19. September 2021

Der Banater Schriftsteller und Dichter Horst Samson in der Reihe „Lebendige Worte“ (XIX)

Horst Samson, geboren am 4. Juni 1954 im Weiler Salcimi (Bărăgan/Rumänien), Lehrer, Journalist. Er emigrierte am 6. März 1987 in die Bundesrepublik Deutschland, lebt heute als freier Autor in Neuberg bei Frankfurt am Main. Veröffentlichte zwölf Gedichtbände, u.a.: „La Victoire. Poem“ (Lyrikedition 2000, München 2003, Hrgb. Heinz Ludwig Arnold), ferner im Pop Verlag Ludwigsburg: „Und wenn du willst, vergiss“ (2010); „Kein Schweigen bleibt ungehört“ (2013), „Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin“ (2014); „Das Meer im Rausch“ (2019), „In der Sprache brennt noch Licht“ (2021), ferner „Heimat als Versuchung – Das nackte Leben“, Gedichte, Prosa, Interviews, Essays, Kritiken (2018).
Horst Samson. Foto: Edda Samson ...
Horst Samson. Foto: Edda Samson
Mitherausgeber: Salman Rushdie: „Die Satanischen Verse“, Artikel 19 Verlag; „Pflastersteine. Literarisches Jahrbuch des Adam Müller-Guttenbrunn-Literaturkreises“ der Schriftstellervereinigung Temeswar/Rumänien; Herausgeber der Anthologie „Heimat – gerettete Zunge. Visionen und Fiktionen deutschsprachiger Autoren aus Rumänien“, Pop Verlag Ludwigsburg, 2013.

Nationale und internationale Literaturpreise, u.a.: Lyrikpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes 1981; Preis des Literaturkreises „Adam Müller-Guttenbrunn“ der Schriftstellervereinigung Temeswar 1982; Stipendiat des Deutschen Literaturfonds Darmstadt 1988/89; Nordhessischer Lyrikpreis 1992 der Europa-Akademie Eschwege, der Stadt Eschwege und des Werra-Meißner-Kreises; Förderpreis des Lyrikpreises Meran/Italien 1998; 2007 ausgezeichnet für „Das schönste deutsche Delfingedicht“ von der Gesellschaft zum Schutz der Delfine, der Zeitschrift „Das Gedicht“ (München) und Rewe-Touristik; Stefan-Jäger-Ehrenmedaille des Demokratischen Forums der Deutschen in Temeswar (2014); zuletzt Gerhard-Beier-Preis der Literaturgesellschaft Hessen (2014).

Gedichte des Autors wurden ins Englische, Französische, Rumänische, Schwedische, Serbokroatische und Ungarische übersetzt. Mitglied im Internationalen P.E.N. (2006-2014 Generalsekretär des „Internationalen EXIL-P.E.N. – Sektion Deutschsprachige Länder“), Mitglied im bundesdeutschen VS und im Rumänischen Schriftstellerverband.

SICH EINRICHTEN IN DER ZEIT

Es ist spät. Wir schaufeln den Schnee
Aus den Augen. Der Winter ist der Fachmann

Fürs Altern. Die Tage sind kürzer
Als ein Bleistift. Es wird schon

Früh dunkel. In den Köpfen
Hausiert die Vergänglichkeit und die Angst

Vor dem Schlaf. Wach liegst du
Neben mir auf einem Leintuch so weiß

Wie ein Stück Papier. Im Dunkeln
Schlägt die Haut Funken. Es knistert,

Dann wird es still. In der Sprache
Brennt noch Licht. Und ich höre dich atmen

In meinem Gedicht über das Unsichtbare
Und das Sichtbare darin.
(2017)

UNTERWEGS

„Heimreisen
sind immer länger als Irrwege,
länger als ein Leben …“
Bei Dao


Du und ich wir treiben
Flussabwärts. Es ist eine Reise

Ohne Grund. Wir
Schlagen den Sonnenuntergang auf,

Unser Buch. Fahren
Die Antennen aus und bereiten uns vor.

Die Abendglocken leiten
Uns auf unbekannte Wege.

In den Obstgärten leuchten die
Birnen heller als das

Paradies. Nie kommen wir dort an.
(2016)

DAS MEER

Für Marie-Elisabeth Lüdde

Am Strand harren sie aus, streichholzklein,
Treiben
In Gedanken hinaus ins rotgeränderte Auge.
Es ist der Horizont
Die Zündschnur,
Die ihre Köpfe in Brand setzt.
Sand rinnt
Durch ihre Körper. Sie warten
Gelassen
Am Fuße des Lichtkreuzes über dem Wasser. Sind es
Piraten? Sind es Gerechte?
Keine Regel kennt der streunende
Wind,
Der kommt,
Der geht.
Sie sind jung, und sie sind alt, und
Sie haben das Meer erreicht!

