Stunde wird wie in meiner Kindheit per Hand in einen DIN A 2-großen Katalog eingetragen. Die Hausmeisterin überreicht den Lehrkräften Vertretungsregelungen persönlich auf einem handgeschriebenen Zettel. Stundenpläne werden im Lehrerzimmer ausgehängt, müssen von allen Lehrkräften abfotografiert werden.

Ansonsten ist der Unterricht jedoch genauso digitalisiert, wie ich es aus Köln kenne. Der Unterricht findet in allen Fächern auf einem sehr hohen Niveau statt, so dass die Schüler und Schülerinnen beim Bakkalaureat hervorragend deutsch sprechen und für ihre berufliche Zukunft bestens vorbereitet sind. Meine Frau Beate hospitierte in ihren zweiwöchigen Herbstferien mit großer Begeisterung am Päda und kann sich eine Unterrichtstätigkeit dort gut vorstellen. Ich war nicht in Hermannstadt, um Geld zu verdienen, es war für mich eher wie ein Ehrenamt. Die Tätigkeit als Lehrer war spannend, herausfordernd, vielseitig. Von den Schülerinnen und Schülern bekam ich positive Rückmeldungen. Ich habe auch an unterschiedlichen Veranstaltungen der Schule teilgenommen („Balul bobocilor“ – Ball der Neuntklässler, Weihnachtssingen, Schulfasching).
Wandgemälde am Pädagogischen Lyzeum in ...
Wandgemälde am Pädagogischen Lyzeum in Hermannstadt
In der Freizeit konnte ich an vielen Veranstaltungen teilnehmen, zum Beispiel am Treffen der Siebenbürger Sachsen im September 2019 in Bis­tritz. Am wichtigsten war für mich im Januar 2020 in Reschitza die Teilnahme an der zentralen Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Deportation der Deutschen aus Rumänien in die UdSSR. Zu diesem Thema hielt ich anhand der Erinnerungen meiner Mutter an ihre Deportation einen Vortrag in Hermannstadt im Spiegelsaal des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien. Wichtig waren für mich auch ­Veranstaltungen in der Erasmus-Buchhandlung, dem Teutsch-Haus, der Evangelischen Akademie in Neppendorf, des DFDR, eine Führung durch die Synagoge in Hermannstadt anlässlich ihres 120-jährigen Bestehens. Die 50-Jahrfeier der Gründung der Hermannstädter Fakultät konnte ich mit meiner Frau besuchen, ihr zeigen, wo ich durch Georg Scherg und viele andere hoch qualifizierte Lektorinnen und Lektoren mein Germanistikwissen erworben hatte. In Erinnerung bleiben mir auch ein in siebenbürgisch-sächsischer Mundart gehaltener Gottesdienst zum Reformationstag in der Michelsberger Kirche sowie ein von den Pfarrern aus Kerz und Neppendorf gehaltener Gottesdienst an der Bulea-See-Hütte im März, wobei auch der 23 Opfer des Lawinenunglücks im Frühjahr 1977 am Bulea-See gedacht wurde. Neben Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften aus Hermannstadt starb damals auch mein gewesener Klassenlehrer Schuller Richard, „Schucki“ genannt. Ausgiebige Kammwanderungen führten mich, wie in meiner Jugend, durch das Retezat-, Zibins- und Fogarascher Gebirge.

Fazit: Mein Jahr in Hermannstadt hat meine Liebe zu Land und Leuten vertieft und neu entfacht. Ich habe sehr gerne am Päda mit den Schülerinnen und Schülern gearbeitet. Rückblickend würde ich mich nach allen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen wieder als Lehrer in Hermannstadt bewerben. Ich rate auch anderen, dies zu tun.

Nun suche ich eine Mietwohnung in Hermannstadt, um jährlich mehrere Monate dort leben zu können. Bei Fragen mailen Sie mir gerne: bretz.heinz[ät]web.de

Heinz Bretz

Schlagwörter: Hermannstadt, Schule, Lehrer, Forum

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  • 23.04.2021, 10:36 Uhr von Peter Otto Wolff: Toller Bericht eines offensichtlichen Enthusiasten. Sehr zur Nachahmung empfohlen, wer kann, wer ... [weiter]

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