25. Juni 2006

Bedeutender medizinischer Aufklärer: Michael Gottlieb Neustädter

Michael Gottlieb Neustädter (1736-1806), Landes-Chefarzt Siebenbürgens, fiel vor 200 Jahren dem Typhus zum Opfer. Der an den besten Universitäten seiner Zeit ausgebildete Arzt ließ sich in Hermannstadt, in der damaligen Landeshauptstadt Siebenbürgens, nieder und erwarb sich durch seine hohe Kompetenz, humanitäre Art und hingebungsvolle Behandlung seiner Patienten besten Ruf. Zum Landes-Chefarzt und kaiserlichen Sanitätsrat aufgestiegen, setzte er sich für die Modernisierung der Sanitätsverhältnisse (Apotheken-, Kreis- und Stadtarztwesen) seiner Heimat ein und trug durch seine Publikationen wesentlich zur medizinischen Aufklärung seiner Mitbürger bei.
Michael Neustädter gilt als eine der hervorragendsten Ärztepersönlichkeiten des 18. Jahrhunderts und als Vorbild für folgende Medizinergenerationen im Karpatenbogen.

Der Bürgersohn Michael Gottlieb Neustädter kam am 7. September 1736 in Schäßburg zur Welt und besuchte die Schulen seiner Heimatstadt und das calvinisch-reformierte Colleg (Gymnasium) zu Neumarkt am Mieresch (Marosvásárhely, Târgu Mureș). Seine Hochschulstudien begann der Siebenbürger Sachse 1756 an der ein Jahr zuvor vom berühmten kaiserlichen Leibarzt, Gelehrten und Sozialreformer Gerard van Swieten (1700-1772) grundlegend umstrukturierten und modernisierten Universität Wien, wo er unter anderen den berühmten Kliniker Anton de Haen (1704-1776) zum Lehrer hatte.
Nach vierjährigem Studienaufenthalt in der Kaiserstadt wechselte der Medizinstudent Neustädter – zumal er als Protestant an der katholischen Universität Wien damals nicht promovieren durfte – an die (lutherische) Universität zu Erlangen. Seine Immatrikulation, zusammen mit zwei weiteren „Arzneikunde“ studierenden Landsleuten (Bartholomäus Wolfgang Mylius aus Kronstadt und Johann Wachsmann aus Birthälm) an der kleinen, jedoch damals mit Halle und Göttingen zu den fortschrittlichsten Aufklärungshochschulen des deutschen Sprachgebiets zählenden Universität, datiert vom 4. Juni 1760. Hier war er Schüler namhafter Dozenten wie Kasimir Christoph Schmiedel und Heinrich Friedrich Delius. Im folgenden Jahr befand er sich bereits an der Medizinischen Fakultät zu Straßburg. Auch in der elsässischen Hauptstadt wirkten damals berühmte Professoren, allen voran Jakob Reinhold Spielmann und Johann Jakob Fried (1689-1769). Fleißig besuchte er auch die chirurgischen Vorlesungen von Le Riche im dortigen Militärspital. Selbst der Dichterfürst Goethe studierte hier (1771-1772) u. a. Jura, Medizin und Staatswissenschaften. Zwecks Promotion kehrte Neustädter doch nach Erlangen zurück, wo er durch die erfolgreiche Verteidigung seiner Inauguraldissertation: Triga casuum medico-chirurgicorum im Dezember 1762 den Doktorgrad erwarb. Er soll in Erlangen weitere sechs Monate lang jungen Medizinern Privat-Vorlesungen gehalten haben.
Michael Gottlieb Neustädter: Über die Kuhpockenimpfung (1803), Titelblatt.
Michael Gottlieb Neustädter: Über die Kuhpockenimpfung (1803), Titelblatt.