AN PROMETHEUS

Regen beschäftigt mich,
Hinterhältiges Wasser,

Niederschlag von oben, aus
Den Wolken – eine Chiffre,

Durch die Götter den Glauben
An Himmlisches auf die Probe stellen,

Die Schwerkraft prüfen und uns,
Ob wir uns fügen, beugen,

Ihrem Diktat. Ich warne, sie
Sind brandgefährlich,

Löschen nicht den Durst in uns,
Nur das Feuer.
(2016)

SCHWEDENECK

Saukalter Wind zerbrach
Bäume. Kein Stern

Leuchtete, alle Sicherungen
Waren durchgebrannt.

Gott fluchte über dem Meer und schrie
Nach einem Elektriker,

Aber ich hatte zu lieben.
An der warmen Brust lag mir

Eine Sirene. Herrlich roch sie
Nach Fisch und nach Algen.

DER LETZTE ZUG

Vor langer Gleiszeit
Mitten auf toten Schienen,

Du weißt das, wir hielten
Im zerbrochenen Land,

Sahen Köpfe fliegen und
Fliegen auf dem verirrten

Beispiel. Die Farbe Grau stank
Zum Himmel und war über allen

Tagen. Der letzte Zug fuhr
Bei strömendem Leben.

RUMANIA BY NIGHT

Für Ludwig Fels und Guntram Vesper

Unaufhaltbar
Wächst in den Wörtern
Der Tumor. Am Zwetschgenschnaps
Halten wir uns
Fest: Fremd
Sein in der eigenen
Haut! Angst vor
Und das vergriffene
Land – Mord

In zahlreichen
Auflagen! Menschen
Verschwinden wie
Der Duft
Von billigstem
Eau de Cologne.

EDOMS NACHT

Je t’apporte l’enfant ...
Stephane Mallarmé


Die Spitze des Zirkels
Im Tod. Du ahnst den Kreis,
Die Geologie des Verrats
Bis in die Nerven

Zellen. Im Lichtkegel flattert
Das Herz. Schweigen tropft aus
Dem Lande,
Und Blut. Was noch

Brennt in der Nacht
Ist flackernder Mohn,
Was noch blieb von Edom

Sind Silben im Hirn
Und Folterblumen,
Die wuchern ohne Lärm.

PÜNKTLICHER LEBENSLAUF

Meinem Vater gewidmet

Nachts setzt sich Vater
Den Stahlhelm auf,
Steckt sich ein Gebetbuch
In die Brusttasche
Und fährt mit einer schwarzen NSU
Durch ein Minenfeld bei Narwa
In Richtung Leningrad.

Morgens um fünf
Ist er wieder da.
(1983)

MITWISSERSCHAFT

In Erinnerung an Paul Celan

In den Gärten brennen
Die letzten Birnen und Gott entkleidet
Reihum die Bäume. Der Tod, sagt ­Tolstoi,

Ist zu Ende. Und wir kehren zurück,
Nach Hause, in unsere fremde Erde, basteln
Geschenke an die Aufmerksamen. Der jüngste Tag

Bleibt eine fixe Idee, eine kalte
Schulter des Abends. Stille schlägt uns
Ins Gesicht vor dem Abgrund der Wörter,

Mit denen ich eben noch sprach.
(1990)

„Gedichte, das sind auch Geschenke – Geschenke an die Aufmerksamen. Schicksal mitführende Geschenke.“ (Paul Celan – Brief vom 18. Mai 1960 an Hans Bender)

IN DEN URNEN

Nichts bedeuten, nichts
Was wirklich Sinn machen

Würde draußen, im Jenseits

Der Vaterländer, wo das
Leben in Verliesen dahintropft,

Die Selbstgespräche in Galerien,
Und immer wieder Angst,

Uralt wie eine Ikone und voller

Risse. Nachts erpressen wir
Von uns Geständnisse

Über Gott, die Welt und
Nichtige Worte, Erinnerungen

Über unsere Zeit in den Urnen.
(2010)

IN DER ZELLE DER EXILS

Es wächst im Lager nachts ein Land
Wie Unkraut hoch: So war’s, ganz anders
Wie wir wissen, wird es vielleicht mal

Gewesen sein, wird Farbe jetzt daheim
Und Imagination, wird vorgestelltes Schrein.
Die letzte Zeit im Weitergeben halber Wörter

Hinter vorgehaltener Hand – vielleicht ein Leben
Totgelegt, verscharrt im Sand, das sich bewegte noch
Auf dem Papier, versprengt wie wir.
(1987/2012)

DIE FREMDE

Die Köpfe, schreibe ich, sind
Unterwegs, an den Rand
Der Fremde. Sie riecht von fern
Exotisch,
Nach Mandeln, Christstollen und Korn,
Musik und aus der Nähe
Nach Noten
Aus dem Kummerkasten
Für ein Requiem über Vertreibung,
Verbrechen und das Zerbrechen
Der Jahre
Unter der abnehmenden Kraft des
Mondes, auch
Über das Unerwartete, das Erlöschen
Der Farben auf der Netzhaut,
Voller Splitter,
Verlorenes, das im Augapfel
Aufscheint, Delilah, kurz glänzt
Wie das Vermächtnis des Nasiräers,
Gereift im Gewebe
Von Liebe & Verrat, immer
Lesbar, die schöne Iris, glühend
Licht aus ihr, das mir
Die Pupillen weitet vor so viel Anmut,
Die ich sehe, wie
Sie flieht
Im „Städel“, mit der Trophäe im Triumph,
Mit Haut und Haar und Schere,
Wie Rembrandt sie gesehen hat
Am Tag der Blendung.
(2020, nach einer alten Notiz)

