3. April 2009

„Lebenswelten im Sozialismus“

Ziel der Tagung „Lebenswelten im Sozialismus“, die vom 22. bis 27. Februar von 35 Teilnehmern, vor allem Siebenbürger Sachsen aus Deutschland, der Schweiz und Luxemburg besucht wurde, war es, sich die unterschiedlichen „Lebenswelten“ von Individuen, ethnischen oder beruflichen Gruppen im Sozialismus zu vergegenwärtigen. Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft – frühere politische Häftlinge genauso wie „Normalbürger“ – berichteten von ihren Erfahrungen, die sehr präsent sind und bis heute nachwirken, und reflektierten sie.
Im Mittelpunkt des Beitrages des aus dem Banat stammenden Soziologieprofessors Anton Sterbling standen die grundsätzliche Klärung des theoretischen Konzeptes „Lebenswelten“, das der Phänomenologie entstammt, und ihre Anwendung auf die Geschehnisse im Sozialismus. Um den Umgang mit Schuld von Opfern und Tätern bei politischen Prozessen gegen Angehörige der deutschen Minderheit in Rumänien („Schwarze-Kirche-Prozess“ 1958, Schriftstellerprozess 1959 u. a.) ging es in dem Dokumentarfilm des österreichischen Regisseurs Walter Wehmeyer: „Von der Macht der Verdächtigungen“ (2008). In Wehmeyers Film kommen in Zeitzeugengesprächen mehrere ehemalige politische Häftlinge zu Wort. Sie sprechen über ihre Erinnerungen, Schuldvorwürfe und Vergebung der Schuld. Ebenso werden wissenschaftliche Dokumentationen aufgrund von Gerichtsakten und Gesprächen mit ehemaligen Geheimpolizeioffizieren und Verhörführern, die zum Teil mit verdeckter Kamera geführten wurden, präsentiert. Der Regisseur variiert die Perspektiven, lässt so das „Gift der Verdächtigungen“ und lebenslange Leid der Opfer sichtbar werden, ohne dabei Partei zu ergreifen. Zwei der Zeitzeugen haben ihre Erinnerung an Prozess und Haft aufgeschrieben und während des Seminars präsentiert.

Als Erster berichtete Ernst-Peter Hönig über den „Schwarze-Kirche-Prozess“, der gegen insgesamt 20 Angeklagte, 19 deutsche Jugendliche und den Stadtpfarrer Konrad Möckel, in Kronstadt geführt wurde. Der damalige Theologiestudent und spätere Pfarrer und Psychotherapeut Gerhard Gross verlas einen erschütternden Bericht über die Verhaftung und seine Gefängniszeit. Neben den konkreten Erinnerungen hatte sich Gross auch Gedanken über Möglichkeiten einer Aufarbeitung jener Zeit gemacht. Er dachte darüber nach, wie eine Errichtung einer Institution nach dem Vorbild der in Südafrika von Nelson Mandela ins Leben gerufenen Wahrheitskommission in Rumänien funktionieren könnte. In einer solchen Institution könnten Opfer und Täter gleichberechtigt über die Verkettung ihres gemeinsamen Schicksals sprechen. Die Zusammenkünfte sollten in einer Atmosphäre der Gewaltlosigkeit und der gegenseitigen Vergebung erfolgen. Erst durch ein redliches Aufdecken der Vergangenheit und ein aufrichtiges Schuldbekenntnis – anders als die „Schuldbekenntnisse“ der berüchtigten Umerziehung in kommunistischen Zuchthäusern – kann eine wahre Versöhnung geschehen. Das erklärte Ziel derartiger Dialoge wäre nicht Rache, Vergeltung oder Strafe, sondern einzig die Wahrheitsfindung. Die Diskussion dieser Vorschläge ergab einhellig, dass es in Rumänien kaum Chancen für derartige Wahrheits- und Versöhnungskommissionen von Opfern und Tätern gibt. Allerdings hat Staatspräsident Traian Băsescu, eine Historikerkommission ins Leben gerufen, die die Verbrechen des Kommunismus in seinem Land untersucht. Diese hat der Öffentlichkeit Ende 2006 eine fast 700-seitige Publikation vorgestellt.

