21. November 2009

Hans Bergels „Wegkreuzungen. Dreizehn Lebensbilder“

Hans Bergel hat große Bücher geschrieben, und er hat liebenswerte Bücher geschrieben. Neben das Riesenepos „Die Wiederkehr der Wölfe“ von 2006, das ich in der Nachbarschaft von Tolstois „Krieg und Frieden“ sehe, stellte er jetzt die „Wegkreuzungen. Dreizehn Lebensbilder“. Das Buch nahm mich durch das angenehme Format und die Eleganz der Aufmachung sofort nach Erhalt schon vom Äußeren her gefangen.
Dass unter den dreizehn literarischen Porträts von Persönlichkeiten verschiedener Bereiche sich auch meines findet, freut und ehrt mich. Alle Porträtierten kommen aus Südosteuropa: aus den Landschaften um Czernowitz, Kronstadt und Hermannstadt, von der mittleren Donau. Alle – so schreibt Bergel – taten sich auf ihrem Gebiet hervor, einige mit hohem Ruhm.

Worum geht es in den „Wegkreuzungen“? Zuerst seien Titel und Untertitel der Beiträge genannt, um eine Übersicht zu bieten:

Hans Fronius – Wie sich Literaturteste in Bilder verwandeln; Alfred Margul-Sperber –Wahr ist allein das Geheimnis, Arnold Graffi – Der komponierende und malende Krebsforscher; Ioana Maria Gorvin – Das südöstliche Melos; Otto Wolfgang Flechtenmacher - Der Diskurs mit dem Licht; Andreas Birkner – Der alttestamentarische Zorn; Richard Gober – Gedanken ber die Wunderwelt der Intarsie; Paul Schuster – Der schwierige Weggefährte; Friedrich von Bömches – Mythische Bilder als Gegenwart; Hans Mieskes - Jede Generation steht am Neubeginn; Franz Hutterer – An der großen Donaubiegung nach Südosten; Manfred Winkler – Die stillen Feste der Freundschaft.

Schon die Untertitel erzählen die Geschichten dieses Buches. Von einem forschenden Arzt. Von besessenen Künstlern, von einem mit Lenin diskutierenden Kulturverächter, von einer legendären Schauspielerin, von Dichtern, Schriftstellern und anderen. Darunter Weltberühmtheiten wie der aus Nordsiebenbürgen stammende Berliner Krebsforscher Arnold Graffi und die in Hermannstadt geborene große Tragödin auf deutschen Bühnen der Nachkriesgepoche Ioana Maria Gorvin, der Bergel 1993 in Berlin die Grabrede hielt. Oder der von Vaterseite auf Kronstädter Wurzeln zurückblickende, von Österreich aus zu europäischem Ruhm gekommene Grafiker Hans Fronius. Meinem Bukowiner Landsmann Alfred Margul-Sperber, dem hilfsbereiten „gutmütigen Riesen“ und einflussreichen Bukarester Poeten, ist eine Arbeit gewidmet, die mich tief berührte. Das Gleiche kann ich über die Porträtierung des mir bisher unbekannten Hochgebirgsmalers Otto W. Flechtenmacher sagen. Der in Tirol lebende Kronstädter schuf Alpenbilder, die von faszinierenden Lichtereignissen berichten. Und so weiter.

Jeder Beitrag des handlichen, mit schöner Schrift auf schönes Papier gedruckten, aufschlussreichen und im wahren Sinne vielgesichtigen Buches hat die Merkmale Bergel’scher Schreibkunst: Überall ist Spannung, Sprachbrillanz, umfassendes Wissen. Beispielsweise denke ich an die Deutung des malerischen Werkes des Kronstädters Friedrich von Bömches. Bergel schreibt, mit zunehmendem Alter erscheinen die Bömches-Bilder als in unsere Zeit übersetzte biblische Mythen. Flucht, Hunger, Gewalt. Das wird mit der gleichen ' Klarheit dargestellt wie Flechtenmachers gemalte Lichtbegegnungen, die Bergel im Zeichen des berühmten „Sonnengesangs“ des Pharao Echnaton deutet. Er zitiert die erste Strophe des 3 500 Jahre alten Gedichtes. Mit der gleichen Sicherheit deutet er das Werk von Fronius als geniale Synthese von Idee und Emotion. Temperamentvoll und mit der für ihn typischen Gradlinigkeit schildert er die beiden Schriftsteller Andreas Birkner und Paul Schuster. Die Charakterstudie über Deutschlands „lachenden Apostel“, den 1879 in Siebenbürgen geborenen Gustav Arthur Gräser, gerät ihm zum geistvollen Exkurs in die Kulturgeschichte Europas der vorletzten Jahrhundertwende. Die Arbeit über Franz Hutterer entführt uns in die schmerz- und leidvolle südosteuropäische Zeitgeschichte, die Arbeit über den Südsiebenbürger Richard Gober ins goldene Zeitalter der Intarsienkunst. Immer spürt der Leser im Hintergrund das kühle Formbewusstsein des Autors, der den Überblick niemals verliert. Für alle Arbeiten gilt der Satz aus dem Klappentext des Buches: „Hans Bergel umreißt Aufsehen erregende Lebensläufe vor historischem Hintergrund, beschäftigt sich mit dem Werk und macht ungewöhnliche Menschen sichtbar.“

