21. August 2022

Merk-würdiger Spiegel: Ein Offenbacher über die siebenbürgisch-sächsische Lebenswelt der Zwischenkriegszeit

Als sich die Feintäschner (Portefeuilleure) Friedrich Müller und Josef Disser aus Offenbach am Main 1925 von ihren Ruderclub-Kollegen verabschiedeten, um eine Arbeitsstelle bei der siebenbürgisch-sächsischen Lederwarenfabrik Georg Göbbel & Co. in Zeiden anzutreten, hörten sie die Vorhersage: „Mehr als ein halbes Jahr haltet ihr es ja dort doch nicht aus!“ Es wurden zehn Jahre, in denen „das Schicksal für meine weitere Zukunft einen entscheidenden Einfluss nahm“, wie Friedrich Müller in seinen 1958 fertiggestellten Memoiren festgehalten hat.
Ida, geb. Stolz, und Friedrich Müller als ...
Ida, geb. Stolz, und Friedrich Müller als Brautpaar mit Kranzeln, 1928. Fotos: Album Friedrich Müller, Digitalisate der Zeidner Nachbarschaft
Das Jahrzehnt in Siebenbürgen bezeichnet er als eines der „schönsten Erlebnisse und Erinnerungen meines Lebens.“ Die Zeidner Nachbarschaft hat nun Müllers Tagebuchaufzeichnungen, in der Bearbeitung von Heidenore Glatz und Carmen B. Kraus, mit einer Einleitung von Udo Buhn und einem Nachwort von Georg Aescht als Band 2 ihrer neuen Schriftenreihe „Zeidner MERKwürdigkeiten“ herausgegeben.

Merk-würdig sind diese Aufzeichnungen allemal. Sie beschreiben authentisch, aus der Sicht eines Handwerkers aus Deutschland, die Verhältnisse in Siebenbürgen und im Banat in der Zwischenkriegszeit, insbesondere das Wirtschafts-, Kultur- und Gemeinschaftsleben der „aufstrebenden Gemeinde und angehenden Stadt“ Zeiden. Zunächst wird die Zugfahrt über Wien und Budapest nach Kronstadt anschaulich beschrieben, dann die gastfreundliche Aufnahme in Zeiden. Der Natur widmet Friedrich Müller eine besondere Aufmerksamkeit, beschreibt die Tier- und Vogelwelt Siebenbürgens, die – gelegentlich abenteuerlichen und gefährlichen – Wanderungen auf den Butschetsch, den Schuler, die Zinne und natürlich auf den Zeidner Berg, auch seine Teilnahme an den Internationalen Schwimmmeisterschaften in Sächsisch-Regen (1927). Äußerst wertvoll ist Müllers Dokumentation des Zeidner Gemeinschaftslebens: des Kirchgangs, der Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse, der Vereine (besonders des Turn- und des Verschönerungsvereins), der Kränzchen, der Maskenbälle, der Erweiterung des Waldbades in freiwilliger Arbeit. Liebevoll beschreibt er „unseren wunderbaren Hochzeitstag“ mit der Zeidnerin Ida, geborene Stolz. Um sich einen Begriff von den Ausmaßen einer solchen Feier zu machen: Damals wurden unter vielen anderen zwei Schweine, zwei Kälber, 182 kg Rindfleisch und 38 Hühner, dazu 50 kg Butter, 230 kg Zucker, 760 Eier, 60 verschiedene Torten verspeist und nicht weniger als 650 Liter Kokeltaler Wein, aber „nur“ 350 Flaschen Bier getrunken! (S. 76)

