24. Mai 2013

„Wir gehören dazu hier in Deutschland“

„Wir schaffen’s ganz bestimmt. Wir gehören dazu hier in Deutschland.“ - diese klare, optimistische Botschaft übermittelte Zülfiye Kaykin, Staatssekretärin für Integration beim Minister für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Patenland des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, bei der offiziellen Eröffnung des Heimattages am 18. Mai im Schrannenfestsaal. Lesen Sie im Folgenden die viel beachtete Ansprache der 44-jährigen türkischstämmigen SPD-Politikerin.
Sehr geehrte Ehrengäste, meine Damen und Herren, liebe Jugendliche, liebe Kinder, der Oberbürgermeister hat heute Jubiläum, er darf sich freuen. Ich habe Premiere. Ich bin sehr erfreut darüber, dass ich heute bei Ihnen bin und danke Ihnen ganz herzlich für diese Einladung. Ich überbringe Ihnen für diesen Heimattag die herzlichen Grüße der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und insbesondere der Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Als ich die Einladung vor mir gesehen habe, war es für mich eine Verpflichtung, heute bei Ihnen zu sein. Dass Nordrhein-Westfalen das Ereignis mit ausrichtet, da sind wir auch sehr stolz darauf.

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Meine Damen und Herren, wie Sie wissen wurde auf Grundlage eines Kabinettsbeschlusses vom 7. Januar 1957 die Urkunde zur Patenschaft meines Bundeslandes Nordrhein-Westfalen für die Siebenbürger Sachsen unterzeichnet, aus der ich wie folgt zitiere: „Mit diesem Akt bekundet das Land Nordrhein-Westfalen seine Verbundenheit mit der Volksgruppe der Siebenbürger Sachsen, deren Urheimat weite Gebiete Nordrhein-Westfalens sind, und seinen Willen, die Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in ihren Aufgaben zu unterstützen.“ Diese Erklärung gilt damals und auch heute, meine Damen und Herren. Ich nehme an und habe auch gerade feststellen dürfen, jeder hier im Saal kennt Peter Maffay aus Kronstadt, dem heutigen Brașov. Eine Stelle in seinem Lied, die ich mir gestern noch einmal angehört habe, lautet: „Auf dem Weg zu mir“. Ich habe gerade gehört, auf einer Open-Air-Veranstaltung waren 12 000 Jugendliche anwesend (Maffays Konzert am 25. Mai 2012 beim letztjährigen Heimattag; die Redaktion). Und in diesem Text heißt es weiter: „Und ich steh wieder auf, auch wenn ich am Boden bin, denn ich schaff’s ganz bestimmt. Ich spür’s in mir.“ Am Boden sein, das ist eine recht harmlose Beschreibung dessen, was den Siebenbürger Sachsen und anderen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg widerfahren ist. Aber diese Vertreibungen bzw. diese Prüfung hatte Maffay ja auch nicht in seinem Sinn gehabt, als er seinen Text geschrieben hatte. Doch der Wille zum Über- und Weiterleben der betroffenen Menschen, der drückt sich in diesem Zitat ganz besonders aus: „Steh auf. Ich schaff‘ das bestimmt.“
Zülfiye Kaykin, Staatssekretärin für Integration ...
Zülfiye Kaykin, Staatssekretärin für Integration beim Minister für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, bei ihrer Ansprache im Rahmen der Eröffnung des Heimattages. Foto: Gunter Roth
Lassen Sie mich versuchen, dieses Bild etwas zu erweitern. Das 20. Jahrhundert war von Flucht, Vertreibung und Unterdrückung in größtem Ausmaß gekennzeichnet. Zu Beginn des Jahres 1945 begann mit den Flüchtlingstrecks der Bevölkerung aus den deutschen Ostgebieten vor der näher rückenden Front eine der größten Flüchtlingsbewegungen der Nachkriegsgeschichte, die mit der Vertreibung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Kriegsende einen weiteren Höhepunkt erreichte. Mehr als 15 Millionen Menschen mussten flüchten, wurden vertrieben oder verschleppt. Mehr als zwei Millionen Menschen verloren dabei ihr Leben. Die Verbliebenen, so auch viele Siebenbürger Sachsen, sahen sich schlimmen Repressalien ausgesetzt. Anfang 1949 begann Stalin mit der Verschleppung von 30 000 Siebenbürger Sachsen in die ukrainische Sowjetrepublik und andere Regionen. Betroffen waren, und das wissen Sie hier im Saal besser als ich, Frauen von 18 bis 35 und Männer von 17 bis 45 Jahren. Wer blieb, verlor seinen Besitz, zeitweise seine Rechte und wurde diskriminiert. Zusammengefasst, meine Damen und Herren, die Verbrechen des Naziregimes schlugen mit ungeheurer Wucht auf Deutschland und die Deutschen zurück. Dennoch, die Vertreibung und Entrechtung von Millionen unschuldiger Menschen, von Frauen und Kindern, Alten und Kranken lässt sich nicht durch die Untaten eines Verbrecherregimes rechtfertigen. Die Vertreibung und Entrechtung waren eindeutig Unrecht, sind und bleiben Unrecht. Diese Auffassung ist parteiübergreifender Konsens.

