14. Februar 2010

Zum Jahreswechsel in Kronstadt

Die Gesichtshaut spürt den Frost. Ein lichter, heller Tag im Januar 2010, an dem ich durch die Altstadt schlendere. Kaum einige Menschen in der Purzengasse, es geht schwer voran, entweder es rutscht oder Schneeberglein müssen umgangen werden. Mit diesen Impressionen beginnt Anna Sylvester ihre Gedanken zum Jahreswechsel in Kronstadt.
Gut, dass der zu Weihnachten die Stadt zu schmücken gedachte Kitsch weg ist. Tagsüber sahen die Gebilde aus Eisendraht, umgeben von länglichen Birnchen, eher nach metallgrauweißen Kakteen aus als nach Engeln, was sie symbolisieren sollten. Verschwunden vom Marktplatz sind Holzkrippe und lebendige Schafe, Santa-Claus-Schlitten und Rentiere nachahmende Metallgebilde, aber auch die noch Leben versteckende, riesige Tanne. Geblieben ist neben dem alten Rathaus die moderne Betonstruktur, Eiszapfen zum Schein tragend, um daran zu erinnern, dass das an warmen Tagen ein Springbrunnen ist. Auch der andere Bau am Platz ist zu sehen, ein zweiter Springbrunnen. Er erinnert mich an einen Vogelkäfig aus dem alten Grimmsmärchenbuch. Nur der Taubenbrunnen ist versteckt ebenso die Treppen, die seit einigen Jahren die Neigung des Platzes hin zur Purzengasse fußgängerfreundlicher gestalten sollten. Aber für viele Fußgänger erweisen sie sich als Falle. Wer nicht aufpasst, darf die Welt von unten bewundern.
Blick auf den Marktplatz mit Altem Rathaus in ...
Blick auf den Marktplatz mit Altem Rathaus in Kronstadt. Foto: Anna Sora
Ein Blick in die Runde – die Häuser zeugen von den besseren Jahren, protzend im farbenfrohem, noch neuem Verputz. Ja, die Jahre, sie sind schnell verstrichen. 1980 ist Vater verschie­den. So musste er, ein ausgesprochener Fleischgenießer, nicht das Gemüsebrot der Kommunismuskrise hinunterwürgen. 1990 nahmen wir Abschied von Mutter. So musste sie nicht erleiden, wie die Hoffnungen auf ein besseres Leben in der Übergangskrise zusammenbrachen. 2000, das Jahr der Sonnenfinsternis und des Jahrtausendbeginns, ist auch verstrichen. Es hat eine bessere Zeit für Land und Leute gebracht. Die ersten „zweitausender“ Jahre haben viel Erfreu­liches gebracht, nicht nur materiellen Besserstand und politisches Behaupten, sondern auch spürbares Normaldenken und, ja, Fortschritt. Und ein neues rundzahliges Jahr hat begonnen. Wer wird diesmal Schmerzlichem enthoben? Vorläufig fallen willkürliche Lohnabschläge, der Willkür türeöffnende Gesetze und Tonnen von Wirtschaftskrisendrohungen auf Land und Leute ein. Früher hat man auf das Ausland gehofft. Jetzt planen die Vertreter des Internationalen Währungsfonds im Plauderton eine Mil­lion hiesige Arbeitslose für das Jahr 2010. Wer wird dazu gehören, wer wird vieles im Dienst stillschweigend schlucken müssen, wie viele werden diesmal den Westen überfluten?!

Zwei frostig-rote Kindergesichtchen, versteckt in zwei Winterkleidersäcken, kommen mir entgegen. Ob die Mündchen lachen oder nicht, das wissen nur die zudeckenden Schals. Aber der Schalk aus ihren Augen springt zu mir herüber und verjagt die Beklommenheit der Gedanken. Ich lasse meinen Blick die felsenmajestätischen Mauern der Schwarzen Kirche hochsteigen, denke daran, dass unter meinen Schritten sicher noch Gebeine der Vorfahren versteckt sind. Was für Nöte und Verzweifelungen, wie viel Leid mussten sie – die Vorfahren – hinnehmen?

Jahr 2010, in so grauschwarzen Farben verkündet, auch aus dir wird Vergessenheit werden. Und auch unsere heutigen Nöte, Berechnungen und Verzweifelungen werden sich bald im Zeitstaub auflösen. Vergänglichkeit wäre das Zauberwort, aber auch der so abgewetzte und doch so wahrheitsgetreue Slogan: „Das Leben geht weiter“.

Ich auch. Sogar im flotten Schritt, denn soll sich der heutige Alltag im Staub verfliegen, so muss es ihn zuerst geben. Das Komische des Gedankens, dass ich schaffe und lebe, damit was zum Vergessen existiert, macht mich lächeln. Der Frohmut ist wieder da – und den lasse ich nicht so schnell verfliegen.

Anna Sylvester

Schlagwörter: Kronstadt, Burzenland

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Neueste Kommentare

  • 14.02.2010, 10:14 Uhr von Joachim: Ja solche Gedanken gehen mir auch durch den Kopf. Und man stellt sich die Frage, ist der Weg den ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

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