Das „sächsische bäuerliche Leben“ auf dem Zeidner Stolzen-Hof bietet ihm Gelegenheit, die wirtschaftlichen Verhältnisse eines siebenbürgisch-sächsischen Landwirts eingehend und sozusagen aus erster Hand zu beleuchten. Allein der Schwiegervater verfügte als Landwirt über eine Sämaschine, eine Mähmaschine, einen Garbenbinder, zwei große Eggen, mehrere Ackerpflüge, drei große Leiterwagen und vieles mehr. „Der Bauer muss über das ganze Jahr nach einem gut eingeteilten Plan arbeiten. Nur durch die mit großem Fleiß verbundenen schweren körperlichen Arbeiten kann er sein gesetztes Jahresziel erreichen.“ (S. 89) Doch auch Bestechungen gehörten damals leider zum Alltag, sei es die eines Dorfpolizisten, sei es die von rumänischen Ministern, Erlebnisse, die Müller völlig neu waren und die er humorvoll-kritisch anspricht. Weniger gelungen sind die Betrachtungen über das sozial-politische Leben der Siebenbürger Sachsen im Rumänien der Zwischenkriegszeit. Müller hat die Situation nicht immer richtig eingeschätzt und hätte sich etwa die Kritik am Abgeordneten Hans Otto Roth ersparen können.

Die zahlreichen Abbildungen, ausnahmslos den Aufzeichnungen und Alben Friedrich Müllers entnommen, bereichern den Band um wiederum sehr authentische zeitgenössische Aufnahmen von Zeiden, seinen Menschen, deren Alltag und deren Feiern. Und auch Ausflugsziele in der Umgebung werden in meist zeitgenössischen Fotos und Postkarten festgehalten.

Friedrich Müller berichtet „mit stets freundlich staunenden, oft großen Augen, aber nie blauäugig“ (Georg Aescht, S. 139), er beschreibt Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen aufgrund eigenen Erlebens und hellwacher Beobachtungen. Die Erinnerungen waren nicht für die Veröffentlichung, sondern für seine Nachkommen bestimmt, in der ihm eigenen, einfachen, aber treffsicheren Sprache geschrieben. Umso mehr sind sie ein authentisches Dokument, das die Kenntnisse über die Siebenbürger Sachsen, besonders über die Zeidnerinnen und Zeidner bereichert.
Blick auf das Hotel Schwarzburg durch das ...
Blick auf das Hotel Schwarzburg durch das historische, inzwischen verschollene schmiedeeiserne Tor am alten Rathaus (heute Museum der Traditionen) in Zeiden.
Die Bearbeiterinnen haben bei der Edition größte Sorgfalt walten lassen, die von Respekt gegenüber dem Autor ebenso zeugt wie vom Bemühen, kleinere Schreib- und Sachfehler sanft zurechtzurücken. Sie heben nebenbei hervor, dass die gendergerechte Sprache nicht von ihnen eingefügt wurde, sondern Friedrich Müllers „Respekt vor den Menschen, ihrer Geschichte und ihrem Wirken ausdrückt.“ (S. 9) Sie erklären auch überzeugend, warum sie das Z-Wort als Bezeichnung für die Roma Siebenbürgens nicht aus den Aufzeichnungen Müllers getilgt haben. Und Georg Aescht weist in seinem Nachwort auf den Überschwang hin, auf die „Flut der vorgefertigt aus dem ‚Reich‘ mitgebrachten Superlative, die Müller bedenkenlos wieder und wieder (über)schäumen lässt“ (S. 139), wenn er die Siebenbürger Sachsen als besondere Deutsche charakterisiert.

„Überzeugen Sie sich selbst und lassen Sie sich genauso begeistern wie wir“, fordern die Bearbeiterinnen die Leser einleitend auf. Der Rezensent überzeugte sich selbst und ist nach dem Lesen dieses Buches begeistert.

Konrad Gündisch

Friedrich Müller: „Mein Zeidner Jahr­zehnt. Tagebuchseiten eines Fein­täschners aus Offenbach am Main 1925-1935 in Siebenbürgen in Rumänien“. Bearb. Heidenore Glatz, Carmen B. Kraus. Hg. Zeidner Nachbarschaft. Köln 2022, Schriftenreihe: Zeidner MERKwürdigkeiten, Band 2, 143 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 16,00 Euro, ISBN 978-3-9819831-1-1, erhältlich im Buchhandel oder unter www.zeiden.de.

Schlagwörter: Zeiden, Offenbach, Erinnerungen, Buch, Geschichte

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