In der Charta der deutschen Heimatvertriebenen haben sich die Vertriebenen und Entrechteten nicht nur zum Verzicht auf Rache und Vergeltung verpflichtet, sie erklärten zugleich, ich zitiere: „jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“. Und sie bekundeten ihren festen Willen durch harte, unermüdliche Arbeit teilzunehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.

Meine Damen und Herren, es ist so oder anders von Politikern bereits gesagt worden, aber lassen Sie hier und heute nochmal explizit betonen: Wenn Europa heute ein Fixpunkt des Friedens und der Freiheit und des Wohlstands ist mit einem vereinten, demokratischen und wirtschaftlich starken Deutschland in seiner Mitte, dann haben Millionen von deutschen Heimatvertriebenen und Entrechteten daran ihren bedeutenden Anteil. Sie hatten die Heimat verloren, aber sie haben eine neue Heimat u. a. in Nordrhein-Westfalen gefunden. Sie haben einen großen Beitrag dazu geleistet, dass das zerstörte Deutschland wieder aufgebaut wurde. Dafür gebührt auch Ihnen hier im Saal Anerkennung und Dank. Es wird gegenwärtig auch von den meisten Bürgerinnen und Bürgern so gesehen, dass die umsichtige Politik von Konrad Adenauer zur Westintegration ebenso wie die Politik von Willy Brandt strategischen Weitblick angesichts der Ostpolitik Voraussetzungen für die Einigung Europas geschaffen haben. Willy Brandt hatte großen Respekt vor den Erfahrungen der Vertriebenen und Unterdrückten und forderte zu Recht, dass ihr moralisches, soziales und nationales Gewicht unmittelbar zur Geltung kommen muss. Er wusste aber auch, dass deren große Leistungen beim Wiederaufbau nur dann von bleibendem Wert sein würden, wenn Deutschland sich auch mit seinen Nachbarn im Osten aussöhnt.

Meine Damen und Herren, heute heißt es ja so schön, an der Aussprache merkt man, wo jemand herkommt. Ich habe einen Migrationshintergrund, ich kann türkisch. Ich gehöre nicht zu den Generationen, die Europa vor 60 Jahren in Trümmern gesehen haben und das Leiden, das das Hitler-Regime über ganz Europa gebracht hat, noch in lebendiger Erinnerung haben, wie einige von Ihnen hier im Saal. Obwohl ich persönlich also nicht betroffen bin, habe ich als Staatssekretärin für Integration des Landes Nordrhein-Westfalen vor Mensch wie Ihnen, die ihre Heimat verloren haben, hohen Respekt, weil Sie trotz allem Leid im Großen wie im Kleinen an der Einigung Europas und an der Aussöhnung ehemals verfeindeter Nationen mitgewirkt haben. Sie haben erreicht, dass aus Nachbarn Partner, aus Partnern Verbündete und sogar Freunde wurden. Und dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich danken.

Vor 60 Jahren wurde das Bundesvertriebenengesetz verabschiedet, ein Thema, das auf diesem Heimattag besprochen wird. Dieses Gesetz ist nach meiner Überzeugung das erste echte Integrationsgesetz Deutschlands. Es steht parteiübergreifend für eine wunderbare Erfolgsgeschichte in unserem Staat. Die Verabschiedung dieses Gesetzes stellte zusammen mit dem Lastenausgleichsgesetz die Weichen für die Integration vieler Millionen Menschen, die vertrieben wurden. Es sorgte für eine zwar bescheidene, aber stabile soziale Grundlage für das Zusammenleben. Diese Integration diente auch dem sozialen Frieden und ermöglichte den so notwendigen Wiederaufbau hier in Deutschland. In unserer heutigen schnelllebigen Zeit scheint in Vergessenheit zu geraten, dass eine Reihe von Regionen Osteuropas über viele Jahrhunderte von Deutschen bewohnt und kulturell geprägt waren, darunter auch die Siebenbürger Sachsen. Diese Räume sind heute europäisches Ausland. Vorausschauend war daher der ausdrückliche Auftrag des Bundesvertriebenengesetzes, das deutsche Kulturerbe im Bewusstsein auch des Auslandes zu erhalten.

