Im Anfang war das Lied: Hermannstadt-Anthologie „Im Schnee der Erinnerungen“ auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt
„Hermannstadt, ach Hermannstadt …“ Unter diesem Motto durfte sich die von der Hermannstädter Heimatgemeinschaft und ihrer Vorsitzenden Dagmar Dusil herausgebrachte und im Pop Verlag Ludwigsburg erschienene Anthologie „Im Schnee der Erinnerungen“ auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse präsentieren. Für das einstündige Event vom 29. März auf der Bühne des rumänischen Standes hatte Verlagsinhaber Traian Pop gesorgt. Glücklich über dieses Privileg bedankte sich die mit ihren Lesungen im deutschsprachigen Raum bekannte Autorin und Herausgeberin Dagmar Dusil bei ihrem nicht minder rührigen Verleger. Damit war die kleine, aber höchst anregende Gesprächsrunde eröffnet.
Die Ruhe vor dem Sturm: Dagmar Dusil mit Autor und Liedermacher Hans Seiwerth am Stand des Pop Verlages in Halle 4, kurz vor Einlass. Foto: Konrad KleinZunächst allerdings sorgte Liedermacher Hans Seiwerth mit Gitarre und Mundharmonika für ein bisschen Heimat-Feeling beim Publikum. Mit altem und neuem, auch rumänischem Liedgut gelang ihm das trefflich: „Dorule“, „Der Jang Wåld“ (Der Junge Wald, anonym, vor 1799), ein sinniges Brücken-Medley („Podul de piatră s-a dărâmat“, gefolgt von „Goldne, goldne Brücke, wer hat sie denn zerbrochen“) und Rudolf Neumeisters „Gipfel der Karpaten“.
Dann war Moderator Gert Weisskirchen aus Heidelberg an der Reihe, sozusagen Traian Pops Geheimwaffe für Podiumsgespräche mit Tiefgang. Und in der Tat: Weisskirchen, 80, Hochschulprofessor und langjähriges Mitglied des Deutschen Bundestages (SPD-Politiker mit Osteuropaerfahrung!), moderierte klug und einfühlsam, wie es nur jemand tut, der am Gelesenen wirklich interessiert ist und nicht nur mal ins Buch hineingeschnuppert hat.
Dabei kam ihm entgegen, dass von jedem der drei Teile der Anthologie (Hermannstadt: Dokumentiert – Erinnert – Recherchiert) ein Autor anwesend war. So Jürgen Schlezack, der beim Kapitel „Dokumentiert“ manches weniger Bekannte zum Wasserlauf des Zibins und seiner Nebenflüsse in der „Wasserstadt“ Hermannstadt referierte. Besonders interessant jene Jahre, als der Zibin auf dem Abschnitt Gura Râului-Hermannstadt über einen Kanal nach Projekten des bekannten kaiserlichen Festungsbauers G. M. Visconti 1703 schiffbar gemacht wurde – zwei Jahrzehnte vor dem Bega-Kanal; Hermannstadt als Hafenstadt – na ja, zumindest einige Jahrzehnte lang (die Geschichte des Schifffahrtskanals hatte erstmals Stadtarchitekt O. Czekelius recherchiert und im Neuen Weg vom 5.9.1976 mitgeteilt; wieder abgedruckt in „Otto Czekelius, Schriften aus dem Nachlass“, herausgegeben von Brigitte Stephani, Bukarest 1985, S. 136f.). Nur bei Überschwemmungen der Unterstadt war man sich nicht einig, dabei sind jene von 1934, 1970 und 1975 vielleicht noch manchen in Erinnerung (der Autor dieser Zeilen besitzt Bilder der „venezianischen“ Zustände von 1934, aufgenommen aus dem Boot von Emil Fischer).
Moderator Gert Weisskirchen im Gespräch mit der Anthologie-Herausgeberin Dagmar Dusil. Zu den interviewten Autoren gehörten auch Jürgen Schlezack und Konrad Klein (v.l.). An der Gitarre Hans Seiwerth (nicht auf dem Foto). Foto: Thomas Panitzky
Das Kapitel „Erinnert“ erfüllte Hans Seiwerth mit Leben, originellerweise in vertonter Form. Sein Lied „Bräuhausgasse meiner Kindheit“ beschwört detailreich Bilder und Szenen aus Kindertagen im ungewöhnlichen Umfeld seines Elternhauses in der Bräuhausgasse/Berăriei, dessen Innenhof jener der bereits in der Zwischenkriegszeit stillgelegten Thomasbräu mit ihren beiden Schloten war (ehedem Habermann’sche Dampfbierbrauerei). Das Lied hatte Hans erstmals 2023 bei der Vorstellung von Dusils erster Hermannstadt-Anthologie „Mit Erinnerungen gepflastert“ gesungen, woraufhin ihn diese bat, aus dem Lied auch einen Prosatext zu machen – der nun im zweiten Band nachgelesen werden kann.