An einer universitären Laufbahn in Erlangen scheint er jedoch nicht interessiert gewesen zu sein, denn er kehrte 1763 in die Heimat zurück und praktizierte zunächst als Privatarzt in Hermannstadt. „Aus Liebe zu den Bewohnern Hermannstadts“, wie es in den Siebenbürgischen Provinzialblättern (1807) steht, schlug er Stellenangebote als Kreisarzt in Fogarasch und Mühlbach aus, nahm jedoch 1774 die Ernennung zum Stadtarzt von Hermannstadt an. Der von den Patienten und Kollegen hoch geschätzte Arzt wurde bald in die Sanitätskommission Consenssus medicorum Cibiniensium (oberste Gesundheitsbehörde Siebenbürgens) berufen und nach der Pensionierung des langjährigen Vorstands dieser Kommission, des Seuchenexperten Adam Chenot (1721-1789), fiel 1784 die Wahl des Nachfolgers auf dessen bewährten Vertreter, Michael Neustädter. Kaiser Joseph II. stellte am 22. Mai 1784 seine Ernennungs urkunde zum Landes-Chefarzt Siebenbürgens (Protomedicus Transylvaniae) aus. 1792 erhielt er sogar die hohe Anerkennung als kaiserlicher Sanitätsrat. In der offiziellen Begründung wird – laut Medizinhistoriker Sámuel Izsák (1981) – unter anderem auf seine Verdienste in der erfolgreichen Bekämpfung der Pestepidemie von 1786 im Burzenland und Kronstadt verwiesen. In seinen Funktionen wurden von ihm nicht nur höchste fachlich-medizinische, sondern auch soziale Kompetenz erwartet, mit denen er bestens ausgestattet war und sein Amt über zwei Jahrzehnte hinweg ausübte.
In seiner Wirkungszeit gab es nachhaltige sozioökonomische Veränderungen, etwa die Gesundheitsreform im Jahr 1770 (Normativum in Re Sanitatis). Allein in jener Zeit wurden mehr als 30 Apotheken in fast allen Städten und vielen Marktflecken gegründet, deren Überwachung (Visitatio) ebenfalls zu den Aufgaben des Protomedicus zählte wie auch die Besetzung der Stadt- und Kreisarztstellen des Großfürstentums Siebenbürgen, von Zillenmarkt (Zilah, Zalău) bis Kronstadt und von Diemrich (Déva, Deva) bis Bistritz. Mit mehreren eigenen Vorschriften und Veröffentlichungen (z.B. Opinio in Re Sanitatis, 1791) trug er wesentlich zu Verbesserungen und Modernisierungen im pharmazeutischen und medizinischen Sektor seines Landes bei.
Bleibende Verdienste erwarb sich Neustädter bei der Einführung und Verbreitung der so genannten Kuhpockenimpfung in Siebenbürgen (ab 1801). Kuhpocken sind eine eher milde pockenartige Viruserkrankung (Erreger: Vakzinia-Virus oder Orthopoxvirus vaccinia), die hauptsächlich Rinder befiel, die aber auf Menschen, insbesondere beim Melken, übertragen wurde. Erst 1796 beobachtete der englische Arzt Edward Jenner, dass an Kuhpocken erkrankte Menschen anschließend nicht nur gegen Kuhpocken, sondern auch gegen Pocken (Blattern) immun sind, dessen Erreger mit dem Vakzinia-Virus verwandt ist. Er prägte den Begriff Vakzination (lat. vacca = Kuh) für die Pockenschutzimpfung und wurde dadurch im Jahre 1796 zum Begründer der Immunologie. Neustädter führte selbst Vakzinationen durch und zählte mit seinen Kollegen, den Kronstädtern Georg Traugott Tartler, Joseph Barbenius, dem Hermannstädter Militärchirurg Joseph Endlicher, dem Klausenburger Stadtarzt Ferenc Nyulas, dem Neumarkter Stadtarzt József Szotyori, dem Großenyeder Sámuel Váradi – um nur einige Namen zu nennen – zu den Pionieren des Impfens. Diese neuartige vorbeugende medizinische Maßnahme rettete das Leben zahlreicher Menschen vor Pocken und somit konnte das erste Mal in der Geschichte eine lebensbedrohliche Erkrankung sicher verhindert werden. Der Medizinhistoriker