Das 1953 verabschiedete Bundesvertriebenengesetz nahm aus heutiger Sicht auf spektakuläre Weise vorweg, was erst in dem politischen Umbruch in den 90er Jahren komplett möglich wurde, die deutsche Kultur im östlichen Europa als verbindendes Element zu begreifen, in übernationalen Kooperationen zu erschließen und als Baustein einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur zu verstehen. Das unterstreichen auch Sie mit dem Motto des Heimattages: „Wir gehören dazu – Dank und Verpflichtung“. Ihr Bundesvorsitzender Dr. Fabritius hat das einmal so beschrieben: „In der weltweiten Föderation der Siebenbürger Sachsen wollen wir die in 800 Jahren gewachsene Gemeinschaft die seit dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union wieder ein gemeinsames Zuhause hat, festigen und fördern. Dazu gehören die gute Integration Deutschlands ohne Preisgabe unserer eigenen kulturellen Werte, der eigenen Mundart und unseres Gemeinschaftssinns.“ Das haben Sie sehr gut beschrieben und auch sehr verinnerlicht von den Menschen, die hier leben. Genau so muss auch Integration funktionieren, meine Damen und Herren. Fakt ist, wir lernen aus der Geschichte der Siebenbürger Sachsen, dass Zukunft nur miteinander und nie durch Ausgrenzung gestaltet werden kann.

Mein Heimatland, Ihr Heimatland Nordrhein-Westfalen ist wie kein anderes Bundesland in Deutschland durch Vielfalt geprägt, durch Einwanderung geprägt. Das hat nicht nur mit den Gastarbeitern zu tun, sondern langjährigen Erfahrungen auch mit polnischen oder anderen Nationalitäten, Menschen, die in anderen Ländern ihre Wurzeln haben. Eine Einwohnergröße von 18 Millionen, davon 4,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Als erstes Flächenland haben wir in Nordrhein-Westfalen ein Gesetz zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration verabschiedet. Auch das gehört zur Integration, wenn wir die Möglichkeiten zur Integration nicht schaffen, dann braucht man sich nicht wundern, wenn Menschen nicht mitmachen, die mitmachen könnten. Insofern ist wichtig, dass wir dieses auf den Weg gebracht haben.

Ihr Motto „Wir gehören dazu“ trifft den Kern dieses Gesetzes, denn dieses Gesetz soll eine verbesserte gesellschaftliche und politische Teilhabe von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte schaffen und dadurch den Zusammenhalt in der Gesellschaft weiter entwickeln und festigen. Integration kann nur vor Ort gelingen. Sie kann nur in Dinkelsbühl gelingen, in den Kommunen gelingen und hat sehr viel mit der Haltung eines Oberbürgermeisters zu tun. Und deswegen beglückwünsche ich Sie, Herr Oberbürgermeister (Hammer; die Redaktion), dass Sie gerade so herzlich begrüßt werden und Sie deutlich gemacht haben, dass diese Menschen hier auch hin gehören.

Ich möchte jetzt natürlich nicht auf die Einzelheiten des Gesetzes in Nordrhein-Westfalen eingehen, aber ich denke, dass der Rahmen, den das Gesetz setzt, einigermaßen erkennbar ist. Die Siebenbürger Sachsen sind ein Beispiel für gelungene Integration in die moderne Gesellschaft, in die Stadtgesellschaft, in der sie leben, ohne dabei ihre Traditionen aufgegeben zu haben. Ich bin heute Morgen aus Nordrhein-Westfalen angereist, 500 Kilometer gefahren, und habe im Eingangsbereich zwei wunderbare Menschen getroffen, Edwin und Brigitte Krug, die für den Landtag bzw. den Bezirkstag kandidieren. Sie sind auch hier anwesend. Ich habe mich außerordentlich gefreut als Staatssekretärin für Integration, das ist politische Teilhabe, das ist Partizipation. Ich gratuliere Ihnen zu dieser Entscheidung. Ich finde es wunderbar, dass sich junge Menschen auf den Weg gemacht haben. Sie sind Vorbilder für die jungen Menschen hier im Saal. Gerade weil ich diese Begegnungen heute Morgen hatte, bin ich sehr zuversichtlich, dass dies mit den neuen Zuwanderern in unserem Land ebenso gelingen wird wie bei den Siebenbürger Sachsen. Deswegen erweitere ich zum Schluss die Worte von Peter Maffay zu einer klaren Botschaft: Wir schaffen’s ganz bestimmt. Wir gehören dazu hier in Deutschland. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Zeit in Dinkelsbühl, gute Begegnungen, gute Gespräche. Herzlichen Dank!

Schlagwörter: Heimattag 2013, Nordrhein-Westfalen, Integration

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Neueste Kommentare

  • 24.05.2013, 11:46 Uhr von TAFKA"P_C": "kleiner Versprecher ohne Wirkung." @Schreiber, Sie wissen aber schon, dass gerade das Jahr 1949 ... [weiter]
  • 24.05.2013, 11:19 Uhr von gehage: zitat von schreiber: "kleiner Versprecher..." und von kaykin: "Wir gehören dazu hier in ... [weiter]
  • 24.05.2013, 09:41 Uhr von Schreiber: kleiner Versprecher ohne Wirkung. Schließlich wissen wir alle, was gemeint ist. Ich finde die ... [weiter]

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