IMAGINÄRE STUNDE

„Wir schälen die Zeit
aus den Nüssen …“
Paul Celan, „Corona“


Unschuldig
Blicken wir auf
Das wechselhafte Meer
Aus Spiegel
Und Himmel. Der steckt
Voller Bilder,

Die sich verdunkeln
In der Erinnerung.

Gott ruft

Die Seelen zurück
Aus den Wolken

Rieselt Asche
Verlorener
Gewissheiten,
Verbrannter
Sehnsüchte nach Leben
Vor dem Tod.

Der Herbst
Macht sehend.

Er lehrt uns an Blättern

Die Zeit. Wir beugen uns tief
Über Nüsse.
(2019)

STERNENTAUCHER

Mein Zeuge ist der leere Himmel.
Jack Kerouac (1922-1969)


Ein leises Rauschen tönt
Durch die Nacht,
Von den Pinien weht Gezirpe
Und der Geruch von Harz.
Dann ist es still wie
In einer Auster. Berauscht
Liege ich in einem Märchen,
Neben der noch warmen
Gitarre und einer
Flasche Saint Emilion,
Grand Cru classé,
An der Westküste Frankreichs,
Höre der Brandung zu,
Beobachte den in Sucht und Silber
Getauchten Atlantik,
In dem Sterne mit Elfen baden.
(2019)

DER FISCHER

Er gibt nicht auf, versucht
Mit seinen Netzen das Meer
Einzufangen, die lautlos
Und imaginär dahinfließende
Zeit will er wie einen
Riesenfisch ins Boot ziehen,
An dem seit ewigen Gezeiten
Das Meer nagt und der Wind
Zerrt, zwei Kettenhunde
In mechanischer Bewegung
Rund um die Uhr,
Die ihn Zeit seines Lebens
Begleitet haben und die er
Seit Jahrzehnten kennt, denen er
Dennoch nicht über den Weg traut.
Jedes Mal wenn er die Netze
Einholt, die zappelnden Silberlinge
Betrachtet, in der Sonne glitzernde
Sekunden, Beifang, den er zurück wirft
Ins Meer, weiß er, er ist wie sie
Gefangen – eines Tages, wird er
Draußen bleiben, für immer.
(2016)

ABEND AUF KRETA

Die Ziegen schlafen, die uralten
Dörfer, die Feigen, Zypressen
Und Pinien, das Licht
Des Tages ruht. Am Himmel weidet
Der Mond Sterne und Wolken. Weit weg,
Bei Psychro, schläft Zeus
Mit Europa. Und in der Dunkelheit
Wühlt das Meer. Die Brise kühlt
Den Kopf, den Lyrarakis Kotsifali
Und knorrige Olivenbäume
Schleichen durch die Nacht wie Gestalten
Aus griechischen Tragödien.

WEISSE NACHT

Dein Haar liegt biblisch
Auf dem Polster
Wie eine Herde
Wilder Ziegen. Im Fenster
Weidet der Morgen
Das Licht. Deine Haut

Kühlt langsam ab. Deine
Stimme noch
Im Ohr ziehe ich
Die Decke über
Dein nacktes Bein und sehe
Dir beim Schlafen zu.
(2017)

ICH WERDE WASSER TRINKEN

Aus der großen Freiheit
Ist nichts geworden,
Immer wieder wird die Sprache
Entführt, werden Sätze vergewaltigt
Wörter gefoltert, Strukturen
Durch falschen Satzbau
Angeprangert, Utopien torpediert.
Wir zerbrechen
Am Menschlichen, an Luxus
Und edlen Parfüms, Zärtlichkeit
Ist eine illegale Praxis,
Ein Versuch,
Sich zur Wehr zu setzen
Gegen Gewalt und Verschwiegenheit
Über die Heimat als Fußfessel.
(Leipzig, 2019)

ALGORITHMUS DER NATUR

Ein blauer Tag, September.
Die Pracht des Sommers
Noch einmal. Wir sind

Zeugen des Lebens. Die Zeit
Drängt, treibt die Farben
Ins Laub der Bäume. Ein Hauch

Von Luxus liegt in der Luft,
Glanz, Eleganz und der Tod
Ist allgegenwärtig. Die Blätter

Schmücken sich für den Wind.
Gleich wird er sie abholen
Zum Tanz durch die Alleen.
(2014)

Schlagwörter: Literatur, Samson, Banat, Temeswar, Lyrik, Lebendige Worte

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