20. Juli 2011

Alarmierende Abiturergebnisse in Rumänien

Das rumänische Bildungsministerium hat bekannt gegeben, dass heuer von rund 200 000 Zwölftklässlern 90 000 Schüler das Abitur bestanden haben - nicht einmal 45 Prozent! Anlässlich dieses katastrophalen Ergebnisses titelte die Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien: „Viel Aufregung über das ‚schwächste Abitur aller Zeiten’“.
An 27 Gymnasien hat kein einziger Kandidat das Abitur geschafft. Das rumänische Bildungssystem steht mehr denn je auf dem Prüfstand. Bildungsminister Daniel Funeriu erklärte, dass sich Rumänien an einem Scheideweg befinde. Dass die Durchfallquote um 20 Prozent höher als im Vorjahr ausfiel, ist insbesondere der Tatsache zuzuschreiben, dass die Abiturprüfungen zum ersten Mal videoüberwacht wurden. Prompt wurden 650 Schüler beim Abschreiben erwischt, berichtete Spiegel Online. Demgegenüber haben die deutschsprachigen Gymnasien überdurchschnittlich gut, sogar ausgezeichnet abgeschnitten. So bestanden am Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt von 115 Kandidaten 113, am Honterus-Gymnasium in Kronstadt von 97 Schülern 93, am Haltrich-Lyzeum in Schäßburg von 46 Kandidaten 39. Seit September 1998 ist Gerold Hermann Direktor des Brukenthal-Gymnasiums. Im nachfolgenden Gespräch, das Christian Schoger führte, erläutert der in Hermannstadt geborene, 55-jährige Schulleiter die Hauptdefizite des rumänischen Bildungssystems, auch im Spiegel der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung.


Herr Hermann, die diesjährigen Abiturprüfungen in Rumänien sind aufsehenerregend schlecht ausgefallen. Haben Sie eine plausible Erklärung?

Den Hauptgrund sehe ich in der Tatsache, dass es weniger Betrug als in anderen Jahren gab. Es gibt aber sicher nicht d e n Grund, sondern eine ungünstige Gesamtkonstellation.


Sie spielen auf die erstmals praktizierte Videoüberwachung an. Diese von oben verordnete schärfere Kontrolle haben die Lehrkräften entsprechend umgesetzt.

Die Lehrer haben wohl die Drohungen des Unterrichtsministers Daniel Funeriu ernst genommen und waren nicht mehr bereit, ihren Kragen zu riskieren, um wie sonst üblich „den armen Kindern zu helfen“. Dieses „Helfen“ ging seit vielen Jahren über einfaches Abschreibenlassen - aus mitgebrachten Unterlagen oder voneinander – hinaus: teils tatsächlich aus „Mitleid“, aus dem allgemeinen Drang heraus, den Schein zu wahren, oder auch wegen konkretem materiellem Interesse.


Dass mehr als die Hälfte der Absolventen der 12. Klasse den Anforderungen der schriftlichen Prüfungen nicht gewachsen war, muss weitere gravierende Ursachen haben.

Mitverantwortlich sind die Themenstellung und Bewertungsschlüssel. Auch wenn die Zielvorgaben in den Lehrplänen durchaus zeitgerecht klingen, so bläst bei den Prüfungsthemen und vor allem bei den Bewertungsschlüsseln ein anderer Wind. Um die vorgesehenen Punkte zu erzielen, müssen Kandidaten oft irrelevante Details behalten haben. Der Sinn des sehr hohen Schwierigkeitsgrades der Prüfungsthemen in Mathematik, Informatik und weiteren naturwissenschaftlichen Fächern ist nicht eindeutig zu erkennen. Wenn man den beibehalten will, müsste eine Art Fachabitur eingeführt werden. Die jetzigen Anforderungen sind objektiv gesehen nur von den Schülern der Spitzenschulen zu erfüllen - unabhängig davon, wie sehr sich Schüler und Lehrer anstrengen.