Am Dienstagabend las die, vor allem als Kinderbuchautorin bekannte Schriftstellerin Karin Gündisch aus ihren „Rumänienheften 1982-84“, den bislang unveröffentlichten Tagebüchern vor. Im Oktober 1982 hatte sie begonnen Tagebuch zu führen. Sie lebte damals in Bukarest, war Mutter zweier kleiner Kinder, arbeitete als Lehrerin und Schriftstellerin und trug sich mit dem Gedanken, irgendwann auszuwandern. Das Tagebuch endet zwei Jahre später, kurz bevor sie im Rahmen der Familienzusammenführung mit Mann und Kindern in die Bundesrepublik Deutschland auswanderte. Sie sammelte Material, um sich später beim Schreiben eines Romans darauf stützen zu können. Das Tagebuch umfasst Berichte über persönliche Erlebnisse, aber auch in großem Maße zeitgeschichtliche, politische und kulturelle Informationen aus dem Rumänien jener Zeit. Es enthält Ausschnitte aus der Presse, Gesetzestexte, das Protokoll des verpflichtenden Politunterrichts für Lehrer und Mitschriften der Nachrichten im Radio (Sender Freies Europa). Es gibt einen umfangreichen Einblick in das Leben unter den Bedingungen des Sozialismus, der sich damals kurz vor dem Kollaps befand.

Gudrun Schuster, ehemalige Deutschlehrerin in Siebenbürgen und nach ihrer Ausreise 1987 aus Rumänien als Dozentin am Goethe-Institut München tätig, referierte zum Thema „Ideologie und Bildung am Beispiel deutscher Schulen und Schulabteilungen im sozialistischen Rumänien“. Für jene Schulen war über Jahrhunderte das klassisch-humanistische Bildungsideal gültig, das in der Volksschullehrerausbildung in Siebenbürgen und im Banat vermittelt sowie durch das Studium späterer Gymnasiallehrer an ausländischen, vor allem deutschen Universitäten „importiert“ wurde. In pädagogischen Fachdiskussionen stand Bildung als Prozess des Sich-Bildens, der Entfaltung der Person im Mittelpunkt. Dazu gehörten Wissensvermittlung, aber auch musikalische und sportliche Aktivitäten an den Schulen sowie der Glaube und die Familie. Besonders in den Familien wurde stark an diesen Traditionen festgehalten. Zwischen den Schulen gab es große Unterschiede. Vor allem die großen deutschen Lyzeen in den Städten konnten infolge des staatlich garantierten Rechts der Minderheiten auf die Muttersprache auch nach der sozialistischen Schulreform Bildungsinhalte vermitteln, die ihr ethnisches Eigenbewusstsein stützten, diese Schulen zugleich aber auch für Schüler anderer ethnischer Gruppen attraktiv machten. Trotz einer verordneten Ideologie mit totalitärem Wahrheits- und Geltungsanspruch und eines Spitzelsystems in den Schulen konnten hier tragende Werte einer pluralistischen Gesellschaft vermittelt werden. Dennoch sind der in Rumänien erfahrene politische Zwang, die gezielt gestreute Angst und Gängelung nicht an allen spurlos vorübergegangen. Zwar ist in der „Lebenswelt Deutscher Schulen und Schulabteilungen“ im sozialistischen Rumänien unter undemokratischen Bedingungen Erstaunliches geleistet worden, doch sind auch diese von ihr nicht unberührt geblieben.

Das Thema „Die Lebenswelt eines rumänischen Intellektuellen in der Stalin-Zeit“ behandelte der Historiker Cornelius Radu Zach, Lehrbeauftragter der Universität Klausenburg und früherer Mitarbeiter des Senders Freies Europa. Die zahllosen Schicksale der Intellektuellen Rumäniens in den Jahren 1945-1964 lassen sich schwer resümieren. Trotzdem kann man die Gruppen der Gegner, der Angepassten und der Opportunisten unterscheiden. Das Leben der meisten, die die offizielle Politik nicht mitgetragen haben, war von Entbehrungen und Angst geprägt. Als Beispiel einer gegängelten Institution wurde die Rumänische Akademie angeführt. Durch Heranziehen von musterhaften Biographien prominenter Intellektueller wurde das Profil einer finsteren Epoche gezeichnet.