Arnold Huttmann schreibt Neustädter auch noch die Erkenntnis zu, dass dieser bereits 1787 die beiden Geschlechtskrankheiten Tripper (Gonorrhö) und Lues (Syphilis), für zwei verschiedene Erkrankungen hielt und, vermutlich als Erster in Siebenbürgen, auf unterschiedliche Art und Weise behandelte. Damit ist er dem damals noch kleinen Lager der so genannten „Dualisten“ zuzuordnen, die etwa seit 1767 die selbe Auffassung vertraten. Erst 1838 konnte Philippe Ricord die herrschende Lehrmeinung über die „Einheitstheorie“ endgültig widerlegen.
Der Landeschefarzt Neustädter war nicht nur ein fortschrittlicher Praktiker, sondern fand auch als medizinischer Schriftsteller Beachtung, vor allem durch seine Fachveröffentlichungen: Die Pest im Burzenlande 1786 (1793), Kupocken-Katechismus oder Anweisung über die Art, die Kuhpocken einzuimpfen (1801), Über die Kuhpockenimpfung. Ein paar Worte zur Beherzigung für die Familienväter in Siebenbürgen (1803). Seine Kuhpocken-Anweisungen wurden auch in ungarischer und rumänischer Sprache gedruckt. Erwähnung verdient noch eine weitere Veröffentlichung des Hermannstädter Arztes, nämlich ein 230 einheimische Heilpflanzen beinhaltendes Verzeichnis, das er 1795 in vier Sprachen und mit der Absicht veröffentlichte, sowohl die Kenntnisse darüber als auch deren Anbau im Lande durch die Apotheker zu fördern (Consignatio Specifica omnium Plantarum, quae in Magno hocce Principatu sponte sua crescunt). In dieser Zeit nahm das Interesse der Mediziner an der Heilwirkung heimischer Heilwässer zu. Neustädter verfasste im Geiste der zeittypischen medizinischen Aufklärung populärwissenschaftliche Beiträge zur modischen Balneotherapie und befasste sich mit den Heilquellen zu Borseck (Borszék, Borsec), Hamruden (Homoród, Homorod) und Kisszék (Sacalaia). Seine deutschsprachigen Beiträge veröffentlichte er in der Zeitschrift Siebenbürgischen Quartalschrift, die allerdings kein echter Ersatz für die damals fehlenden heimischen medizinischen Fachzeitschriften war.
Als Ironie des Schicksals könnte uns heute erscheinen, dass Michael Gottlieb Neustädter im Alter von 70 Jahren, am 5. Juni 1806 selber einer anderen Seuche, dem im Waisenhaus von Hermannstadt ausgebrochenen Typhus (febris putrida), erlag, den er fast bezwungen und damit viele Menschenleben gerettet hatte.
Die Nachwelt schätzt Neustädter als einen Mann von Format, beruflich hervorragenden, äußerst engagierten und pflichtbewussten Arzt, der „sich vor vielen Andern durch Hintansetzung jeder Bequemlichkeit bei Behandlung der Kranken und besondere Menschenfreundlichkeit aus(zeichnete)“ (Joseph Trausch, 1872), dem stets das Wohlergehen seiner Mitbürger in Siebenbürgen am Herzen lag. Durch seine „außerordentliche Humanität“ dürfte Neustädter für mehrere Arztgenerationen seiner Heimat als Vorbild gegolten haben.
Ein 1789 von Joseph Neuhauser gemaltes Potrait Neustädters befand sich noch in den 1950er Jahren in Repser Privatbesitz (freundliche Mitteilung von Konrad Klein). Wer etwas über den Verbleib des Bildes weiß, wird gebeten, sich bei der Redaktion dieser Zeitung zu melden.

Robert Offner

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 10 vom 20. Juni 2006, Seite 15)

Schlagwörter: Porträt, Medizin

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