Bildungsminister Daniel Funeriu erklärte, dass die Ergebnisse ein „Spiegelbild der Gesellschaft“ seien.

Die Schulen können nicht Inseln der Normalität und Korrektheit sein, wenn das Meiste drumherum anders läuft. Ein willkürlich gewähltes, aktuelles Beispiel: Das Parlament hat unlängst das Gesetz betreffend Militärrenten mit 168 Stimmen verabschiedet - eine mehr als strikt notwendig. Geschafft hat die Regierungspartei das laut România Liberă dadurch, dass fünf Parlamentarier aus den eigenen Reihen doppelt gewählt haben - mit den Magnetkarten der abwesenden Kollegen. Obwohl es von der Szene Videoaufzeichnungen gibt, gilt die Abstimmung und das Leben geht weiter. Man könnte die Abiturergebnisse als Möglichkeit erachten, in den Spiegel zu blicken. Das wäre sicher nützlich, aber noch kein Ausweg.


Die Medien kritisieren vor allem auch die Dauerreform des Unterrichtswesens.

Zwanzig Jahr nach der Wende muss man leider feststellen, dass die ständigen Veränderungen immer noch einem Zickzackkurs nach Nirgendwo gleichen. Das Hauptproblem ist nicht in der Tatsache zu sehen, dass Herr Funeriu der 15. Unterrichtsminister seit der Wende ist, sondern dass kein Minister fähig und willens war, den vom Vorgänger eingeschlagenen Weg - möglicherweise kritisch - fortzusetzen. Dazu spannt sich zwischen Absichtserklärung, Verordnung und konkreter Umsetzung ein Winkel von bis zu 180 Grad.


Geben Sie bitte ein konkretes Beispiel.

Stets sprachen alle Minister von Schulautonomie, doch im Sommer 2011 sieht ein Direktor, der für alles verantwortlich ist, seinen neuen Lehrer für das nächste Schuljahr erst, nachdem dieser auf Grund eines „Wettbewerbs” zugewiesen wurde. Ebenso schlimm ist die Tatsache, dass viele Lehrer über die Linie Ministerium - Inspektorat - Schulleitung oft gezwungen werden, sich in eine Schein-Papierwelt zu vertiefen, der jeglicher Realitätsbezug fehlt. Alle Verbände ausländischer Investoren weisen darauf hin, dass es keine effizient funktionierende Berufsausbildung in Rumänien gibt, was für das Land natürlich ein Standortnachteil ist. Ein Blick in den Anzeigenteil der Zeitungen unterstreicht das: Gesucht werden überall qualifizierte Facharbeiter. Unverständlicher Weise sind für Ministerium und Medien nur die Ergebnisse des Bakkalaureats ein Thema. Auch das äußerst minderheitenfreundliche Unterrichtsgesetz aus dem Januar dieses Jahres, das ja als Rezept für alle Schulprobleme in Rumänien verkauft wurde, geht kaum auf das Thema der beruflichen Ausbildung ein.


Entgegen dem desaströsen landesweiten Resultat haben die deutschsprachigen Gymnasien hervorragend abgeschnitten. Am Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt haben von 115 Kandidaten 113 bestanden. Glückwunsch! Sie leiten ein Elite-Gymnasium.

