6. Oktober 2006

Schäßburger Bergschule – Sprungbrett ins Leben

Die Idee eines Erinnerungsbandes des Absolventenjahrgangs 1955 der Schäßburger Bergschule zum goldenen Maturajubiläum 2005 war teils mit Begeisterung, teils mit Zurückhaltung aufgenommen worden, nur einige wenige haben sich verweigert. Der Band wurde mit „Bergschule – Sprungbrett ins Leben“ tituliert, und liest man die 68 recht unterschiedlichen Lebensläufe der ehemaligen Bergschüler, die den Hauptteil des Buchs ausmachen, muss man sagen: der Band hält, was er versprach, nicht zuletzt dank des Lektorats (M. Focke, geb. Orendi) sowie der Redaktion und Gestaltung (G. Heitz, geb. Leonhardt).
Die Beiträge reichen vom tabellarischen Lebenslauf über kurze, knappe Berichte in Prosa oder Vers (A. Felmer, geb. Krestel, und G. Schlesak) sowie die Wiedergaben heiterer Ereignisse bis hin zu mehrseitigen, detaillierten Biographien. Der Ton ist manchmal sachlich, oft verklärend, aber auch zutiefst emotional und – wie könnte es anders sein? – sehr nostalgisch. Es sind zum Teil gemeinsame Erinnerungen, aus 68 verschiedenen Perspektiven gesehen, erlebt, erlitten und verarbeitet. Die Lektüre der durchaus vorzeigbaren Lebensläufe („Auszeiten“ und „Durchhänger“ konnte man sich nicht leisten) dürfte auch für Außenstehende, die Anteil am Wohl und Wehe unseres Völkchens nehmen, von Interesse sein.

Bei der Lektüre wird man mit einer Fülle von zum Teil vergessenen oder verdrängten Fakten konfrontiert, von denen das Leben im Siebenbürgen jener Tage geprägt war: Flucht der Nordsiebenbürger nach dem Wiener Schiedsspruch (drei Klassenkolleginnen haben diese Odyssee mitgemacht), Russlanddeportation (ein Drittel der Eltern war betroffen), Enteignung von Betrieben, Bauernhöfen, Wohnhäusern (viele wurden auf kleinstem Raum zusammengedrängt oder wurden zu Mietern im eigenen Haus), Zwangseinquartierungen (zuerst von Soldaten, dann von Flüchtlingen, so genannte „refugiati“ und von „Kolonisten“, auf dem Lande auch erzwungene „Wohnungstausche“ mit Zigeunern vom Dorfrand), Zwangswohnsitze bis hin zum Landesverweis. „Wir waren rechtlos, ehrlos, besitzlos und ohne Freiheit“, heißt es in einem Text. Für viele Kinder war es das Ende der Kindheit: Sie wuchsen bei Verwandten auf, wurden zu Halbwaisen oder Waisen, und vier Mitschüler aus der Grundschule reisten bereits zwischen 1949 und 1961 zu ihren unbekannten Vätern nach Deutschland (Ost oder West) und Österreich. Trotzdem berichten einige auch über Lichtblicke während dieser Kindheit, die keine war, und ein Beitrag trägt den Titel „Gute Zeiten in schlechten Zeiten“.

