9. September 2006

Horst Köhler: "Anspruch auf unsere Solidarität und Mitgefühl"

Flucht und Vertreibung sind ein Kapitel deutscher und europäischer Geschichte, über das man sprechen und nachdenken müsse, sagte Bundespräsident Horst Köhler beim "Tag der Heimat" am 2. September im Berliner Kongresszentrum. Köhler, erstmals als Festredner dabei, hielt in Berlin ein eindringliches Plädoyer für eine Erinnerungskultur ohne jeden Revanchismus. "Wir müssen darüber sprechen, weil die Menschen, denen unermessliches Leid widerfahren ist, Anspruch auf unser Mitgefühl und unsere Solidarität haben", betonte das Staatsoberhaupt vor rund tausend Gästen von 21 Landsmannschaften. Die Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen war durch ihren Bundesvorsitzenden Dipl.-Ing. Volker Dürr vertreten.
Als Ursache für die Vertreibungsgeschichte von Millionen von Deutschen verwies der Bundespräsident klar auf die Verbrechen des Nationalsozialismus. Das nationalsozialistische Unrechtsregime und der von Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg seien "auslösende Ursache für Flucht und Vertreibung" gewesen. Am Ende sei die von Deutschen ausgegangener Gewalt grausam auf sie zurückgeschlagen. Etwa 15 Millionen Deutsche hätten durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat verloren. Zwei Millionen von ihnen, meist Alte, Kinder und Frauen, hätten den Marsch nach Westen nicht überlebt.

Köhler, dessen Familie aus Bessarabien umgesiedelt worden war, hob den Anteil der Vertriebenen am Wirtschaftswunder der frühen Bundesrepublik hervor. Unternehmer aus Schlesien, die in Westdeutschland reüssierten, die Bergleute aus den deutschen Ostgebieten im Ruhrkohlebergbau, die Glasmacher bei Kaufbeuren - die Integration der Vertriebenen sei eine "Erfolgsgeschichte" gewesen, aus der man auch für die gegenwärtigen Herausforderungen der Integration lernen könne.

Der Bundespräsident lobte das Interesse von jungen Deutschen an der Geschichte des Ostens. Immer mehr Enkel und Urenkel wollten "von den weißen Flecken in der Geschichte ihrer Familie" wissen. Zum Verständnis deutscher Geschichte gehöre auch das Verständnis "der Geschichte und Kultur des ehemaligen deutschen Ostens". Man tue gut daran, rief Köhler die Jüngeren auf, "den Vertriebenen zuzuhören". Nicht nur um zu erfahren, was damals war, sondern auch um ihnen dabei zu helfen, mit der Last umzugehen, die ihnen noch immer auf der Seele liege.

Nach der gelungenen Integration der Vertriebenen und der Überwindung der Teilung Europas habe man nun die Freiheit, "gemeinsam über die Vergangenheit zu sprechen - über die eigene Leidensgeschichte und darüber, was andere erlitten haben". Die Erinnerung an die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg will Horst Köhler in einen europäischen Zusammenhang zu stellen. "Vertreibungen sind Unrecht, und sie dürfen kein Mittel der Politik sein." Die Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" im Bonner Haus der Geschichte belege, "dass es möglich ist, an das individuelle Leid der Opfer von Vertreibung zu erinnern und zugleich den historischen Zusammenhang im Blick zu behalten". Köhler begrüßte es, dass sich der Bund der Vertriebenen von der Preußischen Treuhand distanziert habe. "Es geht eben nicht um materielle Entschädigung, sondern es geht um die Erinnerung an menschliches Leid und um unsere Entschlossenheit, solches Leid nicht mehr zuzulassen."

Bundespräsident Horst Köhler forderte die Vertriebenen auf, bestehende Ängste in Polen und Tschechien ernst zu nehmen. "Wir müssen geduldig vermitteln, dass es in Deutschland keine ernst zu nehmende politische Kraft gibt, die die Geschichte umschreiben will", sagte Köhler. Mit Blick auf die unter der neuen national-konservativen Führung immer häufiger auftretenden Spannungen mit Polen sprach sich Köhler für einen verstärkten Dialog mit dem östlichen Nachbarn aus.

Die Erinnerung an die Vertreibung Millionen Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt nach Auffassung von Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, die Aufgabe des Staates und des ganzen deutschen Volkes. "Dieses Sonderopfer ist Teil gesamtdeutscher Geschichte", sagte Steinbach beim Tag der Heimat, der in diesem Jahr unter dem Motto "Menschenrechte achten - Vertreibungen ächten" steht. "Wir nehmen Anteil am Schicksal aller Menschen, anderer Völker, die vertrieben wurden und die in diesen Tagen vertrieben werden. Wir fühlen mit ihnen. Die Toten haben ihren Frieden gefunden. Sie mahnen uns tausend -, ja millionenfach, für Frieden und Toleranz zu arbeiten. Das ist unser Auftrag."

Steinbach verteidigte die zurzeit im Berliner Kronprinzenpalais laufende Ausstellung "Erzwungene Wege" gegen Kritik. Die Ausstellung widme sich der Aufgabe, "den Blick auf die vielfältigen Vertreibungen in Europa und seinen Grenzgebieten im 20. Jahrhundert zu öffnen", sagte die CDU-Bundestagsabgeordnete.

Der verstorbene SPD-Politiker Peter Glotz wurde posthum mit einer Ehrenplakette, der höchsten Auszeichnung des Bundes der Vertriebenen, geehrt. Der frühere Bundesinnenminister Otto Schily nannte ihn in seiner Laudatio einen "großen visionären Europäer und überzeugten Demokraten". Glotz habe unbeirrt von Anfeindungen Vertreibungen als bitteres Unrecht angeklagt und das "Zentrum gegen Vertreibungen" gegenüber den Kritikern verteidigt. Der im vergangenen Jahr im Alter von 66 Jahren verstorbene Glotz war zusammen mit Erika Steinbach Vorsitzender der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen. Er selbst habe sich als "böhmischen Patrioten" bezeichnet, der gleichzeitig ein begeisterter Europäer und ein "Warner vor dem Gift des Nationalismus" gewesen sei.

S. B.

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 14 vom 15. September 2006, Seite 1 und 4)

Schlagwörter: Politik, Flucht und Vertreibung

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