In Hermannstadt gibt es 16 Lyzeen. Die Aufnahme erfolgt nach Wunsch des Schülers im Rahmen der genehmigten Plätze in Reihenfolge der sogenannten Aufnahmenote, die zu 50% aus dem Notenschnitt der Klassen 5-8 und zu 50% aus dem Durchschnitt der Prüfungen in Rumänisch und Mathematik, gegebenenfalls auch der Muttersprache resultiert. Drei Lyzeen in Hermannstadt sind von den Schülern begehrt, die zu den Leistungsfähigsten und -willigsten einer Generation gehören und die nötigen intellektuellen Fähigkeiten für einen erfolgreichen Lyzeumsabschluss mitbringen. In der Regel werden sie von der Familie gezielt unterstützt, zum Beispiel durch Privatstunden. Motivierte Lehrer versuchen natürlich hier eine Stelle zu besetzen, weil es sich gut arbeiten lässt. Etwa weitere fünf Schulen werden Schüler - meist gegen deren Willen, denn sie hätten gerne einen Platz in den drei erstgenannten gehabt - zugeteilt, die engagierte Lehrer bestens vorbereiten können.
Die feierliche Verabschiedung der Zwölftklässler ...
Die feierliche Verabschiedung der Zwölftklässler fand am letzten Schultag in der Aula des Brukenthal-Gymnasiums statt.

Und was ist mit den Klassen der anderen acht Gymnasien?

Die werden mit jungen Leuten „gefüllt“, die sicher an einer am Arbeitsmarkt orientierten Berufsschule (die nicht existiert!) viel lernen könnten. Viele sind einfach am falschen Ort und entsprechend demotiviert. Ein guter Teil der jetzigen Abiturversager hätte nie die 12. Klasse erreichen dürfen, weil sie den im Lehrplan festgeschriebenen Anforderungen ab der 9. Klasse nicht einmal ansatzweise gerecht wurden.


Die Prüfungsergebnisse dokumentieren diese Fehlentwicklung. Und wie ist es um die Situation der Lehrer bestellt?

Ein nach rumänischen Gesetzen voll ausgebildeter Lehrer verdient am Anfang seiner Karriere immer noch unter 200 Euro im Monat bei vollem Lehrauftrag. Das hat natürlich zur Folge, dass begabte und fleißige junge Leute sich nur ausnahmsweise vorstellen können, diesen Beruf zu ergreifen. Für die Stimmung der im Schuldienst stehenden Personen war das Gerangel um die Löhne Gift: Das im Parlament einstimmig beschlossene und nie angewandte Gesetz Nr. 1000 von 2008, das eine 50-prozentige Lohnerhöhung für Lehrer vorsieht, ist theoretisch immer noch gültig. Sofort umgesetzt wurden allerdings die Bestimmungen der Gesetze 329 von 2009, also 15,5 % weniger Gehalt im November und Dezember 2009, und 118 aus dem Jahr 2010, eine 25-prozentige Lohnkürzung ab Juli 2010. Durch die Bestimmungen des Gesetzes 63 von 2011 wurden die Lohnreduzierungen zwar aufgehoben, aber die Stellung der Lehrer am Ende der Skala der Staatsangestellten zementiert und damit weiterhin viele von ihnen verpflichtet, wie auch bisher Nebentätigkeiten nachzugehen.

Immer und überall gibt es Menschen, die unabhängig der äußeren Bedingungen ihr Bestes im Beruf geben. So auch Tausende von Lehrkräften in Rumänien. Mit welchen Erwartungen darf man im geschilderten Kontext aber Leuten begegnen, die nur möglichst bequem überleben wollen?


Verständlicher Weise lösten die Abiturergebnisse bei den betroffenen Eltern heftige Proteste aus. Haben indes auch Eltern versagt?

Mitunter ja. Aufgrund von mangelnder Unterstützung der Familie - sehr viele können es sich freilich nicht leisten - geht dem Land enormes menschliches Potenzial verloren. Durch falsch konzipierte Förderung wird einiges in unnötiger Weise verbogen: Man strebt nach Maximalnoten, einer Ansammlung von Diplomen, und versucht mit allen Mitteln, dem eigenen Kind jedwedes Hindernis aus dem Weg zu räumen. Dazwischen gibt es zum Glück noch die „vernünftigen“ Eltern, denen es oft mit großer Anstrengung gelingt, ihren Kindern durch Bildung eine akzeptable Zukunft zu sichern.


Vielen Dank für Ihre kritische Analyse.

Schlagwörter: Schule, Brukenthalschule, Hermannstadt

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