7. November 2021

Ihr Klang schüttelte Erinnerungen in den Raum: Gerhild Wächter in der Reihe „Lebendige Worte“ (XXII)

Gerhild Wächter, geboren 1961 in Kronstadt. 1981 Meisterprüfung als Fotografin in Bukarest, seitdem fotografische Dokumentationen, z.B. Künstlerportraits, Architekturfotos, Installationen sowie freie Mitarbeit bei verschiedenen Zeitungen und Verlagen. 2000 Dipl.-Sozialtherapeutin am Fritz Perls Institut, Entwicklung der „Fototherapeutischen Intervention“.
Gerhild Wächter bei der Arbeit an einem ...
Gerhild Wächter bei der Arbeit an einem Scherenschnitt. Foto: privat
Mitgliedschaften: 1984 Asociația Artiștilor Fotografi; 2015 Deutscher Scherenschnittverein; 2016 GEDOK Gruppe Franken; 2021 Berufsverband Bildender Künste (BBK) Einzelausstellungen: 1983 „Fotopoesie“, Schillerhaus, Bukarest; 1984 Vereinigung der Kunstfotografen, Bukarest; 1989 Zeitungsredaktion, Kronstadt; 2016 „Engel-Installation“, Evang. Methodistische Kirche, Weißenburg; 2017 „DENK-MAL“ Fotos der Lutherstatue von Martin Mayer, Weißenburg; 2018 „Gloria Dei“, Scherenschnitte, Ebersberg; 2018 Schattenspiel Museum für Wald und Umwelt, Ebersberg.

Gruppenausstellungen: 1983-1989 Teilnahme an zahlreichen Gruppenausstellungen in Rumänien; 1998 „Burzenland-Künstler“, Dinkelsbühl; 1999 „Schritt und Tritt“, Kornwestheim, Museum im Kleihues-Bau; 2013, 2015, 2016, 2017, 2019, 2021 Weißenburger Kunsttage; 2017 „Welcome 5“, Nürnberg; 2017 „Eva’s Töchter“, Schwabach; 2018 „Wie Neues in die Welt kommt“, Kreuz + Quer, Erlangen; 2018 „1/2 m² Kunst“, Hersbruck; 2019 „Hier und Jetzt“, Bamberg; 2020 70. Bayreuther Kunstausstellung; 2020 GEDOK Kunstwoche, Schloss Almoshof, Nürnberg; 2020 „2 x 3 macht 5“, Residenz, Hilpoltstein; 2021 Bayreuther Kunstausstellung; 2021 Nürnberg, Handwerkerhof und Hirtengasse.

Publikationen: 1980-1990 Neue Literatur, Künstlerverband; 1991 Illustrationen „Kristallkeller“, Rolf Kaufmann Verlag; 1998 Gedichtband „Anfang“, Aldus-Verlag; 2004 Veröffent- lichung der „Fototherapeutischen Intervention“ in dem Buch „Integrative Suchttherapie“, VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2019 Spiegelungen 2.19, Verlag Friedrich Pustet.

Die folgenden Texte sind Auszüge aus dem Manuskript „Vom Vaterland ins Mutterland. Erinnerungstagebuch“.

Die Würfel sind gefallen

Die Würfel sind gefallen, die Entscheidung getroffen. Es steht fest, lässt sich nicht mehr umkehren, ist zu spät, ich begreife es nicht. Kann es einfach nicht. Ich erschrecke über meine Machtlosigkeit, meine Ohnmacht. Entscheidungen fallen ohne mein Zutun, mein Wissen, treffen mein Leben, verändern es total. Geht es in eine gute Richtung, kann ich die Würfelentscheidungen annehmen und mich darüber freuen. Rebellion, Unverständnis, Wut, Verzweiflung befallen mich, wenn der Wurf sich gegen mich richtet. Chancenlos zu sein, macht mich hilflos, lähmt mich. Ich hasse solche Würfelspiele.