Die Besonderheit unseres gemeinsamen Werdegangs besteht darin, dass die 1938 Geborenen (wie auch die Jahrgänge 1937 und 1939) „Opfer“ verschiedener Umstrukturierungen des rumänischen Schulsystems wurden, die letztendlich zur Verkürzung des Gymnasiums auf zehn Schuljahre führte, d.h. Reifeprüfung nach der Klasse X. Es war ein Projekt nach dem Motto: „Wenn es in Moskau regnet, spannen wir die Regenschirme auf“. Einige unserer Schäßburger Klassenfreunde haben in zehn Jahren sechsmal die Schule gewechselt. Wir waren der erste Jahrgang, an dem 1948 die Koedaukation erprobt wurde und der in der Klasse IV schon Russisch lernen musste. Und es gab noch eine weitere Besonderheit: Unser Katalog der Klasse V an der Bergschule las sich wie das „Who is who?“ all derer, die in Schäßburg einmal Rang und Namen gehabt hatten (von Adleff bis Zimmermann), d.h. 25 Prozent hatten eine „ungesunde“ soziale Herkunft und durften nach der Klasse VII keine weiterführende deutsche Schule besuchen, geschweige denn die Reifeprüfung ablegen. In einigen wenigen Fällen kam diese Einschränkung erst nach dem Abitur zum Tragen, und um an einer Hochschule zu inskribieren, reihte man sich auf möglichst niedrigem Niveau in das Heer der Arbeitenden ein und schuf sich damit eine eigene „gesunde“ soziale Herkunft.

Eine andere große Hürde war die Beherrschung der deutschen Hochsprache. Es fehlte oft an deutschsprachigen Klassen, vor allem im ländlichen Raum. 20 unserer Mitschüler haben zwischen einem und acht Jahren rumänische Schulen besuchen müssen. Ein Mitschüler bat seinen Vater in einem rumänischen Brief, ihn von der deutschen Schule zu nehmen, da er dort nichts verstünde. Er hat später eine verantwortliche Stelle im Regierungspräsidium in Stuttgart bekleidet. Alles in allem muss man sagen, dass trotz dieser Schwierigkeiten und der verkürzten Schulzeit die Lebensberichte im Erinnerungsband fast durchwegs in gutem, manchmal sogar literarischem Deutsch abgefasst sind. Angesichts dessen, was uns heute die Presse beschert, wo sich Journalisten im semantischen Dschungel zwischen Deutsch und „Denglisch“ verirren, ist unser Jubiläumsband auch aus sprachlicher Sicht eine Leistung, die wir voll und ganz der Bergschule und ihren Lehrern verdanken.

Als an der Bergschule 1952 noch das Lehrerseminar existierte, gab es gleichzeitig je eine deutsche Klasse am rumänischen Jungen- und Mädchenlyzeum. Hier wurden wir vorwiegend von deutschen aber auch von rumänischen Lehrern unterrichtet, und hier prallten Kulturen und Überlieferungen zusammen. Das gipfelte in einem geschlossenen Streik der Jungenklasse, die am evangelischen Ostermontag des Jahres 1954 dem Unterricht fern blieb, um „bespritzen“ zu gehen, und wo, trotz des Einsatzes von „Sonderkadern“, die Rädelsführer nicht ermittelt werden konnten. Besagte Episode taucht in mehreren Biographien auf, und es ist belustigend zu lesen, wir stolz die heute 67-Jährigen auf ihre damalige „Heldentat“ und vor allem auf die Solidarität innerhalb der Klassengemeinschaft immer noch sind. Es war nicht nur ein Lausbubenstreich, sondern sichtbares Zeichen der Doppelmoral, in die wir als Minderheit hineingewachsen sind und die für uns (über-)lebenswichtig war. Wir konnten gut trennen zwischen dem, was in der Familie und vor den deutschen Lehrern, am besten unter vier Augen, und was vor der Obrigkeit und ihren Vertretern gesagt werden durfte. Die rumänischen Lehrer zählten für uns zu den Vertretern der Obrigkeit, obwohl wir, aus heutiger Sicht, einigen damit sicherlich Unrecht getan haben.