„Individualisierung von Lebenslagen und Biographiemustern – die Lebenswelt deutscher Jugendlicher in der frühen Nachkriegszeit Rumäniens“ hieß der Vortrag, den die Historikerin und ehemalige Direktorin des Instituts für Deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas München und derzeitige Gastprofessorin an der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg, Krista Zach, vorbereitet hatte. Sie behandelte aktuelle Fragen der Erinnerungskulturforschung. Einführend wurden „Lebenswelten“ an zwei unterschiedlichen Orten skizziert – die freiheitliche bundesdeutsche und die unfreie kommunistische Gesellschaft der frühen Nachkriegszeit. Die „Lebenswelt der deutschen Minderheit in Rumänien“ zwischen 1944 und 1962 wurde anhand persönlicher Erinnerungen veranschaulicht. Abschließend reflektierte Frau Zach über die „Verortung von Erinnerung“.

Der Spielfilm und Gewinner des Berliner Bären (2007): „Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage“ von Cristian Mungiu beschäftigt sich mit dem Thema Abtreibung im kommunistischen Rumänien. Der evangelische Pfarrer i.R. August Schuller, zuletzt in Hamburg tätig, wertete die erhaltenen Aufzeichnungen des Pfarrers Wilhelm Schunn im Zeitraum 1950 bis 1965 als zeitgenössische Quelle aus. Schunn wurde Gemeindepfarrer eines lange Zeit seelsorgerisch vernachlässigten siebenbürgischen Dorfes, in dem sich, durch die Modernisierungsschübe im Sozialismus, die Sozialstruktur gravierend verändert hatte. Schunn wirkte dort in einer Art innerer Emigration.

Johann Steiner, Journalist und Herausgeber der Anthologie „Die Gräber schweigen – Berichte von der blutigsten Grenze Europas“, erzählte die Geschichte von Zehntausenden Flüchtlingen aus dem kommunistischen Rumänien über Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland. Steiner schilderte den stetigen Ausbau der westlichen rumänischen Grenzsicherungsanlagen, die weiträumige Absperrung und Bewachung. 1965 schlossen Rumänien und das bis dahin „liberale“ Jugoslawien einen Auslieferungsvertrag für aufgegriffene Flüchtlinge. Die Westgrenzen Jugoslawiens waren aber durchlässig und damit einer der wenigen chancenreichen Fluchtwege überhaupt.

Seit der KSZE-Konferenz in Helsinki lieferten die jugoslawischen Behörden Flüchtlinge aus Rumänien nicht mehr an ihr Heimatland aus. Mit Duldung der Jugoslawen konnten die zwischenzeitlich meist Gefangengenommenen in den Westen weiterreisen. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gab es eine wahre „Massenbewegung“ von Flüchtlingen aus Rumänien, obwohl die Sicherheitsmaßnahmen an der rumänischen Grenze immer schärfer wurden. Eine rumänische Forscherin hat aus den Daten der rumänischen Grenzbehören errechnet, dass 1980-1989 mehr als 16 000 Fluchtversuche unternommen wurden, und dass etwa 4 000 Personen die Flucht gelang. Wie viele Menschen insgesamt das Land in der kommunistischen Zeit verlassen haben, kann kaum noch ermittelt werden. Nachforschungen werden behindert, weil einige der für die Gräuel an der Grenze verantwortlichen Staatsanwälte und Richter noch immer im Amt sind. Viele Opfer sind nicht bereit auszusagen, manche aus Angst, andere, weil sie es als aussichtslos erachten und am liebsten alles vergessen wollen.

„Fluchtgeschichten“ widmet sich am 24. bis 26. April auch die nächste Tagung zur Zeitgeschichte der Bildungsstätte.

Gustav Binder

Schlagwörter: Kommunismus, Vergangenheitsbewältigung, Bad Kissingen, Schwarze-Kirche-Prozess

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