Als meine Eltern sich entschieden, den Ausreiseantrag zu stellen, war ich 12 Jahre alt. Alle wollten auswandern – auch ich, doch über die einschneidenden Folgen der Antragstellung wurde nicht gesprochen. Mit keinem. Für mich begann die Wartezeit, ein Leben auf gepackten Koffern. Deutschland war das Land meiner Muttersprache. Da gab es Bücher, die ich alle lesen wollte, da konnte man reisen, studieren. Ich wartete auf unzählige Möglichkeiten, die ich bekommen sollte. Deutschland, das Land der Dichter und Denker. Da wollte ich hin. Viele träumten von Gummibärchen, Jeans, Kaugummi, Reisen, der totalen Freiheit. Für mich duftete Deutschland nach Lux-und FA-Seifen, nach Zigaretten, Orangen, Kaffee …

Mit dem Ausreiseantrag landete ich in Rumänien auf der Schwarzen Liste der Chancenlosigkeit, auf der Warteliste. Jeder Wunsch, jeder Traum endete an der Grenze. Alles wurde auf später verschoben – in Deutschland würde ich studieren oder eine Ausbildung machen. Die Jahre vergingen, das Warten schaffte Platz für Wunder.

Pfefferkraut

Pfefferkraut kommt in meine Lieblingssuppe. Meine Mutter hat sie phantastisch gekocht und mir immer, wenn sie konnte, eine Freude damit gemacht. Ich war keine dankbare Esserin.

Am liebsten wollte ich nur Kartoffeln essen, in allen Varianten angerichtet – dazu Salat, falls möglich Schinken und Wienerle, die bei uns Kremwürstel hießen, und Wiener Schnitzel. In der Zeit, als es noch Fleisch gab, fiel es meiner Mutter leicht, auf meine Wünsche einzugehen. Mit der zunehmenden Lebensmittelkrise jedoch wurde der Fleischanteil in den Gerichten zur Seltenheit.

Pfefferkrautsuppe kochte meine Mutter aus Rindfleisch mit Markknochen, was teuer und höchst selten zu bekommen war. In die Suppe gehörten Kartoffeln, Möhren und Petersilienwurzeln.

Im Sommer geerntet und in Essigsalz eingelegt, kam dann etwas vom Pfefferkraut hinzu. Zuletzt wurde das Ganze, wenn möglich, mit Rahm verfeinert.

Ich erinnere mich, dass ich in der 3. Klasse die Einzige war, die nicht Pionierin werden durfte. Das setzte mir heftig zu, da ich es nicht verstehen konnte. Aus Gründen, die ich heute auch nicht nachvollziehen kann, durfte ich es ein Jahr später dann doch. Meine Mutter merkte, wie wichtig es mir war, und als ich in der Pionieruniform mit der roten Krawatte heimkam, stand eine Pfefferkrautsuppe auf dem Tisch.

Wir sind schon vor vielen Jahren ausgewandert. Die Siebenbürger haben ihr Pfefferkraut mitgenommen, pflegen und hüten es. Es wird von Siebenbürger zu Siebenbürger weitergegeben. Ich hatte Angst um mein Pflänzchen und versuchte, es zu vermehren und an unterschiedliche Gartenfreunde weiterzugeben. Irgendwann merkte ich, dass es Estragon war. Noch später entdeckte ich, dass es Französischen Estragon gibt, der unserem Pfefferkraut im Geschmack vollkommen gleicht. Das entlastete mich gewaltig, denn nun hatte ich keine Angst mehr um mein Pfefferkraut.
Gerhild Wächter: Lichttanz, 2020. ...
Gerhild Wächter: Lichttanz, 2020.

Glockenerbe

Von meinem Schwiegervater habe ich eine Ziegenglocke bekommen, von der ich dachte, es sei eine Kuhglocke. Eigentlich habe ich mich nie mit Glocken beschäftigt. Nun tat ich es und staunte, wie viel Glockenvergangenheit sich in meinen Kisten versteckt. An diesem Ort konnten die Glocken nicht ewig ruhen. Behalten oder sich verabschieden, hieß das Aufräummotto.