Erst jüngst mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet: Traian Pop, geboren 1952 in Kronstadt, Büchermacher und Herausgeber der Zeitschriften Matrix und Bawülon, an seinem diesjährigen Stand auf der Leipziger Buchmesse. Im Hintergrund seine aus Hermannstadt stammende Ehefrau Maria-Dorina. Foto: Konrad Klein
Zuletzt wandte sich Gert Weisskirchen Konrad Klein zu, dem die Herausgeberin für seinen umfangreichen Beitrag den dritten Teil der Anthologie zugedacht hatte. Der Moderator zeigte sich von der fundierten Recherche sehr angetan, zumal er auch interessante zeitgeschichtliche Persönlichkeiten streift. So entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch über das Viertel Rosenfeldgrund, in dem der Autor aufgewachsen ist, und zwei der dort lebenden Familien: Plattner und Himmelfarb. Er nutzte die Gelegenheit, um etwa zu erwähnen, dass der Vater von Hasso Plattner (bekanntlich der Mitbegründer des Softwarekonzerns SAP), nämlich Dr. med. Horst Plattner (†2001), einst die Schulbank des Brukenthal-Gymnasiums gedrückt hatte und 1936 sogar eine zackige Coetuskarte der Arminia Cibinensis, Wahlspruch „Per Aspera ad Astra“, entworfen hatte (abgebildet in Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde, H. 2/1997, S. 183; als Zeichen seiner Verbundenheit mit Hermannstadt spendete Hasso Plattner 2018 4,2 Millionen Euro für die dortige Lucian-Blaga-Universität, https://www.hermannstaedter.ro/2018/07/42-millionen-euro-spende). In Berlin sei er dann ein angesehener Augenarzt gewesen, zu dessen Patienten auch beispielsweise Willy Brandt gehört habe. Sehr interessiert zeigte sich Weisskirchen auch an der Person des aus dem ukrainischen Melitopol stammenden „Halbjuden“ Gregor Himmelfarb, Teilhaber der Presshefefabrik „Vita“, die der Dreieichenbrauerei angegliedert war. Seine zwischen Kafka und Kishon angesiedelten Erinnerungen an seine Flucht über die grüne Grenze Richtung Israel sind Abenteuer pur (postum herausgegeben von Hans Hartl unter dem Titel „Fallen, Finten und Finessen“, München 1981).
„Hauptdisziplin Schlangestehen“ (Süddeutsche Zeitung) auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse: Liedermacher und Autor Hans Seiwerth (re., blauer Anorak) zog am Samstagmorgen neidvolle Blicke auf sich. Wohl dem, der wie wir die Akkreditierung eines Verlages hatte. Foto: Konrad Klein
Für den Schlussakkord sorgte einmal mehr Meister Seiwerth mit seinen „Spätsommerlichen Schatten“. Sie wurden lang und länger, und als das Lied in Moll (was sonst) verklungen war, fiel mir ein, dass ich „den siebenbürgischen Reinhard Mey“ vor genau 52 Jahren den Lesern der Woche in Hermannstadt unter dem schönen Mey-Wort „Vom Wind, vom Regen, von der Zeit“ vorgestellt hatte. Tempus fugit, bei Gott. Und unsere Stunde am rumänischen Stand mit dem weltgewandten Herrn Weisskirchen war nun leider ebenfalls um.
Was mich als langgedienten Deutschlehrer auf der Messe vielleicht am meisten faszinierte, waren die vielen Gruppen von Cosplayern und Cosplayerinnen. Sie waren allgegenwärtig und selbst in der Stadt unterwegs: farbenfroh und oft schrill kostümierte Charaktere aus Mangas, Comics, Videospielen und Filmen. Die Manga-Comic-Con (MCC) ist sogar offizieller Teil der Leipziger Buchmesse; zweifellos die angesagteste Art für junge Leute, sich „ins Getümmel der Literatur“ (Eigenwerbung der MCC) zu stürzen.
Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist
nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.