Nach meinem Urteil trägt zweierlei zum Lesegenuss bei: Zum einen kannte und kennt Bergel fast alle Porträtierten persönlich – der Großteil stammt aus Siebenbürgen – und teilt daher Dinge mit, dis bislang unbekannt waren, zum anderen sind die über dreißig Farb- und Schwarzweißbilder bestens ausgewählt: Schriftproben, Grafiken, ein Notenbeispiel, Gemälde- und Intarsienreprodutionen in Farbe, Buchumschläge, ein expressives Gorvin-Foto, das die junge Schauspielerin als Antigone im Stück von Sophokles zeigt. Der Abwechslungsreichtum der Bilder belebt die Lektüre des kostbaren Buches. „Wer die ‚Wegkreuzungen’ zur Hand nimmt“, schreibt der Berliner Kunstwissenschaftler Joachim Otth im kurzen Vorwort, „wird sie nach der Lektüre angeregt und bereichert aus der Hand legen – und von neuem nach ihnen greifen.“ Der Feststellung schließe ich mich ohne Zögern an.

Die „Wegkreuzungen“ entstanden weitestgehend als viel beachtete Vorträge und Feuilletonbeiträge der letzten Jahre. Nur ein Text – Manfred Winkler – ist hier als Erstdruck zu lesen. Die anderen wurden für das Buch grundlegend überarbeitet und entfernen sich deshalb von der ersten Fassung. Sie wurden meines Erachtens zu einem der reifsten Bücher dieses Autors, den Markus Fischer einen „gelehrten Polyhistor und sprachmächtigen Erzähler“ nennt. Sie sind „als Facetten deutscher Kulturgeschichte von unbestreitbarem Wert“ (Otth).

Manfred Winkler

Hans Bergel: Wegkreuzungen. Dreizehn Lebensbilder. Mit einem Vorwort von Joachim Otth. Johannis Reeg Verlag, Bamberg 2009, 33 Schwarzweiß- und Farbbilder, 176 Seiten, 16,30 Euro, ISBN 978-3-937320-38-0.
Wegkreuzungen: Dreizehn Lebens
Hans Bergel
Wegkreuzungen: Dreizehn Lebensbilder

Johannis Reeg Verlag
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Manfred Winkler, 1922 in Putila, Bukowina, geboren, lebt seit 1959 in Israel. Er ist Lyriker in hebräischer und deutscher Sprache, Übersetzer und Bildhauer. 1999 mit dem Literaturpreis des Ministerpräsidenten Israels ausgezeichnet, gilt er als herausragender Dichter nicht nur in seiner Heimat. Zuletzt erschien 2006 im Aachener Rimbaud-Verlag sein Lyrikband „Im Schatten des Skorpions“, zu dem Hans Bergel unter dem Titel „Die Liebe zur deutschen Sprache ...“ das Nachwort schrieb. Winkler und Hans Bergel sind seit 1957 eng befreundet; nach langer Unterbrechung erneuerte sich die Freundschaft mit gegenseitigen Besuchen in Israel bzw. Deutschland. Winkler übertrug einige Gedichte Bergels ins Hebräische. Sein Werk zählt inkl. Übersetzungen 22 Buchtitel.

Schlagwörter: Rezension, Bergel

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Neueste Kommentare

  • 21.11.2009, 14:29 Uhr von seberg: Sie dürfen sich gerne zu einer der wenigen, von mir eingeräumten Ausnahmen zählen, das hätte sicher ... [weiter]
  • 21.11.2009, 14:22 Uhr von Friedrich K: Verehrtester Seberg, es wäre nett wenn Sie "gewisse Hemmungen" nicht pauschal auf andere übertragen ... [weiter]
  • 21.11.2009, 09:14 Uhr von seberg: Danke für ihren Kommentar, von Randlage. Auch dafür, dass Sie sich Herrn Winkler zu persönlichem ... [weiter]

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