Es rückte eine Glocke nach der anderen ins Visier: Eine Ziegenglocke, einige Christbaumglocken, eine Pferdeglocke. Dabei war mein Glockenhorizont, mein Glockenbewusstsein bisher sehr beschränkt – reduziert auf eine Kirchturmglocke.

Eines Tages nahm ich eine Kuhglocke mit ins Altenheim, um meinem Vater einen Heimatton zum Geburtstag zu schenken. Für mich war es eine Kuhglocke. Nun erzählte mein Vater seine Glockenerlebnisse. Die Pferde seines Urgroßvaters hatten diese Glocke am Zaum getragen. Mein Vater hatte das Zaumzeug lange aufbewahrt, ehe er sich wegen der Auswanderung schweren Herzens von ihm trennen musste. Nun hielt er die Glocke in den Händen und läutete. Er strahlte, und seine stolze Freude erfüllte den Raum. Urgroßvater wurde für ihn lebendig. Mein Vater erinnerte sich an die Winterzeit, als die Pferde vor den Schlitten gespannt wurden und die Kinder einsteigen durften, um damit durch die Straßen zu jagen. Oft hatte die Glocke Passanten gewarnt, hatte Aufmerksamkeit gefordert, Leute gezwungen, rechtzeitig den Weg freizugeben. Die Glocke hatte viele Erinnerungen erklingen lassen, auch wenn die Pferde schon längst davongaloppiert waren und sie nun schon mehreren Generationen als Christkindglocke gedient hatte. Sie bescherte mehr als nur Weihnachtsgeläut. Ihr Klang schüttelte Erinnerungen in den Raum.

So klärte sich mein Irrtum auf: Die Kuhglocke war eine Pferdeglocke, die später zur Weihnachtsglocke wurde.

Würde sie sich irgendwann in eine Museumsglocke verwandeln?

„Ist es erlaubt zu spritzen?“

„Ist es erlaubt zu spritzen?“ Das war die Frage, die Mädchen und Frauen gestellt wurde. Sie war mit einem „Ja“ zu beantworten. „Die Spritzer“ waren Jungen und Männer. Sie zogen ihr Parfümfläschchen heraus und bespritzten die Frauenhaare damit. Dafür wurden die Jungen mit bunten Eiern, die Männer mit alkoholischen Getränken bedient. Das war gelebte Tradition. Ich erinnere mich an die Legende, dass Frauen wie Blümlein seien und von den Männern bespritzt werden sollten. Das diene der Schönheit und Gesundheit. In meiner Kindheit machte ich mir wenig Gedanken darüber, dass ich das Spritzen nicht mochte und die Stunde herbeisehnte, in der ich endlich meine wildduftenden Haare waschen durfte. Der Gestank war unerträglich, manche Parfümspritzer zwickten in meinen Augen.

Als es zu wenig Eier gab, wurde es problematisch. Sie wurden aufgespart. Sie wurden zur Ostersorge. Ich hatte immer genug bunte Eier, da mein Bruder auch ein Spritzerjunge war. So konnte ich seine erspritzten Eier weiter verteilen. Nur die ganz besonderen, z.B. mit Abziehbildern, oder die außergewöhnlich schön gefärbten behielten wir. Wirtschaftsbedingt hatten wir alle keine Eier mehr. So wurde es üblich, den Spritzerjungen Geld zu geben. Daraufhin kamen Horden von Unbekannten vor meine Tür. Um das zu umgehen, blieb mir nichts anderes übrig, als allen willkommenen Spritzern im Vorfeld nur den Einlass durch das Garagentor zu verraten. Für Fremde blieb die Eingangstür verschlossen.