Nach zwei Jahren wurden die beiden Klassen von den rumänischen Lyzeen wieder zusammengeworfen, neu geteilt und nun als gemischte Klassen an der Bergschule zum Abitur geführt. Die räumliche Abgeschiedenheit da oben im Schatten der Bergkirche lieferte das besondere Ambiente für die besondere Kultur, die dort gedieh. D. Hügel und A. Felmer, geb. Krestel, haben das in zwei gelungenen Beiträgen gewürdigt. Denn die Bergschule war nicht einfach eine Schule auf dem Berg, in idyllischer Lage, von wo man weit ins Land blicken konnte, sondern hier herrschte der so oft beschworene besondere Geist, von dem vorher Generationen von Schülern geprägt worden waren und den unsere Lehrer zu bewahren und weiterzugeben verstanden haben. Ich zitiere: „Obwohl der Kommunismus voll etabliert war und unsere Schulbücher dem entsprachen, ragte unsere Bergschule wie eine Insel aus all dem heraus, was da an ihr Gestade gespült wurde.“

Viele Ehemalige sind der Ansicht, dass selbst im Vergleich zu anderen deutschen Schulen im Rumänien jener Zeit der Gemeinschaftsgeist, die Gelegenheit zu menschlichen Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern wie auch das Niveau und die Vielfalt der kulturellen Möglichkeiten und Betätigungen einmalig waren. Das Internat in der Schaaser Gasse, als Teil dieser Gemeinschaft, wird von einer Klassenkollegin sogar als „das Paradies auf Erden“ bezeichnet, obwohl in den Schlafräumen bis zu 15 Betten standen.
Und nach dem Absprung? Beruflich ist kaum einer gestrauchelt. Fünfzehn haben einen Hochschulabschluss gemacht, viele eine technische Ausbildung, am überzeugendsten aber ist, dass viele am Arbeitsplatz in leitende Positionen aufgestiegen sind, einzige Grundlage: Absolvent der X. Klasse an der Bergschule zu Schäßburg.

Und wie geht es uns heute, da wir alle im wohlverdienten Ruhe- oder Unruhestand sind? Einem Mitschüler fällt dazu folgendes Goethezitat ein: „Man kann die Erfahrung nicht früh genug machen, wie entbehrlich man in der Welt ist.“ Das materielle Gefälle zwischen Ost und West ist für die vier ehemaligen Mitschüler, die immer noch in Schäßburg leben, kein Grund zu jubilieren, und in einem Fall findet die Verbitterung ihren Niederschlag in einer gelungenen Persiflage auf die eigene Biographie. Alle anderen haben früher oder später den Neuanfang gewagt und sind „noch einmal durch das Fegefeuer gegangen“, um in der Bundesrepublik Fuß zu fassen. Zwölf haben eine Umschulung oder Weiterbildung gemacht und drei haben sich noch ein Zweitstudium zugetraut. Dank der vielfältig zerredeten „Sekundärtugenden“ haben es die meisten zu etwas Wohlstand und sogar Ansehen gebracht, und unsere Schule war der Grundstein, auf den man aufbauen konnte.

Soweit unsere Mitschüler über ihre Familien berichten, viele sind schon Großeltern, fällt auf, dass diese „Sekundärtugenden“ auch in der Kindergeneration zum Tragen kommen. Alle haben eine berufliche Ausbildung, es gibt überdurchschnittlich viele Akademiker unter Jungen (allein vier Ärzte werden erwähnt, zwei Rechtsanwälte, viele Lehrer und Ingenieure, sogar einer für Raumfahrt, Informatiker und ein Hochschulprofessor für Mathematik, dazu Journalisten und Verwaltungswissenschaftler). Die meisten leben in geordneten Verhältnissen, was heute nicht mehr selbstverständlich ist. Die Saat ist also aufgegangen, wenn auch nicht im Herkunftsland.

Sigrid Kotschick, geb. Weber


Der Erinnerungsband ist zum Preis von 22 Euro, einschließlich Versandgebühren, zu bestellen über Arch. D. Hügel, Salzburger Straße 32 in 83301 Traunreut, Telefon: (06 69) 52 24, E-Mail: architekt-hügel@gmx.de.

Schlagwörter: Rezension, Schäßburg, Schulgeschichte

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