18. Oktober 2009

„Es gibt kein ,zurück‘ mehr“: Neue Publikationen zum Thema Flucht und Vertreibung

Flucht und Vertreibung – ein Schicksal, das am Ende des Zweiten Weltkrieges und danach ca. 14 Millionen Deutsche miteinander teilten, von denen vermutlich zwei Millionen ihr Leben verloren. Dieses dunkle Kapitel der europäischen Geschichte rückt immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit – und ist doch noch lange nicht erschöpfend recherchiert und dokumentiert. Zwei neue Publikationen versuchen aus sehr persönlicher Sicht ihren Teil dazu beizutragen.
Das Buch „Der weite Weg gen Westen. Geflo­hen –vertrieben – angekommen an Rhein und Ruhr“ versammelt Berichte von 16 Autoren aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Russland, Masuren, dem Sudetenland und dem Banat, die ihre persönlichen Geschichten von Flucht und Vertreibung erzählen, mal poetisch, mal nüchtern, aber immer authentisch. Die Autoren wurden zwischen 1929 und 1958 geboren. Von den Ältesten, die bei Kriegsende fast erwachsen waren, über die im letzten Kriegsjahr zur Welt Gekommen bis hin zu den „Nachgeborenen“, den „Nacherlebenden“, die Flucht und Vertreibung nur aus Erzählungen der Eltern und Großeltern kennen, zieht sich wie ein roter Faden ein Gedanke durch all ihre Geschichten: das Gefühl des Heimatverlustes, der Entwurzelung, und die Suche nach der eigenen Identität. Wer bin ich, und wo komme ich her? Man vermag nicht zu beurteilen, welche Beiträge erschütternder sind – die der Älteren, die die Schrecken von Flucht und Vertreibung hautnah miterlebten, oder die der Jüngeren, die sich von Eltern, Großeltern, vielleicht auch älteren Geschwistern immer wie­der sagen lassen mussten, dass sie ja nicht dabei gewesen seien, und denen von einer fast sagenhaften Heimat erzählt wurde, die nicht mehr existiert und die sie Jahre später erst mühsam entdecken mussten.

Wo die Vertriebenen angekommen sind, sagt dem Leser schon der Titel. „An Rhein und Ruhr“, also in Nordrhein-Westfalen, sind alle Autoren inzwischen beheimatet. „Nach absoluten Zah­len“, schreiben die Herausgeber Winfrid Halder und Michael Serrer in ihrer Einführung, „hat kein deutsches Land mehr Vertriebene aufgenommen als das westlichste Bundesland“, was die beiden Wissenschaftler dazu bewogen hat, in ihrem Buch Berichte von Autoren zu versammeln, die zu dieser großen Gruppe gehören. Die Darstellung eines siebenbürgischen Autors fehlt, was schade ist, da auch die Siebenbürger Sach­sen Geschichten von Flucht und Vertreibung erzählen können und viele von ihnen nach dem Krieg und später in Nordrhein-Westfalen eine neue Heimat gefunden haben. Als Ausgleich da­für mag die Geschichte „Bukarest – Düsseldorf, einfach“ des Banater Journalisten Franz Heinz gelten, die stellvertretend für alle Rumänien­deutschen gelesen werden kann und den Reigen der Erinnerungen im vorliegenden Band eröffnet, der „sich insbesondere auch an die junge Generation von heute“ richtet, „die dafür sensibilisiert werden soll, was es für Menschen in ihrem Alter hieß, unter meist chaotischen Bedin­gungen in großer Not fort und in einer ganz fremden neuen Umgebung neu anfangen zu müssen“, wie die Herausgeber ihr Anliegen in der Einführung formulieren.

Andrea Schwarz widmet sich in ihrem Buch „Wenn die Orte ausgehen, bleibt die Sehnsucht nach Heimat. Fragmente einer geerbten Ge­schichte“ ebenfalls dem Thema Flucht und Vertreibung. Auch sie – 1955 geboren – ist eine „Nacherlebende“, und auch sie erzählt eine sehr persönliche Geschichte. Nach dem Tod ihrer El­tern, die aus Ostpreußen und Schlesien stammen, sichtet sie deren Nachlass, findet „Fragmen­te einer geerbten Geschichte“ und setzt Stück für Stück die Vergangenheit ihrer Familie zusammen. Trennung der Eltern durch die Kriegswir­ren, Flucht vor der heranrückenden Roten Armee, Tod der beiden Kinder, der älteren Ge­schwister der Autorin, Wiedersehen und Neu­beginn in Deutschland – all das erzählt Andrea Schwarz und beschreibt, wie diese Vergangen­heit ihr eigenes Leben geprägt hat. Ihr Buch ist eine Collage aus alten Fotos, Briefen und Notiz­zetteln, Gedichten und Bibelzitaten, die die Auto­rin zu ihrer „geerbten Geschichte“ verwebt. Auch sie stellt sich gezwungenermaßen die Frage nach Heimat – und findet sie im Glauben, nicht an einem bestimmten Ort.

Beide Publikationen greifen das Thema Flucht und Vertreibung auf einer sehr persönlichen Ebene auf und sind daher besonders für jüngere Menschen als Einstieg in den historischen Themenkomplex geeignet. Zudem geben sie diesem immer noch zu wenig beachteten und dokumentierten Kapitel der europäischen Ge­schichte ein Gesicht – und bereiten somit den hoffentlich fruchtbaren Boden für eine intensive Reflexion.

Doris Roth



Winfrid Halder, Michael Serrer (Hg.), „Der wei­te Weg gen Westen. Geflohen – vertrieben – angekommen an Rhein und Ruhr“, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, 2008, 187 Sei­ten, 18,90 Euro, ISBN 978-3-506-76683-0.

Andrea Schwarz, „Wenn die Orte ausgehen, bleibt die Sehnsucht nach Heimat. Fragmente einer geerbten Geschichte“, Verlag Herder, Freiburg, 2009, 112 Seiten, 12,95 Euro, ISBN 978-3-451-32192-4.

Schlagwörter: Rezension, Flucht und Vertreibung, Integration

Bewerten:

10 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.