Ich bot Kartoffelsalat und Sauergurken an, was auf Wohlwollen stieß und weitere Kreise zog. Ich wunderte mich über die große Anzahl von Spritzern, die zum Essen kamen, obwohl ich Kartoffelsalat und Sauergurken statt wie üblich nur Alkohol anbot. Der Ostermontag wurde zunehmend zu einem sehr anstrengenden Tag – physisch, psychisch und materiell.

Eier zu kaufen wurde immer schwieriger. Traf man beim Einkaufen oder Spazierengehen unerwartet auf eine Eierschlange, stellte man sich selbstverständlich an und kaufte, so viel man nur erstehen konnte. Da es keine Eierkartons gab, wurden die Eier in alles Verfügbare gepackt. Der Transport in Taschen und mit bloßen Händen wurde zum regelrechten Eiertanz. Dabei traten immer wieder Schäden auf und man achtete darauf, die Bruchstelle so zu legen, dass wenig Eiweiß auslief.
Gerhild Wächter: Schattentanz, 2020. ...
Gerhild Wächter: Schattentanz, 2020.

Verwandlung

Ständig war ich auf der Suche nach Möglichkeiten und Wegen, mir Wünsche, Träume, Bedürfnisse zu erfüllen. Ich lernte, Umwege zu gehen, Hintertüren zu suchen, Schlupflöcher aufzuspüren.

Als ein Freund auswanderte, ließ er eine seiner „heimlichen Türen“ für mich offen und führte mich auf einen „Schleichweg“. So kam es, dass ich der Verkäuferin in der Philatelie vorgestellt wurde. Von nun an ging ich einmal wöchentlich in den Laden. Die Verkäuferin nannte mir eine Geldsumme, die ich anstandslos zahlte. Dafür ging ein Briefumschlag mit fünf Sätzen neu erschienener Briefmarken über den Ladentisch. Anfänglich geschah dies mit wenigen Worten, später fassten wir Vertrauen zueinander und tauschten Informationen aus.

Die Briefmarken verpackte ich sorgfältig, indem ich sie in ein gefaltetes Briefpapier schichtete. Dazwischen schob ich Indigopapier, das ich auf die Größe eines Briefumschlags zugeschnitten hatte. Das Indigo- oder Kopierpapier war schwer zu bekommen. In Ermangelung neuen Papiers behalf ich mich mit gebrauchtem aus dem Papierkorb eines Sekretariats. Diese Briefe schickte ich jahrelang einem Unbekannten nach Dresden. Er bestätigte jeden erhaltenen Brief gewissenhaft und notierte den Wert der Briefmarken. Auf diesem Weg konnte ich Ost-Mark sparen.

Als eine Freundin in die DDR reiste, bat ich den unbekannten Briefmarkenfreund, mir ein Weitwinkelobjektiv zu besorgen. Er tat es und überreichte es der Reisenden. Als ich das Objektiv in der Hand hielt, fühlte ich nicht nur Glück, sondern staunte über das Ermöglichte. Jahrelang hatte ich fast mein gesamtes Einkommen in Briefmarken gesteckt und an einen völlig Fremden geschickt. Ich hatte blindes Vertrauen gehabt und absolute Risikobereitschaft. Das konnte nur aus der Not heraus entstehen, da das rumänische Geld keine Kaufkraft besaß. Mehr als zehn Jahre lang tat ich das und hatte damit eine beachtliche Summe Ost-Mark angesammelt. Als ich auswanderte, fielen die Grenzen, und so vollendete sich ein Transformationswunder: Aus Lei waren wandernde Briefmarken geworden, die zu Ost-Mark wurden und sich schließlich in West-Mark verwandelten.

JA HUT

ja zum tag
der ist
wie keiner mehr

ja mit allem
was kommt
sichtbar
unsichtbar

ja zum hüten
ja zum fassen
ja wenn’s umgeht
voll ist
bis zur schnur

ja wenn er
alt ist
ja auf papier
nicht nur ein wort
ja
(2020)

Schlagwörter: Kunst, Wächter, Scherenschnitt, Atelier, Lebendige Worte, Kronstadt

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